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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DES BARBIERS ERZÄHLUNG VON SEINEM ZWEITEN BRUDER

Wisse, o Beherrscher der Gläubigen, mein zweiter Bruder heißt der Plapperer, und er ist der Gelähmte. Es geschah eines Tages, als er ausging zu einer Besorgung, daß ein altes Weib ihm begegnete und zu ihm sprach: ,Mann, bleib ein wenig stehen, damit ich dir einen Vorschlag machen kann! Wenn er dir zusagt, so führe ihn mir aus und bitte Allah um gutes Gelingen!' Da blieb mein Bruder stehen, und sie fuhr fort: ,Ich will dir von etwas erzählen und dich dorthin führen, doch du darfst nicht viele Worte machen!' ,Sprich dich aus!' sagte er; und sie: ,Was meinst du zu einem schönen Hause und einem lieblichen Garten mit fließenden Wassern, Früchten und Wein und einem hübschen Gesicht, das du vom Abend bis zum Morgen küssen darfst? Und wenn du tust, was ich dir rate, so wirst du dein Glück erleben.' Als mein Bruder ihre Worte vernahm, sprach er zu ihr: ,O meine Herrin, wie kommt es, daß du unter allen Menschen gerade mir dies alles darbietest, und was gefällt dir so an mir?' Sie aber erwiderte meinem Bruder: ,Habe ich dir nicht gesagt, du solltest nicht viele Worte machen? Schweig und komm mit mir!' Darauf wandte die Alte sich um, und mein Bruder folgte ihr, voll Verlangen nach dem, was sie ihm geschildert hatte, bis sie in ein geräumiges Haus mit vielen Dienern eintraten. Als sie ihn aus dem unteren Stockwerk in das obere führte, bemerkte mein Bruder, daß es ein vornehmes Schloß war. Und als die Leute des Hauses ihn sahen, fragten sie ihn: ,Wer hat dich hierher gebracht?' Aber die Alte erwiderte ihnen: ,Laßt ihn in Ruhe und stört ihn nicht; er ist ein Handwerker, und wir haben ihn nötig.' Dann führte sie ihn in ein geschmücktes Gemach, so schön, wie ein



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Auge es noch nie gesehen. Als sie in das Gemach eintraten, erhoben sich die Frauen und hießen ihn willkommen und ließen ihn neben sich sitzen. Kaum hatte er dort einen Augenblick verweilt, da vernahm er ein lautes Geräusch, und herein trat eine Schar von Sklavinnen, die eine Dame umringten, dem Monde gleich in der Nacht seiner Fülle. Mein Bruder richtete seinen Blick auf sie, stand auf und verneigte sich vor ihr; und sie hieß ihn willkommen und winkte ihm, sich zu setzen. Als er sich gesetzt hatte, trat sie auf ihn zu und sprach zu ihm: ,Allah bringe dich zu Ehren! Geht es dir gut?' ,O meine Herrin', versetzte er, ,es geht mir sehr gut.' Darauf befahl sie, Speisen zu bringen, und man setzte feine Speisen vor sie hin; und sie ließ sich nieder, um zu essen. Bei alledem hörte die Dame nicht auf zu lachen; aber sooft mein Bruder sie ansah, wandte sie ihren Blick ab zu ihren Sklavinnen hin, als ob sie über die lachte. Meinem Bruder aber machte sie Zeichen der Liebe und scherzte mit ihm. Und er, der Esel, merkte nichts; vielmehr, da die Leidenschaft ihn so ganz überwältigt hatte, bildete er sich ein, die Dame sei in ihn verliebt und werde ihm gewähren, was er wünschte. Als sie gegessen hatten, trug man den Wein auf; dann kamen der Mädchen zehn, wie Monde so schön, die trugen wohlgestimmte Lauten in den Händen und begannen mit wehmütig-schönen Stimmen zu singen. Da überwältigte meinen Bruder das Entzücken, und er nahm einen Becher aus der Hand der Dame und trank ihn vor ihr stehend aus. Darauf trank auch sie einen Becher Weins, und mein Bruder sagte: ,Dein Wohl!', und verneigte sich. Dann reichte sie ihm einen zweiten Becher, und er trank auch ihn aus; sie aber gab ihm einen Streich auf den Nacken. Als mein Bruder dies von ihr erfuhr, lief er eiligst davon; aber die Alte folgte ihm und gab ihm Zeichen mit ihren Augen, daß er zurückkehren sollte. So kam



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er denn wieder, und die Dame hieß ihn sich setzen; und er ließ sich nieder und blieb sitzen, ohne ein Wort zusagen. Und wieder schlug sie ihn ins Genick; und auch das genügte ihr noch nicht, sondern sie befahl sogar all ihren Sklavinnen, ihn zu schlagen, während er zu der Alten sagte: ,Nie habe ich etwas Schöneres erlebt als dies.' Die Alte aber sagte immerfort: ,Ach, bei deinem Leben, o meine Herrin!' Doch die Mädchen schlugen ihn, bis er fast ohnmächtig wurde. Daraufstand mein Bruder auf, um ein Geschäft zu besorgen, aber die Alte holte ihn ein und sagte zu ihm: ,Gedulde dich noch ein wenig, so wirst du erreichen, was du wünschest.' ,Wie lange soll ich noch warten?' fragte mein Bruder; ,von den Schlägen bin ich ja fast ohnmächtig geworden.' ,Wenn sie trunken ist', erwiderte sie, ,wirst du dein Ziel erreichen.' Also kehrte mein Bruder auf seinen Platz zurück und setzte sich; die Sklavinnen aber standen samt und sonders auf, und die Dame befahl ihnen, ihn mit Weihrauch zu beräuchern und ihm das Gesicht mit Rosenwasser zu besprengen. Jene führten den Befehl aus; die Dame aber sprach zu ihm: ,Allah bringe dich zu Ehren! Du hast mein Haus betreten und meine Bedingungen eingehalten; denn wer mir zuwider handelt, den schicke ich hinweg; doch wer geduldig ist, erreicht sein Ziel.' ,O meine Gebieterin', sagte mein Bruder, ,ich bin dein Sklave und in deiner Gewalt!' ,So wisse', fuhr sie fort, ,mich hat Allah zu einer leidenschaftlichen Freundin lustiger Scherze gemacht; und wer mir gehorcht, der erhält, was er wünscht.' Dann befahl sie den Mädchen, mit lauter Stimme zu singen, so daß die ganze Gesellschaft entzückt war; und dann sprach sie zu einer von den Sklavinnen: ,Nimm deinen Herrn und tu, was nötig ist, und bring ihn mir alsbald zurück.' Da nahm das Mädchen meinen Bruder, ohne daß er wußte, was sie mit ihm beginnen wollte; aber die Alte folgte



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ihm und sagte: ,Sei geduldig! Es bleibt nur noch wenig zu tun!' Und sein Gesicht hellte sich auf, und er wandte sich der Dame wieder zu, während die Alte immerfort sagte: ,Sei geduldig, jetzt wirst du gleich erreichen, was du wünschest!' Da fragte er sie: ,Sage mir, was dieses Mädchen mit mir tun soll.' ,Dort harrt deiner nichts als Gutes', erwiderte sie, ,so wahr ich mich für dich hingebe! Sie soll dir nur die Augenbrauen färben und den Schnurrbart auszupfen.' Er sagte: ,Die Farbe auf den Augenbrauen geht beim Waschen wieder ab, aber wenn man mir den Schnurrbart auszupft, das tut weh.' ,Nimm dich in acht', rief die Alte, ,daß du ihr nicht zuwider handelst! Denn ihr Herz hängt an dir.' Und so ließ mein Bruder sich geduldig die Brauen färben und den Schnurrbart auszupfen; und die Sklavin kehrte zu ihrer Herrin zurück und sagte ihr Bescheid. Diese sagte zu ihr: ,Jetzt bleibt noch eins zu tun; du mußt ihm den Bart scheren, daß er ganz glatt wird.' Die Sklavin ging darauf zu ihm zurück und sagte ihm, was ihre Herrin ihr befohlen hatte; und mein Bruder, der Dummkopf, erwiderte ihr: ,Was soll ich anfangen, wenn ich unter den Leuten zum Gespött werde?' Doch die Alte sagte: ,Sie will das nur tun, damit du werdest wie ein bartloser Jüngling und damit nichts in deinem Gesicht bleibt, was sie kratzt und sticht; denn ihr Herz ist in leidenschaftlicher Liebe zu dir entbrannt. Also sei geduldig, und du erreichst dein Ziel.' Und mein Bruder war geduldig, gehorchte dem Mädchen und ließ sich den Bart rasieren; und als er wieder vor die Dame geführt wurde, siehe, da waren ihm die Brauen mit Farbe betupft, und der Schnurrbart war ihm ausgezupft, das Kinn rasiert und die Wangen rot angestrichen. Zuerst erschrak sie über ihn; dann lachte sie, bis sie auf den Rücken fiel, und sagte nun: ,Mein Gebieter, wahrlich, du hast durch deine gute Natur mein Herz gewonnen!' Und sie beschwor



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ihn bei ihrem Leben, vor ihr zu tanzen, und er begann zu tanzen, während sie im Zimmer kein Kissen übrig ließ, das sie ihm nicht an den Kopf warf; und ebenso bewarfen ihn all die Sklavinnen, eine mit einer Orange, die andere mit einer Limone, die dritte mit einer Zitrone, bis er hinfiel, halb ohnmächtig von den Schlägen und Streichen auf seinen Nacken und von dem Bewerfen mit Kissen und Früchten. ,Jetzt hast du dein Ziel erreicht', sagte die Alte zu ihm, ,wisse, nun harren deiner keine Schläge mehr, und nur noch eins bleibt zu tun übrig. Und das ist folgendes: sie pflegt sich im Rausche erst dann einem Manne zu ergeben, wenn sie ihre Kleider und Hosen abgelegt hat und splitternackt ist; sie wird dir befehlen, daß auch du deine Kleider ablegst und laufest, während sie vor dir herläuft, als ob sie vor dir fliehen wolle; du aber folge ihr von Ort zu Ort, bis deine Rute steht; dann wird sie sich dir ergeben'; und sie fügte hinzu: ,Zieh deine Kleider nur gleich aus!' Und er, der Weltentrückt, legte alle seine Kleider ab und stand ganz nackt da. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 32. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Barbier von seinem zweiten Bruder also weitererzählte: ,Als die Alte zu meinem Bruder gesagt hatte, er solle seine Kleider ausziehen, und als er, der Welt entrückt, seine Kleidung abgelegt hatte und nackt dastand, sagte die Dame zu ihm: ,Nun halt dich bereit zum Lauf; ich werde auch laufen.' Darauf entkleidete sie sich ebenfalls und rief ihm zu: ,Wenn du etwas willst, so folge mir!' Und sie lief vor ihm her, und er lief ihr nach, und sie eilte von Zimmer zu Zimmer immer weiter; mein Bruder hinter ihr her, wie ein Verrückter, überwältigt von Begier und mit stehender Rute.



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Und schließlich eilte sie vor ihm her in einen dunklen Raum und er ihr nach in rasendem Lauf; aber plötzlich trat er auf eine weiche Stelle, die unter ihm durchbrach; und ehe er sich dessen versah, befand er sich mitten auf der Straße im Basar Lederhändler, die ihre Häute ausriefen und kauften und verkauften. Als die ihn in diesem Zustande sahen: nackt, mit stehender Rute, mit rasiertem Kinn, mit gefärbten Brauen und rot angestrichenem Gesicht, —da schrien sie und klatschten ihn aus und begannen mit den Häuten auf seinen nackten Leib zu schlagen, bis er ohnmächtig hinfiel. Und sie luden ihn auf einen Esel und führten ilm zu dem Präfekten. Der sprach zu ihnen: ,Was ist diese' Sie antworteten: ,Der da fiel plötzlich in diesem Zustand aus des Wesirs Haus auf uns nieder.' Da ließ der Präfekt ihm hundert Peitschenhiebe verabfolgen und verbannte ihn aus Baghdad. Ich aber ging ihm nach und brachte ilm heimlich in die Stadt zurück und gab ihm ein Taggeld, damit er leben kann. Wäre ich nicht so großmütig, dann hätte ich seinesgleichen nicht ertragen.


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