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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES KÖNIGS DSCHALI'ÂD UND SEINES SOHNES WIRD CHÂN

Einst lebte in alten Zeiten und längst entschwundenen Vergangenheiten ein König im Lande Indien; der war ein mächtiger König, von hohem Wuchs, schön von Gestalt und schön von innerem Wesen, voll edler Eigenschaften, wohltätig gegen die Armen und liebreich gegen die Untertanen und gegen alles Volk seines Reiches. Sein Name war Dschali'âd; und unter seiner Herrschaft standen zweiundsiebenzig Könige, und in seinen Städten lebten dreihundertundfünfzig Kadis. Ferner hatte er siebenzig Wesire, und über je zehn von dieser Schar hatte er einen Oberwesir gesetzt. Der höchste aller Wesire aber war ein Mann, namens Schimâs; der war zweiundzwanzig Jahre alt, ein Mann von schönem Aussehen und Wesen, freundlich in seiner Rede, klug in seiner Antwort, erfahren in allen seinen Geschäften, ein weiser und geschickter Führer trotz seinen jungen Jahren, kundig in aller Wissenschaft und feinen Bildung. Der König liebte ihn herzlich und war ihm zugetan wegen seiner Erfahrenheit in der Kunst der feinen Rede und in den Geschäften des Staates, zumal auch wegen der Barmherzigkeit und Leutseligkeit gegen das Volk, die Allah ihm verliehen hatte. Jener König war gerecht in seiner Herrschaft, ein Schirmherr seiner Untertanen, der groß und klein mit seiner Wohltat umfaßte und ihnen zukommen ließ, was ihnen gegebührte, Schutz und Gaben, Sicherheit und Ruhe, und der allem Volke die Abgaben leicht machte. Ja, er war liebevoll gegen hoch und niedrig, handelte an ihnen mit Wohlwollen und Fürsorge und regierte unter ihnen so vortrefflich, wie vor ihm noch keiner regiert hatte. Doch bei alldem hatte Allah der



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Erhabene ihm kein Kind geschenkt, und das betrübte ihn und das Volk seines Reiches. Eines Nachts aber, als der König auf seinem Lager ruhte, gequält von sorgenvollen Gedanken darüber, was aus seinem Reiche wohl noch werden möchte, begab es sich, daß der Schlaf ihn übermannte und daß ihm träumte, er gösse Wasser auf die Wurzel eines Baumes. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 901. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß König Dschali'âd im Traume sah, wie er Wasser auf die Wurzel eines Baumes goß, der von vielen anderen Bäumen umgeben war; und siehe, da stieg ein Feuer aus jenem Baum empor und verbrannte all die Bäume, die ihn rings umgaben. Voll Furcht und Schrecken wachte er aus seinem Schlafe auf, rief einen seiner Diener und sprach zu ihm: ,Geh eilends hin und bringe mir sogleich den Wesir Schimâs!' Der Diener eilte zu Schimâs und sprach zu ihm: ,Der König entbietet dich auf der Stelle zu sich; denn er ist voll Schrecken aus seinem Schlaf erwacht und hat mich zu dir gesandt, damit du sogleich vor ihm erscheinst.' Als Schimâs die Worte des Dieners vernahm, erhob er sich unverzüglich, begab sich zum König und trat in sein Gemach ein; er sah ihn auf seinem Lager sitzen, und nachdem er sich unter Segenswünschen für die Dauer seines Ruhms und Gedeihens vor ihm niedergeworfen hatte, sprach er zu ihm: ,Möge Allah dich nie betrüben, o König! Was hat dich in dieser Nacht beunruhigt, und was ist der Grund, daß du mich so eilig zu dir entboten hast?' Der König hieß ihn sich setzen, und nachdem der Wesir das getan hatte, erzählte er ihm, was er geträumt hatte, indem er sprach: ,Ich habe in dieser Nacht einen Traum gesehen, der mich erschreckt hat: mir war nämlich, als ob ich Wasser auf



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die Wurzel eines Baumes gösse, der von vielen Bäumen umgeben war; und während ich das tat, stieg plötzlich ein Feuer aus der Wurzel jenes Baumes empor und verbrannte all die Bäume rings um ihn. Darüber erschrak ich, Angst ergriff mich, und ich wachte alsbald auf; und dann sandte ich nach dir, da du so große Kenntnisse hast und die Träume deuten kannst, und da ich weiß, 'ne ausgebreitet dein Wissen und wie reich deine Einsicht ist.' Schimâs senkte eine Weile sein Haupt; dann aber lächelte er. Da fragte ihn der König: ,Was dünkt dich, Schimâs? Sag mir die volle Wahrheit und verbirg mir nichts!' Schimâs antwortete ihm und sprach: ,O König, wisse, Allah der Erhabene erfüllt dir deinen Wunsch und kühlt dir deine Augen; denn die Bedeutung dieses Traumes verheißt alles Gute. Er besagt nämlich, daß Allah der Erhabene dir einen Sohn schenken wird, der nach deinem langen Leben das Reich von dir erben soll. Freilich liegt noch etwas anderes darin, das ich dir jetzt nicht erklären möchte, da die Zeit für seine Deutung nicht günstig ist.' Der König freute sich darüber gar sehr, und er war so hoch beglückt, daß seine Furcht von ihm wich und sein Geist sich beruhigte; darum sprach er: ,Wenn es also steht mit der glücklichen Bedeutung dieses Traumes, so vollende mir die Auslegung, wenn die passende Zeit für die völlige Deutung gekommen ist. Denn was jetzt noch nicht gedeutet werden darf, das zu deuten geziemt dir, wenn die Zeit dazu gekommen ist, auf daß meine Freude erfüllet werde; ich suche hierin nichts anderes als das Wohlgefallen Allahs, des Gepriesenen und Erhabenen.' Der Wesir Schimâs erkannte wohl, daß es den König sehr nach der vollen Deutung verlangte, aber er nahm seine Zuflucht zu einem Vorwand, durch den er ihn hinhielt. Deshalb berief der König alle Sternkundigen und Traumdeuter, die in seinem Reiche waren; und



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wie sie allesamt vor ihm standen, erzählte er ihnen jenen Traum und fügte hinzu: ,Ich verlange von euch, daß ihr mir seine wahre Deutung verkündet!' Da trat einer von ihnen vor und erbat vom König die Erlaubnis, reden zu dürfen. Als jener es ihm gestattet hatte, begann er: ,Wisse, o König, dein Wesir Schimâs ist keinesweges außerstande, dir dies zu deuten; er hat sich nur vor dir gescheut und davor, deine Ruhe zu stören; darum hat er dir nicht die ganze Deutung in ihrer Vollkommenheit kundgetan. Doch wenn du mir erlaubst zu sprechen, so will ich reden.' Der König erwiderte: ,Sprich, du Traumdeuter, ohne Scheu und sage mir die Wahrheit!' So hub denn der Deuter von neuem an: ,Wisse, o König, dir wird ein Knabe geboren werden, der soll nach deinem langen Leben das Reich von dir erben. Aber er wird unter dem Volke nicht wandeln, wie du wandelst, nein, er wird deine Vorschriften übertreten und dein Volk bedrücken, und dann wird ihm widerfahren, was der Katze mit der Maus widerfahren ist; ich aber nehme meine Zuflucht zu Allah dem Erhabenen.' Da fragte der König: ,Was ist das für eine Geschichte mit der Katze und der Maus?' Der Deuter antwortete: ,Allah schenke dem König ein langes Leben! Vernimm


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