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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DER KATZE UND DER MAUS

Eines Nachts strich Hinz der Kater auf einem der Felder umher, um einen Fang zu tun; aber er fand nichts, und daher ward ihm schwach vor dem Übermaß der Kälte und des Regens, der in jener Nacht strömte. Deshalb sann er auf eine List, durch die er etwas gewinnen könnte. Wie er nun so umherschlich, gewahrte er plötzlich ein Loch am Fuß eines Baumes, und er begann zu schnüffeln und zu schnurren, bis er



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spürte, daß in dem Loch eine Maus war; und er ging darum herum und wollte hineindringen, um sie zupacken. Als jedoch die Maus ihn bemerkte, wandte sie ihm den Rücken und begann mit Vorderpfoten und Hinterpfoten im Boden zu kratzen, um dem Kater den Eingang zu dem Loch zu versperren. Da begann der Kater mit schwacher Stimme zu rufen und sprach: ,'Warum tust du das, liebe Schwester? Ich suche doch Schutz bei dir, damit du dich meiner erbarmst und mich heute nacht in deinem Loche beherbergst; denn ich bin schwach vor Alter, und meine Kraft ist geschwunden, so daß ich mich kaum noch zu rühren vermag. Ich habe mich heute nacht auf dies Feld gewagt; aber wie oft habe ich mir schon den Tod herbeigerufen, damit ich Ruhe hätte! Siehe, hier liege ich vor deiner Tür, zitternd vor Kälte und Regen, und ich bitte dich um Allahs willen, ergreif in deiner Güte meine Hand und zieh mich zu dir hinein, gib mir ein Obdach in der Vorhalle deines Nestes; denn ich bin ein armer Fremdling, und es heißt doch: ,Wer einem armen Fremdling in seinem Hause Herberge leiht, dem steht am Jüngsten Tage das Paradies als Herberge bereit. Du, liebe Schwester, verdienst es, dir himmlischen Lohn um meinetwillen zu erwerben, indem du mir gestattest, bei dir heute nacht bis zum Morgen zu verbleiben; dann will ich wieder meiner Wege gehen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 901. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kater zu der Maus sprach: ,Gestatte mir, bei dir heute nacht zu verbleiben; dann will ich wieder meiner Wege gehen!' Doch als die Maus die Worte des Katers vernommen hatte, sprach sie zu ihm: ,Wie dürftest du in mein Nest kommen, da du mein natürlicher Feind bist und



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von meinem Fleische lebst? Ich muß doch fürchten, daß du an mir Verrat übst; denn das ist dir eingeboren, und du übst keine Treue. Es heißt ja auch: Man soll einem liederlichen Mann keine schöne Frau anvertrauen, noch einem kinderreichen Armen Geld, noch auch dem Feuer das Brennholz. So geziemt es mir auch nicht, mich dir anzuvertrauen, da es heißt: Die Feindschaft der Natur wird um so stärker, je schwächer der Feind wird.' Der Kater sagte darauf mit erlöschender Stimme, als wäre er schon dem Tode nahe: ,Was du da anführst an warnenden Beispielen, ist richtig, und ich kann es dir nicht abstreiten. Doch ich bitte dich, vergib mir, was hinter uns liegt an natürlicher Feindschaft zwischen uns beiden; denn es heißt: Wer einem Geschöpfe seinesgleichen vergibt, dem vergibt sein Schöpfer. Ja, ich bin früher dein Feind gewesen, aber siehe, heute suche ich deine Freundschaft. Es heißt doch: Wenn du willst, daß dein Feind dir zum Freunde werde, so tu ihm Gutes! Ich, liebe Schwester, ich schwöre dir bei Allah einen feierlichen Eid, daß ich dir nimmermehr ein Leid antun will; ich habe ja außerdem gar keine Kraft mehr dazu, so vertraue denn auf Gott, tu Gutes und nimm meinen feierlichen Eid an.' Die Maus erwiderte: ,Wie kann ich einen Eid von dem annehmen, zwischen dem und mir eine eingewurzelte Feindschaft besteht und dessen Gewohnheit es ist, an mir Verrat zu üben? Wäre die Feindschaft zwischen uns etwas anderes als eine Feindschaft auf Tod und Leben, so wäre es ein leichtes; aber es ist eine angeborene Feindschaft zwischen den Seelen, und es heißt: Wer sich seinem Feinde anvertraut, der ist wie einer, der seine Hand in den Rachen einer Viper steckt.' Nun sprach der Kater voller Grimm: ,Meine Brust ist beklommen, und meine Seele ist schwach; siehe, ich liege im Sterben, und in Kürze werde ich tot vor deiner Tür liegen, dann wird mein Blut über dich



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kommen, dieweil es in deiner Macht stand, mich aus meiner Not zu retten. Dies ist mein letztes Wort an dich.' Da ward die Maus von Furcht vor Allah dem Erhabenen erfüllt, Erbarmen rührte sich in ihrem Herzen, und sie sprach bei sich selbst: ,Wer von Allah dem Erhabenen Hilfe haben will vor seinem Feinde, der möge ihm Erbarmen und Güte erweisen. So will ich denn auf Allah vertrauen in dieser Sache und will den Kater aus seiner Not befreien, um mir durch ihn den himmlischen Lohn zu verdienen.' Nun kam die Maus zu dem Kater hinaus und zog ihn in ihr Loch herein. Dort blieb er liegen, bis er sich erholt und ausgeruht hatte und sich ein wenig besser fühlte; dann fing er an zu klagen über seine Schwäche und über das Schwinden seiner Kraft und darüber, daß er keine Freunde habe. Und die Maus war gütig zu ihm, tröstete ihn, behandelte ihn als Freund und mühte sich ab, ihm zu dienen. Der Kater aber kroch langsam zum Ausgang des Loches, bis er ihn in seiner Gewalt hatte, da er fürchtete, die Maus könne hinausschlüpfen. Und als nun die Maus hinauslaufen wollte, kam sie dem Kater nahe, was sie ja vorher schon getan hatte; wie sie ihm jetzt jedoch nahe war, ergriff er sie und packte sie mit den Krallen, und er begann sie zu beißen und zu schütteln, ins Maul zu nehmen, aufzuheben und niederzuwerfen, hinter ihr her zu laufen, sie zu quälen und zu peinigen. Die Maus schrie um Hilfe und flehte zu Allah um Rettung; dem Kater aber machte sie Vorwürfe, indem sie sprach: ,Wo ist der Eid, den du mir geschworen baste Wo sind die Schwüre, die du mir geleistet hast? Ist dies mein Lohn von dir dafür, daß ich dich in mein Nest geholt und mich dir anvertraut habe? Wahrlich, der hat recht, der da sagte: Wer von seinem Feinde einen Schwur annimmt, der sucht nicht das Heil für sich selbst. Und ebenso jener, der da sagte: Wer sich selbst dem Feinde ausliefert,



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der verdient das eigene Verderben. Doch ich habe mein Vertrauen auf meinen Schöpfer gesetzt, und er wird mich von dir befreien!' Als es nun so um den Kater stand und er gerade auf die Maus losspringen wollte, um sie zu zermalmen, da kam plötzlich ein Jägersmann des Wegs mit bissigen Hunden, die zur Jagd abgerichtet waren; einer von den Hunden kam beim Ausgange des Loches vorbei, und als er einen großen Lärm darin hörte, glaubte er, es sei dort ein Fuchs, der etwas zerrisse. Deshalb kroch er hinein, um den Fuchs zu packen; doch da traf er den Kater und zerrte ihn an sich. Und als der Kater nun in die Gewalt des Hundes gefallen war, mußte er an sich selber denken und ließ die Maus los, die noch unverletzt war. Der bissige Hund aber holte den Kater heraus, nachdem er ihm das Genick zerbrochen hatte, und warf ihn draußen tot nieder; und so wurde durch die beiden die Wahrheit des Spruches kund: ,Wer sich erbarmt, wird später Erbarmen finden; doch wer da hart ist, den wird die Härte bald schinden.' *

,Solches also geschah mit den beiden, o König, und deshalb soll niemand dem, der ihm vertraut, die Treue brechen; denn wer Verrat und Treulosigkeit übt, dem wird widerfahren, was dem Kater widerfuhr. Wie der Mensch richtet, so soll er gerichtet werden; doch wer sich der Güte befleißigt, der soll seinen Lohn empfahen. Aber sei nicht traurig, o König, und laß es dir nicht zu Herzen gehen; denn dein Sohn wird nach seiner Härte und Grausamkeit wohl zurückkehren zu deinem trefflichen Wandel! Und ich wünschte, dieser Weise, der dein Wesir Schimâs ist, hätte dir in seiner Deutung nichts verborgen; dann wäre er wohlberaten gewesen, denn es heißt: Die Menschen, die am meisten Besorgnis hegen, haben auch die



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reichsten Kenntnisse und sind die eifrigsten im Guten.' Der König fügte sich nun und befahl, den Sterndeutern große Geschenke zugeben. Nachdem er sie dann entlassen hatte, machte er sich auf, begab sich in seine Gemächer und begann über den Ausgang seines Geschickes nachzusinnen.

Als es aber Nacht geworden war, ging der König zu einer von seinen Gemahlinnen ein, zu der, die ihm die teuerste und liebste war; und er ruhte bei ihr. Und nachdem vier Monde über sie dahingegangen waren, regte sich das Kind in ihrem Leibe. und dessen freute sie sich über die Maßen. Sie meldete es dem König und sprach: ,So hat denn mein Traum die Wahrheit gesagt, bei Allah, den wir um Hilfe anflehen!' Dann ließ er sie in den schönsten Gemächern wohnen, erwies ihr die höchsten Ehren, machte ihr reiche Geschenke und überhäufte sie mit vielerlei Gnaden. Danach rief er einen seiner Diener und schickte ihn fort, um Schimâs zu holen. Als der vor ihm stand, erzählte ihm der König, daß seine Gemahlin schwanger sei, und er fügte erfreut hinzu: ,Mein Traum hat mir die Wahrheit enthüllt, und meine Hoffnung hat sich erfüllt. Vielleicht ist das noch ungeborene Kind ein Knabe, der nach mir mein Reich erben wird. Was meinst du dazu, Schimâs?' Doch der Wesir schwieg und gab keine Antwort, so daß der König zu ihm sprach: ,Warum muß ich sehen, daß du dich nicht mit mir freust und mir keine Antwort gibst? Sollte dir dies etwa mißfallen, Schimâs?' Da warf der Wesir sich vor ihm nieder und sprach: ,O König, Allah schenke dir ein langes Leben! Was nützt es, daß man im Schatten eines Baumes sitzt, wenn Feuer aus ihm emporsteigt? Welche Freude hatder, so lauteren Wein trinkt, wenn er daran ersticken muße Welchen Nutzen hat der, so seinen Durst an frischem, kühlem Wasser stillt, wenn er darin ertrinkt? Ich bin nur ein Knecht Allahs und dein



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Knecht, o König, aber es heißt: Drei Dinge gibt es, von denen der Weise nicht reden soll, ehe sie erfüllet sind: der Wanderer, ehe er heimgekehrt ist, von seiner Reise; der Kämpfer, ehe er den Feind besiegt hat, vom Kriege; und die schwangere Frau, ehe sie geboren hat, vom Kinde.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 902. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Wesir Schimâs, als er dem König die drei Dinge genannt hatte, von denen der Weise nicht eher reden soll, als bis sie erfüllt sind, des weiteren sprach: ,Wisse denn ,o König, wer von einer Sache redet, ehe sie erfüllt ist, gleicht dem Frommen, dem sich die zerlassene Butter aufs Haupt ergoß.' Da fragte der König: ,Was ist das für eine Geschichte mit dem Frommem Was ist ihm widerfahrent' Nun erzählte der Wesir


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