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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEN RABEN UND DEM FALKEN

In einer der Steppen befand sich einst ein weites Tal, in dem Bäche flossen und Bäume sprossen, mit Früchten behangen, wo die Vöglein sangen zum Lobe Allahs, des Einzigen, des Herrn der Macht, des Schöpfers von Tag und Nacht. Unter den Vögeln dort gab es auch eine Schar von Raben, die das schönste Leben führten. Ihr Oberster aber, der über sie herrschte, war ein Rabe, der Milde und Güte bei ihnen walten ließ, so daß sie unter ihm in Sicherheit und Frieden lebten: und da sie alles, was sie anging, so gut verwalteten, vermochte keiner von den anderen Vögeln etwas wider sie. Doch dann begab es sich, daß ihr Häuptling aus dem Leben schied, da ihn das Geschick ereilte, das für alle Kreatur bestimmt ist; und sie betrauerten ihn schmerzlich. Was ihren Gram aber noch vermehrte, war



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dies, daß sich unter ihnen keiner fand, der ihm glich und an seine Stelle hätte treten können. Deshalb versammelten sie sich alle und berieten miteinander, was sie tun sollten, damit einer über sie herrsche, der rechtschaffen sei. Nun wählte ein Teil von ihnen einen Raben und sagte: ,Diesem gebührt es, König über uns zu sein.' Andere jedoch widersprachen dem und wollten ihn nicht; so entstand unter ihnen Zwiespalt und Streit, und es erhob sich ein gewaltiger Kampf. Schließlich aber einigten sie sich, indem sie verabredeten, jene Nacht über zu schlafen, und dann sollte am nächsten Tage keiner in der Frühe seiner Nahrung nachgehen, sondern alle sollten bis zum hellen Morgen warten; wenn es heller Tag geworden sei, sollten sie sich an einem Orte versammeln und dann schauen, welcher Vogel höher fliegen könne als die anderen. Denn sie sprachen: ,Der ist es. der uns von Allah bestimmt ist, auf daß er bei uns zum Herrscher gewählt werde; wir wollen ihn zum König über uns machen und ihm unsere Sache anvertrauen.' Damit waren alle zufrieden, und sie schlossen einen Bund miteinander und wurden sich über diesen Bund einig. Während sie das taten, stieg plötzlich ein Falke auf; und sie riefen ihm zu: ,O du Vater des Guten, wir wählen dich zum Herrscher über uns, auf daß du unsere Angelegenheiten verwaltest!' Der Falke war mit dem, was sie sagten, einverstanden, und er sprach zu ihnen: ,So Allah der Erhabene will, wird euch durch mich groß Heil widerfahren.' Nachdem sie ihn jedoch zum Herrscher über sich gemacht hatten, begann er jeden Tag, wenn er mit den Raben ausflog, einen von ihnen beiseite zu nehmen; den stieß er nieder und fraß sein Gehirn und seine Augen, während er das übrige liegen ließ. Das tat er immerfort, bis die Raben darauf achteten und dessen gewahr wurden, daß der größte Teil von ihnen vernichtet war. Als sie aber den Tod vor Augen



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sahen, sprach einer zum anderen: ,Was sollen wir tun? Nun sind die meisten von uns dahin; und wir haben erst jetzt, da unsere Großen vernichtet sind, dessen geachtet. Wir müssen für unsere eigene Sicherheit sorgen.' Und am nächsten Morgen flogen sie fort von ihm und verließen ihn, indem sie sich nach allen Richtungen zerstreuten.' *

,So fürchteten auch wir, daß es uns ähnlich ergehen könnte, wenn ein König von anderer Art als du über uns herrschen würde; aber jetzt hat Allah uns diese Huld gewährt und dein Antlitz uns zugewandt, und jetzt sind wir des Gedeihens und der Einigkeit und des Friedens und der Sicherheit und des Heiles in der Heimat gewiß. Gepriesen sei Allah der Allmächtige, ihm sei Lob und Dank und der schönste Preis! Gott segne den König und uns, die Schar der Untertanen, Er beschere ihm und uns das höchste Glück und gebe, daß seine Zeit voll Segen und sein Wirken voll Erfolg sei!'

Danach erhob sich der sechste Wesir und sprach: ,Allah gewähre dir, o König, die höchste Seligkeit in dieser Welt und in der nächsten. Von den Alten ist uns ein Wort überliefert. das da lautet: ,Wer betet und fastet und den Eltern das Ihre gibt und in seinem Walten gerecht ist, der wird seinen Herrn schauen, und Er wird Wohlgefallen an ihm haben.' Du wurdest über uns gesetzt und warst gerecht, und dadurch war all dein Tun gesegnet; deshalb flehen wir zu Allah dem Erhabenen, daß er dir reichen Lohn gebe und dir deine Güte vergelte. Ich habe nun vernommen, was dieser weise Mann darüber gesagt hat, daß wir befürchteten, unser Glück zu verlieren durch das Ableben des Königs oder durch das Auftreten eines anderen Königs, der ihm nicht gleich wäre; und daß nach seinem Tode



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heftiger Streit unter uns entstehen und daraus dann Unheil erwachsen könnte; und daß es uns in Anbetracht dessen geziemte, Allah den Erhabenen in aller Demut zu bitten, er möge dem König einen glücklichen Sohn gewähren und ihn nach ihm zum Erben der Herrschaft machen. Aber schließlich ist dem Menschen der Ausgang dessen, was er auf Erden wünscht und begehrt, unbekannt, und somit geziemt es ihm nicht, seinen Herrn um etwas zu bitten, dessen Ausgang er nicht kennt; denn vielleicht ist der Schaden, der daraus entsteht, ihm näher als sein Nutzen, und in dem, was er verlangt, kann sein Verderben liegen, und ihm mag widerfahren, was dem Schlangenbeschwörer, seiner Frau, seinen Kindern und den Leuten seines Hauses widerfuhr.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 907. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der sechste Wesir zum König sprach: ,Es geziemt dem Menschen nicht, seinen Herrn um etwas zu bitten, dessen Ausgang er nicht kennt; denn vielleicht ist der Schaden, der daraus entsteht, ihm näher als sein Nutzen, und in dem, was er verlangt, kann sein Verderben liegen, und ihm mag widerfahren, was dem Schlangenbeschwörer, seinen Kindern, seiner Frau und den Leuten seines Hauses widerfuhr.' Da fragte der König: ,Was ist das für eine Geschichte mit dem Schlangenbeschwörer, seinen Kindern, seiner Frau und den Leuten seines Hauses?' Und der Wesir hub an: ,Vernimm, o König,


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