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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM UNGERECHTEN KÖNIG UND DEM PILGERPRINZEN

Vernimm, o König, einst lebte im Westlande ein König, der ungerecht herrschte, ein grausamer, tyrannischer, gewalttätiger Mann, der sich nicht darum kümmerte, seine Untertanen zu schützen, noch alle Fremden, die sein Land betraten: ja, niemand konnte sein Land betreten, ohne daß seine Zöllner ihm vier Fünftel seines Geldes abnahmen, so daß ihm nur noch ein einziges Fünftel blieb. Nun hatte aber Allah der Erhabene es gefügt, daß dieser König einen glückseligen und Gott wohlgefälligen Sohn hatte; und als der sah, daß die Dinge dieser Welt vergänglich sind, verließ er sie. Von Jugend auf zog er als Pilger hinaus, um Allah dem Erhabenen zu dienen; er schüttelte die Welt ab und alles, was in ihr ist, und ging von dannen im Gehorsam gegen Allah den Erhabenen, indem er die Steppen und die Wüsten durchwanderte und auch die Städte betrat. Eines Tages aber kam er in jene Stadt, und als er vor den Wächtern stand, ergriffen sie ihn und durchsuchten ihn; aber sie fanden an ihm nur zwei Gewänder, ein neues und ein altes. Da zogen sie ihm das neue aus und ließen ihm allein das alte, nachdem sie ihn schmählich und schändlich behandelt hatten. Er aber hub an zu klagen und rief: ,Weh euch, ihr Bedrücker! Ich bin ein armer Pilgersmann; was könnte dies Gewand



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euch wohl nützen? Wenn ihr es mir nicht wiedergebt, so gehe ich zum König und verklage euch bei ihm.' Doch sie antworteten ihm und sprachen: ,Wir haben dies auf Befehl des Königs getan; was dir gut dünkt zu tun, das magst du tun.' Der Pilger ging weiter, bis er zum Palaste des Königs kam, und wollte dort eintreten; aber die Kämmerlinge ließen ihn nicht ein, und er mußte umkehren. Nun sprach er bei sich: ,Mir bleibt nichts anderes übrig, als daß ich auf ihn warte, bis er herauskommt, und ihm dann meine Not und mein Unglück klage.' Während er also auf das Herauskommen des Königs wartete, hörte er plötzlich, wie einer der Wachen das Nahen des Königs ankündigte. Da schlich er sich langsam heran, bis er vor dem Tore stand; und ehe er sich dessen versah, kam der König heraus. So trat ihm denn der Pilger in den Weg, wünschte ihm Heil und Sieg, berichtete ihm, was ihm von den Wächtern widerfahren war, und klagte ihm sein Leid. Auch tat er ihm kund, er sei ein Mann vom Volke Allahs und habe diese Welt von sich abgeschüttelt und sei ausgezogen, um nur das Wohlgefallen Allahs des Erhabenen zu suchen; er wandere hier auf Erden umher, und jeder Mensch, dem er begegne, tue ihm Gutes nach seinem Vermögen; in jede Stadt und in jedes Dorf ziehe er in solcher Weise ein. Und er schloß mit den Worten: ,Als ich nun in diese Stadt kam, hoffte ich, ihre Einwohner würden an mir handeln, wie man sonst an Pilgersleuten zu handeln pflegt. Doch deine Mannen traten mir entgegen, zogen mir eines meiner Gewänder aus und versetzten mir harte Schläge. Drum nimm du dich meiner an, reich mir deine Hand und schaffe mir mein Gewand wieder: dann will ich keine einzige Stunde mehr in dieser Stadt verweilen!' Aber der ungerechte König antwortete ihm und sprach: ,Wer hat dich angewiesen, diese Stadt zu betreten, wo du doch nicht



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weißt, was ihr König zu tun pflegte' ,Wenn ich mein Gewand erhalten habe,' erwiderte der Pilger, ,dann tu mit mir, was du willst!' Als der grausame König diese Worte aus dem Munde des frommen Wanderers vernahm, verfinsterte sich sein Gemüt. und er rief: ,O du Tor, wir haben dir dein Gewand nehmen lassen, auf daß du gedemütigt werdest; jetzt aber, da du ein solches Geschrei vor mir erhebst, werde ich dir das Leben nehmen lassen.' Dann befahl er, ihn in den Kerker zu werfen; und als der Pilger im Gefängnis lag, begann er zu bereuen, was er zur Antwort gegeben hatte, und er machte sich Vorwürfe, daß er sein Gewand nicht im Stich gelassen hatte, um sein Leben zu retten. Und als es Mitternacht geworden war, stand er auf und sprach ein langes Gebet, und erflehte: ,O Gott, du bist der gerechte Richter, du kennst meine Not, du weißt, wie es um meine Sache bei diesem grausamen König steht; und ich, dein bedrückter Knecht, bitte dich, du wollest in deiner übergroßen Barmherzigkeit mich aus der Hand dieses ungerechten Königs befreien und deine Strafe über ihn kommen lassen; denn keines Tyrannen Grausamkeit bleibt dir verborgen. Wenn du daher weißt, daß er mir unrecht getan hat, so sende deine Rache noch in dieser Nacht auf ihn herab und laß deine Strafe über ihn kommen. Denn dein Walten ist gerecht, und du bist der Helfer eines jeden Betrübten, o du, dem Macht und Herrlichkeit gehören bis an das Ende der Zeiten!' Als der Kerkermeister das Gebet jenes Armen hörte, begannen ihm alle seine Glieder zu zittern; und während er in solcher Angst schwebte, flammte plötzlich ein Feuer auf in dem Palaste, indem der König war, und verbrannte alles, was sich darin befand, bis zum Tor des Gefängnisses; und niemand entrann dem Verderben außer dem Kerkermeister und dem Pilger. So wurde der fromme Wanderer befreit und zog mit dem Kerkermeister



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fort; die beiden gingen ihres Weges, bis sie in eine andere Stadt kamen, während die Stadt des ungerechten Königs wegen der Grausamkeit ihres Herrschers ganz und gar niederbrannte.' *

,Wir aber, o glücklicher König, wir beten jeden Abend und jeden Morgen für dich, und wir danken Allah dem Erhabenen für Seine Güte, in der Er dich uns schenkte, so daß wir durch deine Gerechtigkeit und deinen frommen Wandel in Sicherheit leben können. Wir grämten uns sehr, weil dir kein Sohn beschieden war, der dein Reich erben sollte; denn wir befürchteten, es würde nach dir ein König von anderer Art als du über uns herrschen. Aber jetzt hat Gott uns seine Güte gewährt, er hat den Kummer von uns genommen und uns die Freude gebracht durch die Geburt dieses gesegneten Knaben; und so flehen wir zu Allah dem Erhabenen, daß Er ihn zu einem rechtschaffenen Herrscher mache und ihm Ruhm und dauerndes Glück und bleibendes Wohlergehen verleihe.'

Dann erhob sich der fünfte Wesir und sprach: ,Gepriesen sei Allah der Allmächtige' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 906. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der fünfte Wesir sprach: ,Gepriesen sei Allah der Allmächtige, der Spender aller guten Gaben und kostbaren Geschenke! Des ferneren aber sind wir gewiß, daß Allah dem gnädig ist, der Ihn lobt und Seinen Glauben treulich wahrt. Und du, o glücklicher König, bist weitberühmt ob dieser erlauchten Tugenden und ob der Gerechtigkeit, und weil du deinen Untertanen ihr Recht gewährst, wie es Allah dem Erhabenen wohlgefällig ist. Deshalb hat Gott



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deine Macht erhöht und deine Tage beglückt und hat dir dies herrliche Geschenk verliehen, diesen glückseligen Knaben, nachdem du schon die Hoffnung aufgegeben hattest. Dadurch ist uns dauernde Freude zuteil geworden und Fröhlichkeit. die immer währet; denn früher waren wir in schweren Sorgen und wachsendem Gram, weil du keinen Sohn hattest, und wir gedachten voll Trauer deiner Gerechtigkeit und deiner Milde, die du an uns übtest; wir fürchteten ja, Allah könne dir den Tod senden, olme daß du jemanden hättest, der dir folgen und nach dir dein Reich erben könnte, so daß wir uns in unserem Rat gespalten hätten und uneins geworden wären und es uns ergangen wäre, wie es den Raben erging.' Da fragte der König: ,Was ist das für eine Geschichte mit den Raben?' Und der Wesir antwortete ihm und sprach: ,Vernimm, o glücklicher König,


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