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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DES BARBIERS ERZÄHLUNG VON SEINEM ERSTEN BRUDER

Wisse denn, o Beherrscher der Gläubigen, mein erster Bruder, der Bucklige, übte in Baghdad das Schneidergewerbe aus, und er nähte in einem Laden, den er von einem sehr begüterten Manne gemietet hatte; jener Mann aber wohnte über dem Laden, und unten im Hause war noch eine Kornmühle. Eines Tages nun, während mein Bruder, der Bucklige, in dem Laden saß und schneiderte, hob er einmal den Kopf und sah in einem Fenster des Hauses eine Dame, dem aufgehenden Monde gleich, wie sie die Vorübergehenden betrachtete. Und als mein Bruder sie erblickte, wurde sein Herz von Liebe zu ihr erfaßt, und jenen ganzen Tag lang starrte er sie an und vergaß darüber zu schneidern, bis es Abend war. Am nächsten Morgen früh aber öffnete er seinen Laden und setzte sich hin, um zu nähen; doch sooft er einen Stich tat, blickte er hinauf zum Fenster und sah sie wie zuvor; und seine Liebe und seine Leidenschaft zu ihr wuchsen immer mehr. Und als er am dritten Tage wieder an seiner gewohnten Stelle saß und sie anstarrte, erblickte die Dame ilm, und da sie merkte, daß er von der Liebe zu ihr gefangengenommen war, lächelte sie ihm zu, und er lächelte zurück. Darauf verschwand sie und schickte alsbald ihre Sklavin zu ihm mit einem Tuche, in dem sich ein Stück rotgeblümten Stoffes befand. Die sprach ihn an und sagte: ,Meine Herrin grüßt dich und läßt dir sagen, du möchtest mit geschickter Hand aus diesem Stoffe ein Hemd zuschneiden und es fein nähen.' Er antwortete: ,Ich höre und gehorche', schnitt ein Hemd für sie zu und nähte es am selben Tage fertig. Und als der Morgen tagte, kam das Mädchen früh wieder zu ihm und sagte: ,Meine Herrin grüßt dich und fragt, wie du die Nacht verbracht



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hast; denn sie hat keinen Schlaf gefunden, weil ihr Herz mit dir beschäftigt war.' Darauf legte sie ein Stück gelben Atlas vor ihn hin und sagte: ,Meine Herrin läßt dir sagen, du möchtest ihr ein Paar Hosen aus diesem Atlas zuschneiden und sie noch heute nähen.' ,Ich höre und gehorche', erwiderte er; ,grüße sie von mir vielmals und sage ihr: Dein Sklave ist an deinen Befehl gebunden, und so befiehl ihm, was du willst.' Dann machte er sich ans Zuschneiden und nähte eifrig an den Hosen, und nach einer Weile erschien die Dame am Fenster und grüßte ihn durch Zeichen, bald senkte sie die Blicke und bald lächelte sie ihn an; da begann er zu glauben, daß er sie gewinnen würde. Dann entschwand sie seinem Blick, aber die Sklavin kam, und der übergab er die Hosen; sie nahm sie und ging ihrer Wege. Und als es Nacht war, da warf er sich auf sein Lager und wälzte sich bis zum Morgen hin und her; und bei Tagesanbruch stand er auf und setzte sich an seine Stätte. Da kam das Mädchen zu ihm und sagte: ,Mein Herr verlangt nach dir.' Als er das hörte, geriet er in große Furcht; die Sklavin aber sagte, als sie seine Angst bemerkte: ,Habe keine Furcht! Nichts als Gutes wartet dort auf dich. Meine Herrin hat meinen Herrn schon mit dir bekanntgemacht.' Des freute sich mein Bruder gar sehr, und er ging sofort mit ihr; und als er vor ihren Herrn trat, den Gatten der Dame, da küßte er den Boden. Jener gab seinen Gruß zurück und reichte ihm dann ein großes Stück Leinen und sagte: ,Schneide mir dies zu und nähe mir Hemden daraus.' Mein Bruder antwortete: ,Ich höre und gehorche', und schnitt ununterbrochen zu, bis er um die Zeit des Nachtmahls zwanzig Hemden beendet hatte; denn er nahm sich keine Zeit zum Essen. Dann fragte der Hausherr ihn: ,Was ist der Lohn dafür?', und er erwiderte: ,Zwanzig Dirhems.' Da rief der Herr der Sklavin zu: ,Bringe zwanzig Dirhems her.' Mein



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Bruder sprach kein Wort, aber die junge Frau machte ihm ein Zeichen, das bedeutete, er solle von dem Herrn nichts annehmen. Darum sagte er nun: ,Bei Allah, ich werde nichts von dir nehmen.' Er nahm das Schneiderwerkzeug und ging hinaus, obgleich er sehr nötig Geld brauchte. Und nun blieb er drei Tage lang, indem er nur ganz wenig aß und trank, eifrig bei der Arbeit, die er für jene Leute zu machen hatte. Dann kam die Sklavin und sagte zu ihm: ,Was hast du geschaffte' Er sprach: ,Sie sind fertig', nahm sie und ging damit zu den Leuten hinauf. Und er übergab die Hemden dem Gatten der Dame und ging sofort wieder davon.

Nun hatte die junge Frau ihrem Gatten gesagt, wie es mit meinem Bruder stand, ohne daß dieser etwas davon ahnte; und die beiden hatten sich verabredet, ihn umsonst für sich Schneiderarbeit verrichten zu lassen und ihn zum besten zu haben. Am nächsten Morgen ging er in seinen Laden; da kam die Sklavin und sagte zu ihm: ,Mein Herr läßt dich rufen.' Sofort ging er mit ihr, und als er vor jenem stand, sprach er zu ihm: ,Ich möchte, daß du mir fünf Gewänder mit langen Ärmeln zuschneidest.' Und er schnitt sie zu, nahm den Stoff mit sich und ging davon. Dann nähte er jene Gewänder und brachte sie dem Herrn, und der lobte seine Arbeit und rief nach einem Beutel Silbers. Doch als er die Hand ausstreckte, machte die Dame, die hinter ihrem Gatten stand, ein Zeichen, er solle nichts annehmen, und so sprach er zu dem Manne: ,O mein Herr, es hat keine Eile; dafür ist immer noch Zeit.' Und er verließ das Haus elender als ein Esel, denn fünf Dinge waren in ihm vereinigt: Liebe, Armut, Hunger, Blöße und Müdigkeit. Doch er raffte sich auf, und als er all ihre Arbeit vollendet hatte, da spielten sie ihm einen Streich und vermählten ihn ihrer Sklavin; und als er nachts zu ihr eingehen wollte, sagten sie zu ihm:



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,Bleib heute nacht in der Mühle bis morgen früh, das wird Glück bringen!' Und da mein Bruder glaubte, das sei wahr, so übernachtete er allein in der Mühle. Nun war der Gatte der Dame hingegangen und hatte den Müller angewiesen, die Mühle vom Schneider drehen zu lassen. Um Mitternacht also kam der Müller zu ihm herein und fing an zu reden: ,Der Ochse da ist faul! Er steht still und will die Mühle heute nacht nicht drehen, und doch ist des Kornes bei uns viel!' Darauf trat er zum Mühlwerke und füllte den Trichter mit Korn; dann ging er mit einem Strick in der Hand zu meinem Bruder, band ihn ihm um den Hals und rief: ,Hüh! Lauf herum um das Korn! Du willst wohl immer nur fressen und Dreck und Wasser machen!' Dann nahm er eine Peitsche in die Hand, schlug meinen Bruder damit, und der begann zu weinen und zu schreien; aber er fand keinen Beschützer, und so wurde bis kurz vor Tagesanbruch der Weizen gemahlen. Da kam der Hausherr und sah meinen Bruder ins Joch gespannt und ging wieder fort. Und am frühen Morgen kam die Sklavin und band ihn los und sagte: ,Mir und meiner Herrin geht das, was dir widerfahren ist, sehr zu Herzen, und wir haben deinen Kummer mit dir getragen.' Doch ihm versagte nach all den Schlägen und der Arbeit die Zunge, um zu antworten. Darauf ging mein Bruder in seine 'Wohnung, und siehe, der Meister, der seinen Ehevertrag geschrieben hatte, trat ein', begrüßte ihn mit den Worten: ,Friede sei mit dir!' und sagte: ,Allah gewähre dir ein langes Leben! Dein Antlitz sagt mir, du hast die Nacht vom Abend bis zum Morgen in Wonne und Scherzen und Kosen verbracht.' ,Allah gewähre dem Lügner keinen Frieden, o du tausendfacher Hühnrei!' rief mein Bruder; ,bei Allah, ich habe bis zum Morgen



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nichts getan als an Stelle des Ochsen die Mühle gedreht!' Jener bat: ,Erzähle mir deine Geschichte', und mein Bruder erzählte ihm alles, was ihm widerfahren war, worauf der Meister sagte: ,Dein Stern stimmt nicht zu ihrem Stern; doch wenn du willst, so will ich den Vertrag für dich ändern'; und er fügte noch hinzu: ,Nimm dich in acht, wenn ein neuer Betrug deiner harrt!' Dann verließ er ihn; mein Bruder aber ging in seinen Laden und wartete, daß jemand Arbeit brächte, durch die er sein täglich Brot verdienen könnte. Doch plötzlich kam die Sklavin zu ihm und sagte: ,Meine Herrin läßt dich rufen.' ,Geh von mir, o mein gutes Mädchen', erwiderte er, ,zwischen mir und deiner Herrin gibt es keine Beziehungen mehr.' Und das Mädchen ging fort und berichtete ihrer Herrin diese Worte; doch ehe mein Bruder sich dessen versah, steckte die Dame den Kopf zum Fenster hinaus und sprach unter Tränen: ,Weshalb, o mein Geliebter, soll es zwischen mir und dir keine Beziehungen mehr geben?' Er übergab keine Antwort. Da schwor sie ihm, das was ihm in der Mühle widerfahren war, sei gegen ihren Willen geschehen, und sie sei an alledem ohne Schuld. Und als mein Bruder auf ihre Schönheit und ihre Lieblichkeit blickte und ihre süße Stimme hörte, da wich der Gram, der ihn ergriffen hatte, von ihm, erließ ihre Entschuldigung gelten und freute sich ihres Anblicks. Dann grüßte er sie und sprach mit ihr und saß wieder eine Weile bei seiner Schneiderarbeit; und schließlich kam die Sklavin zu ihm und sagte: ,Meine Herrin grüßt dich und teilt dir mit, daß ihr Gatte vorhat, die Nacht bei seinen Freunden zu verbringen. Wenn er also dorthin gegangen ist, so komm du zu uns und verbringe die Nacht mit meiner Herrin im herrlichsten Genusse bis zum Morgen.'

Nun aber hatte ihr Gatte sie gefragt: ,Wie sollen wir es anfangen, ihn von dir fortzutreiben?', und sie hatte gesagt: ,Laß



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mich ihm noch einen anderen Streich spielen und ihn stadtbekannt machen!' Doch mein Bruder wußte nichts von der Arglist der Frauen. Und als es Abend war, kam die Sklavin zu ihm und führte ihn mit sich zurück; und wie die Dame meinen Bruder erblickte, da rief sie aus: ,Bei Allah, mein Gebietet, ich habe mich sehr nach dir gesehnt.' ,üm Allahs willen', erwiderte er, ,küsse mich schnell vor allem anderen!' Kaum aber hatte er das gesagt, so trat der Gatte der Dame aus dem nächsten Zimmer herein und schrie ihn an: ,Bei Allah, ich werde dich erst bei dem Hauptmann der Stadtwache wieder loslassen!' Nun bat mein Bruder ihn flehentlich; doch er wollte nicht auf ihn hören, sondern führte ihn vor den Präfekten, der ihn peitschen und auf ein Kamel setzen ließ, auf dem er durch die ganze Stadt geführt wurde, während die Leute ausriefen: ,Dies ist die Strafe für den, der in den Harem ehrenwerter Männer eindringt!' Er wurde aus der Stadt verbannt und zog aus, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte; ich aber war um ihn besorgt und ging ihm nach, holte ihn ein und führte ihn zurück und nahm ihn auf in mein Haus, allwo er noch lebt.' Der Kalif lachte über meine Geschichte und sagte: ,Du hast gut gehandelt, o Schweiger, o Wortkarger!', und erließ mir ein Geschenk geben und befahl mir, davonzugehen. Ich aber sagte: ,Ich will nichts von dir nehmen, es sei denn, daß ich dir zuvor erzähle, was meinen anderen Brüdern widerfahren ist; doch glaube nicht, ich sei ein Mann vieler Worte!


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