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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DER SPINNE UND DEM WINDE

Eine Spinne hatte sich einst an ein hohes Tor gehängt, das abseits stand, und sie spann ihr Gewebe und wohnte dort in Frieden. Sie pflegte Allah dem Allmächtigen zu danken, der ihr diese Stätte bereitet und sie vor der Gefahr durch feindliche Kriechtiere gesichert hatte. So lebte sie eine lange Weile dahin, indem sie immerdar Gott dankte für ihr ruhiges Leben und die ständige Gabe ihres täglichen Brotes. Doch da prüfte



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ihr Schöpfer sie und trieb sie fort, um ihre Dankbarkeit und Geduld zu erkennen. Er schickte ihr nämlich einen heftigen Ostwind', und der trug sie mit ihrem Gewebe fort und warf sie ins Meer; dann aber brachten die Wogen sie wieder ans Land. Da pries sie Allah den Erhabenen ob ihrer Rettung; doch sie schalt den Wind, indem sie sprach: ,O Wind, warum hast du mir dies angetan? Welcher Vorteil ist dir daraus erwachsen, daß du mich von meiner Stätte hierher geweht hast? Ich lebte doch sicher und ruhig in meinem Hause dort oben an dem Tore!' Der Wind aber antwortete ihr: ,Hör auf zu schelten, ich werde dich zurücktragen und wieder an deine Stätte bringen, wo du früher warst!" Da wartete die Spinne geduldig in der Hoffnung, sie würde an ihre Stätte heimkehren, bis der Nordwind, der sie nicht zurückbringen konnte, zu wehen abließ und der Südwind sich erhob: der wehte an ihr vorüber, hob sie auf und flog mit ihr in der Richtung ihrer Wohnstätte davon. Und als sie dort vorüberkam, erkannte sie die Stätte und hängte sich wieder daran.' *

,So beten auch wir zu Gott, der den König für sein standhaftes Ausharren in seiner Einsamkeit belohnt und ihm diesen Knaben geschenkt hat, nachdem er in seinem hohen Alter die Hoffnung schon aufgegeben hatte, zu Ihm, der ihn nicht eher aus dieser Welt fortnehmen wollte, als bis er ihm seinen Augentrost gewährte und ihm Königtum und Herrschaft verlieh



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und sich seiner Untertanen erbarmte und ihnen seine Huld zuteil werden ließ.'

Da sprach der König: ,Preis sei Allah über allem Preise, und Lob sei Ihm über allem Lob! Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Schöpfer aller Dinge, dessen herrliche Allmacht wir an dem Lichte Seiner Zeichen erkennen und der Königtum und Herrschaft in Seinem Lande dem unter Seinen Knechten verleiht, wem Er will! Er wählt unter ihnen aus, wen Er will, auf daß Er ihn zu Seinem Statthalter mache und zu Seinem Sachwalter über Seine Geschöpfe, und befiehlt ihm, Recht und Gerechtigkeit unter ihnen zu pflegen, die göttlichen Satzungen und die Überlieferungen aufrecht zu erhalten, das Rechte zu tun und ihre Angelegenheiten getreulich zu verwalten, so wie es Ihm und ihnen lieb ist. Wer unter ihnen tut, was Gott befohlen hat, der erreicht sein Ziel und gehorcht dem Befehl seines Herrn; und Er schützt ihn vor den Schrecken dieser Welt und gibt ihm schönen Lohn im Jenseits; denn Er läßt den Lohn der Rechtschaffenen nicht verloren gehen.' Wer unter ihnen aber anders handelt, als Allah befohlen hat, begeht eine schwere Sünde und widersetzt sich seinem Herrn, indem er sein Diesseits über sein Jenseits stellt; der wird in dieser Welt nicht ob edler Eigenschaften gepriesen und hat an jener Welt keinen Anteil. Wohl gewährt Allah einen Aufschub den Missetätern und Ungerechten, aber Er vergißt keinen von Seinen Knechten. Diese unsere Wesire haben dargelegt, wie Allah uns wegen unserer Gerechtigkeit gegen sie und unseres guten Waltens über sie uns und sie mit seiner Huld begnadet hat, dieweil wir Ihm den gebührenden Dank für Seine überreiche Güte darbringen. Ein jeder von ihnen hat ausgesprochen, was Gott ihm darüber eingegeben hat, und sie haben Allah dem



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Erhabenen Lob und Preis überschwenglich dargebracht um Seiner Huld und Gnade willen. Und auch ich preise Gott; denn ich bin nur ein Knecht unter Befehl; mein Herz ist in Seiner Hand, und meine Zunge ist Ihm untertan, ich bin zufrieden mit dem, was Er mir und ihnen bestimmt, mag kommen, was da will. Jeder von ihnen sagte, was ihm in den Sinn kam betreffs dieses Knaben; sie haben verkündet, welch neue Gnade uns zuteil wurde, als ich in meinem Alter bereits die Grenze erreicht hatte, da die Verzweiflung die Oberhand gewinnt und die Zuversicht schwach wird. Preis sei Allah, der uns vor der Enttäuschung bewahrt hat und vor einer Reihenfolge von Herrschern, die da gewesen wäre wie die Folge der Nacht auf den Tag! Das war gewißlich eine große Gnade für sie und für uns; so preisen wir denn Allah den Erhabenen, der uns diesen Knaben schenkte, indem Er schnelle Erhörung brachte, und ihn an hoher Stelle zum Erben der Kalifenwürde machte. Und nun erflehen wir von Seiner Güte und Milde, daß Er ihn glücklich mache in all seiner Tätigkeit und zu frommen Werken bereit, damit er ein König und Sultan werde, der über seine Untertanen in Recht und Gerechtigkeit gebietet und sie vor dem Elend der Gewalttätigkeit behütet in seiner Huld und Güte und Hochherzigkeit.' Als der König seine Rede beendet hatte, erhoben sich die Weisen und Gelehrten und warfen sich dann vor Allah nieder und dankten dem König und küßten ihm die Hände; darauf begab sich ein jeder von ihnen nach seinem Hause. Nun zog sich der König in seinen Palast zurück; dort schaute er das Kind an, segnete es und gab ihm den Namen Wird Chân. Als der Knabe sein zwölftes Jahr erreicht hatte, beschloß der König, ihn in den Wissenschaften unterrichten zu lassen; so ließ er ihm inmitten der Stadt einen Palast erbauen, und darin ließ er dreihundertundsechzig Zimmer



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herrichten. Dann brachte er den Knaben dorthin und bestimmte für ihn drei von den Weisen und Gelehrten, denen er befohlen hatte, sie sollten Tag und Nacht auf seine Unterweisung bedacht sein; in jedem Zimmer sollten sie einen Tag mit ihm sitzen und mit Eifer darüber wachen, daß keine Wissenschaft übrig bliebe, in der sie ihn nicht unterrichteten, auf daß er in allen Wissenschaften erfahren werde; auch sollten sie an die Tür eines jeden Zimmers schreiben, welchen von den Zweigen der Gelehrsamkeit sie ihn darin lehrten, und alle sieben Tage sollten sie ihm selber berichten, was der Prinz an Wissen erworben hatte. Darauf begaben sich die Gelehrten zu dem Knaben und waren Tag und Nacht auf seine Unterweisung bedacht, indem sie ihm nichts vorenthielten von allem, was sie wußten. Alsbald zeigten sich in dem Knaben ein so scharfer Verstand und eine so treffliche Begabung, das Wissen aufzunehmen, wie sie sich noch nie in jemand gezeigt hatten. Seine Lehrer aber erstatteten in jeder Woche dem König Bericht über das, was sein Sohn gelernt und begriffen hatte, und so gewann auch der König dadurch treffliches Wissen und reiche Bildung. Und die Gelehrten sagten: ,Wir haben noch nie jemand gesehen, der so reich mit Verstand begabt wäre wie dieser Knabe. Allah segne dich in ihm und gebe dir Freude an seinem Leben!' Als nun der Knabe sein zwölftes Lebensjahr vollendet hatte, wußte er schon das Beste von allen Wissenschaften und übertraf alle Gelehrten und Weisen, die zu seiner Zeit lebten. Da brachten die Gelehrten ihn zum König, seinem Vater, und sprachen zu ihm: ,Allah tröste deine Augen, o König, durch diesen glücklichen Jüngling! Wir bringen ihn dir, nachdem er jede Wissenschaft gelernt hat; ja, keiner der Gelehrten und Weisen unserer Zeit vereinigt so viel Wissen in sich wie er.' Darüber freute sich der König gar sehr, und er



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pries Allah den Erhabenen noch lauter, indem er sich niederwarf vor Ihm, dem Allgewaltigen und Glorreichen; und er sprach: ,Lob sei Allah für Seine zahllosen Gnaden!' Dann rief er den Wesir Schimâs und sprach zu ihm: ,Wisse, Schimâs, die Gelehrten sind zu mir gekommen und haben mir berichtet, daß dieser mein Sohn jede Wissenschaft erlernt hat und daß es keine von allen Wissenschaften mehr gibt, in der sie ihn nicht unterrichtet hätten, so daß er darin alle Früheren übertrifft. Was sagst du, o Schimâs?' Da warf der Wesir sich nieder vor Allah, dem Allgewaltigen und Glorreichen, und küßte dem König die Hand. Dann sagte er: ,Auch wenn der Rubin im härtesten Felsen ruht, so kann er nichts anderes tun als Licht ausstrahlen gleich einer Leuchte. Dieser dein Sohn ist ein Edelstein; seine Jugend hindert ihn nicht daran, ein Weiser zu sein, —Preis sei Allah für das, was Er ihm verliehen hat! Morgen werde ich, so Allah der Erhabene will, ihn fragen und prüfen über das, was er weiß, in einer Versammlung der vornehmsten Gelehrten und Emire. die ich für ihn berufen möchte.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 909. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß König Dschali'âd, als er die Worte seines Wesirs Schimâs vernommen hatte, Befehl gab, es sollten die scharfsinnigsten Gelehrten und die klügsten Männer der Wissenschaft und die erfahrensten Meister sich am nächsten Tage im Königsschlosse einfinden; und da kamen sie alle. Nachdem sie sich beim Tor des Königs versammelt hatten, befahl er, sie einzulassen. Darauf trat der Wesir Schimâs vor und küßte dem Prinzen die Hände; doch der warf sich vor Schimâs nieder. Da sprach der Wesir: ,Es geziemt nicht dem jungen Löwen, daß er sich vor einem der



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Tiere des Feldes niederwerfe; noch auch gebührt es sich, daß Licht und Finsternis miteinander wetteifern.' Der Prinz erwiderte: ,Wenn der junge Löwe den Wesir des Königs erblickt, so wirft er sich vor ihm nieder.' Darauf hub Schimâs an: ,Sage mir, was ist das Ewige, das Absolute? Welches sind seine beiden Erscheinungsformen? Und welche von diesen beiden ist die dauernde?' Darauf gab der Knabe zur Antwort: ,Das Ewige, das Absolute ist Allah, der Allgewaltige und Glorreiche; denn Er ist der erste ohne Anfang und der letzte ohne Ende. Was seine beiden Erscheinungsformen betrifft, so sind das diese Welt und das Jenseits, und die dauernde dieser beiden Wesenheiten ist die künftige Seligkeit.' ,Du hast recht mit deiner Antwort, und ich nehme sie von dir an; aber ich möchte noch. daß du mir kundtuest, woher du weißt, daß die eine der beiden Erscheinungsformen diese Welt, die andere das Jenseits ist.' ,Daher, daß diese Welt erschaffen wurde aus dem Nichtsein; deshalb ist ihr Ursprung auf die erste Erscheinungsform zurückzuführen, aber sie ist ein Etwas, das schnell vergeht und das Vergeltung für die Handlungen verlangt, und daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Neuschöpfung des Vergänglichen, und zwar im Jenseits, der zweiten Erscheinungsform.' ,Du hast recht mit deiner Antwort, und ich nehme sie von dir an: aber ferner möchte ich, daß du mir kundtuest. woher du weißt, daß die künftige Seligkeit die dauernde der beiden Daseinsformen ist.' ,Ich weiß es daher, daß sie die Stätte der Vergeltung ist für die Taten dieser Welt, von dem Ewigen, Unvergänglichen dazu bestellt.' ,Sag mir weiter, welche Leute auf Erden sind am meisten zu preisen wegen ihres Tuns?' ,Die, so ihr Jenseits ihrem Diesseits vorziehen.' ,Und wer ist es, der sein Jenseits seinem Diesseits vorzieht?' ,Der, so da weiß, daß er an einer endlichen Stätte wohnt und nur geschaffen wurde,



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um dahinzugehen, und daß er zur Rechenschaft gezogen wird, wenn er dahingegangen ist, und daß, auch wenn jemand ewig in dieser Welt leben könnte, er sie doch nicht dem Jenseits vorziehen würde.' ,Nun tu mir kund, kann das Jenseits ohne das Diesseits bestehen?' ,Wer kein Diesseits hat, kann auch kein Jenseits haben. Ich vergleiche nun diese Welt und ihre Bewohner und die Stätte, zu der sie wandern, mit den Bewohnern jener Dörfer, für die ihr Emir ein enges Haus gebaut hat, in das er sie hineinführt; er hat ihnen befohlen, eine bestimmte Arbeit zu leisten, hat jedem von ihnen eine Frist bestimmt und einen Aufseher darüber gesetzt. Wer von ihnen die ihm befohlene Aufgabe vollbracht hat, den führt der Aufseher aus jener Enge heraus. Wer aber nicht tut, wie ihm befohlen ward, und die ihm gesetzte Frist verstreichen läßt, der wird bestraft. Während sie aber in dem Hause weilen, sickert plötzlich vor ihren Augen aus den Ritzen des Hauses etwas Honig; und wenn sie von diesem Honig gegessen und seinen süßen Geschmack gekostet haben, werden sie lässig in der Arbeit, die ihnen aufgetragen ward, und werfen sie hinter ihren Rücken. Und dann ertragen sie geduldig die Enge und Not, in der sie leben, obwohl sie jene Strafe kennen, der sie entgegengehen, und begnügen sich mit jener dürftigen Süße. Der Aufseher aber holt einen jeden, sobald dessen Zeit gekommen ist, aus jenem Hause heraus. Wir wissen also, daß diese Welt eine Stätte ist, in der die Blicke verwirrt werden, und daß für ihre Bewohner die Fristen festgesetzt sind; und wer die geringe Süße, die in der Welt ist, findet und sich durch sie verlocken läßt, der gehört zu den Verlorenen, dieweil er die Dinge seines Diesseits seinem Jenseits vorzieht; wer aber das Glück seines Jenseits seinem Diesseits vorzieht und sich nicht um jene armselige Süßigkeit kümmert, der gehört zu



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denen, die gerettet werden.' ,Ich habe vernommen, was du von den Dingen dieser und jener Welt gesagt hast, und ich nehme es von dir an. Nun meine ich aber, daß die beiden als Herren über den Menschen Macht haben, und daß er nicht umhin kann, beide zusammen zufrieden zu stellen, obgleich sie einander widersprechen. Wenn jedoch der Mensch sich daranmacht, seinen Lebensunterhalt zu suchen, so ist das ein Schaden für seine Seele in jener Welt; und wenn er sich dem Jenseits zuwendet, so ist das ein Schaden für seinen Leib. Also hat er keine Möglichkeit, die beiden Gegensätze zugleich zu befriedigen.' ,Siehe, wer seinen Lebensunterhalt in dieser Welt gewinnt, hat an ihm eine Stärkung für das Jenseits. Ich vergleiche die Dinge dieser und jener Welt mit zwei Königen, einem gerechten und einem ungerechten.


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