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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM WILDESEL UND DEM SCHAKAL

Ein Schakal pflegte jeden Tag von seinem Lager auszuziehen, um seine tägliche Nahrung zu suchen. Während er sich nun eines Tages in einem Gebirge befand, ging der Tag zur Rüste; und da machte er sich auf den Heimweg und vereinigte sich mit einem anderen Schakal, den er dahin traben sah. Nun begann ein jeder von beiden dem andern zu erzählen, was für Beute er gemacht hatte. Der eine von beiden sprach: ,Ich traf neulich, als ich ganz ausgehungert war, auf einen Wildesel; drei Tage lang hatte ich nichts zu fressen gehabt, und so freute ich mich über die Beute und dankte Allah dem Erhabenen, der mich sie hatte finden lassen. Dann machte ich mich über sein Herz und fraß es; und als ich gesättigt war, kehrte ich zu meinem Lager zurück. Jetzt sind schon wieder drei Tage vergangen, ohne daß ich etwas zu fressen gefunden habe; aber trotzdem bin ich immer noch satt.' Als der andere Schakal die Geschichte hörte, beneidete er seinen Gefährten um seine Sättigung und sprach bei sich: ,Ich muß auch unbedingt ein Wildeselherz fressen.' Darauf enthielt er sich mehrere Tage des Fressens, bis er ganz ausgezehrt und dem Tode nahe war; ohne sich zu rühren und um einen Fang zu bemühen, lag er in seiner Höhle. Während er nun so dort lag, kamen eines Tages zwei Jäger des Wegs, die dem Wilde nachspürten und gerade einen



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Wildesel verfolgten; den ganzen Tag über brachten sie damit zu, daß sie seiner Spur nachjagten. Dann schoß der eine von den beiden auf ihn mit einem gegabelten Pfeil; und der traf ihn, drang ihm in die Eingeweide und blieb in seinem Herzen stecken. Gerade vor der Höhle jenes Schakals wurde der Esel getötet; und nun kamen die beiden Jäger herzu, fanden ihn tot daliegen und zogen den Pfeil, der ihn getroffen hatte, aus dem Herzen, doch nur der Pfeilschaft kam heraus, während die gegabelte Spitze im Bauche des Esels stecken blieb. Als es Abend ward, kam der Schakal aus seinem Loch heraus, stöhnend vor Schwäche und Hunger, und sah jenen Wildesel tot vor seiner Tür liegen; da freute er sich über die Maßen, und es war ihm, als müßte er vor Freude fliegen. Er rief: ,Preis sei Allah, der mich ohne Mühe mein Ziel hat erreichen lassen! Ich wagte schon nicht mehr zu hoffen, einen Wildesel oder irgendeine andere Beute zu finden; doch jetzt hat Allah wohl diesen hier zu Fall gebracht, nachdem er ihn mir zu meinem Lager geschickt hatte.' Dann sprang er auf ihn, zerriß ihm den Bauch, steckte seinen Kopf hinein und wühlte mit seiner Schnauze in den Eingeweiden herum, bis er das Herz fand; da schnappte er gierig mit dem Maule und verschlang es. Kaum aber war es in seiner Kehle, so blieb die gegabelte Spitze in seinem Schlundknochen stecken, und nun konnte er es weder in den Leib hinunterschlucken noch auch zum Maule herauswürgen. Er sah den Tod vor Augen und sprach: ,Fürwahr, es geziemt dem Geschöpfe nicht, daß er für sich mehr begehre, als was Allah ihm zuerteilt hat. Wäre ich mit dem zufrieden gewesen, was Allah mir zuwies, so wäre ich nicht in mein Verderben gerannt.'



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,Deshalb, o König, gebührt es sich für den Menschen, daß er sich mit dem begnüge, was Allah ihm zuerteilt hat, und Ihm danke für Seine Güte und daß er nie die Hoffnung auf seinen Herrn fahren lasse. Sieh, o König, um deiner lauteren Absicht und deiner guten Werke willen hat Allah dir einen Sohn geschenkt, nachdem du schon die Hoffnung verloren hattest. Und nun beten wir zu Allah dem Erhabenen, daß Er ihm ein langes Leben und immerwährendes Glück schenke und ihn zu einem gesegneten Nachfolger mache, der nach dir treu deinen Bund bewahrt, wenn du dein langes Leben beschlossen hast.'

Dann erhob sich der vierte Wesir und sprach: ,Wenn der König verständig ist und die Tore der Weisheit kennt' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 905. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der vierte Wesir sich erhob und sprach: ,Wenn der König verständig ist und die Tore der Weisheit, des Urteilens und der Staatskunst kennt, und wenn er ferner eine lautere Absicht hat und Gerechtigkeit gegen die Untertanen übt, indem er die ehrt, denen Ehre gebührt, und die auszeichnet, die der Auszeichnung wert sind, wenn er Milde mit Macht vereint, wo es notwendig ist, wenn er Herrscher und Beherrschte schützt und ihre Bürden erleichtert und ihnen Spenden verleiht, ihr Blut schont, ihre Blöße bedeckt und sein Versprechen hält -ein solcher König ist des Glückes in dieser und in jener Welt würdig; und all dies gehört zudem, was ihn schützt und ihm hilft, seine Herrschaft zu festigen, und ihm über seine Feinde Sieg verleiht, was ihm seine Hoffnungen erfüllt und ihm zugleich die Güte Gottes mehrt, ihm für seine dankbare Gesinnung Förderung und Schutz durch Gott einträgt. Doch wenn der König das Gegenteil davon ist, so



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wird er immerdar von Unglück und Mißgeschick betroffen, er selbst und das Volk seines Reiches; denn dann lastet seine Härte auf Fremden und auf den eigenen Volksgenossen, und es ergeht ihm, wie es dem ungerechten König mit dem Pilgerprinzen erging.' ,Und wie war das?' fragte der König. Da erzählte der Wesir dem König


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