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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Der Tabaksjunge

Es war einmal eine arme alte Frau, welche betteln ging mit ihrem Sohn; daheim hatte sie nichts zu brechen und zu beißen. Erst ging sie in den Dörfern betteln und nun kam sie in die Stadt. Als sie eine Weile zwischen den Häusern herumgegangen war, kam sie auch zum Bürgermeister. Der war ein lieber und braver Mann, einer von den besten in der Stadt. Verheiratet war er mit der Tochter des reichsten Kaufmannes dort, und von ihr hatte er eine kleine Tochter. Mehr Kinder hatten sie nicht, und so war sie die süßeste und allerbeste, und das war nicht gut für sie. Sie freundete sich sofort mit dem armen Jungen an, als er mit seiner Mutter ins Haus kam, und als der Bürgermeister sah, daß sie so schnell gute Freunde geworden waren, nahm er den Jungen zu sich, so daß sie einen Spielkameraden hätte. Ja, sie spielten zusammen, räumten zusammen auf, lasen zusammen und gingen zusammen zur Schule und waren stets Freunde und mochten sich gut leiden.

Eines Tages stand die Bürgermeisterin beim Fenster und sah nach den Kindern, als sie zur Schule gehen sollten. Da entdeckte sie eine große Regenpfütze mitten in der Gasse; zuerst trug der Knabe die Kästchen mit dem Frühstück für die Schule hinüber, dann kam er zurück und hob das kleine Mädchen auf und trug es über das Wasser, und als er es wieder niedersetzte, gab er ihm einen Kuß.

Als die Bürgermeisterin das sah, wurde sie sehr böse. »Soll solch ein Rabenjunge unsere Tochter küssen, die wir doch die vornehmsten in der Stadt sind?« sagte sie. Der Bürgermeister versuchte sie zu beruhigen, so gut er konnte, er wüßte niemanden, der den Jungen sonst aufnehmen



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würde, und wer sollte sich um ihn kümmern, er sei doch so ein lieber und sittsamer Junge, und es würde oft ein großer Baum aus einem kleinen Keimling, sagte er. Aber nein, er würde immer das bleiben, was er ist, »wenn Armut kommt zu Ehren, weiß man nicht, was soll draus werden«, oder »der als Schilling gestanzt ist, wird niemals zum Taler, wenn er auch schimmert wie ein Goldstück«, sagte die Bürgermeisterin. Er durfte nicht bleiben, sie wollte ihn los sein. Da ihm nichts anderes übrig blieb, schickte ihn der Bürgermeister mit einem Kaufmann fort, der mit einem Schiff gekommen war, dort sollte er Schiffsjunge werden. Zu seiner Frau sagte er, den jungen hätte er verkauft gegen Tabak.

Aber bevor er reiste, brach das Bürgermeistertöchterlein ihren Ring in zwei Stücke und gab ihm die Hälfte mit, damit sie ihn erkennen könne, wenn sie sich wieder begegnen würden. - So fuhr das Schiff davon und der Junge kam in eine Stadt, weit draußen in einem fremden Land. Dorthin war ein Priester gekommen, der so gut predigte, daß alle ihn hören wollten, und am Sonntag wollte die Schiffsbesatzung auch den Prediger hören. Der Junge blieb allein zurück im Schiff. Während er sich daran machte, das Essen für alle zu bereiten, hörte er es jauchzen, weit über den Sund. Der Junge nahm das Boot und setzte über, dort stand eine alte Frau, die Hallo rief. »Ja, nun habe ich hier schon hundert Jahre gestanden und Hallo gerufen und gejauchzt, denkt Ihr, es hätte mich ein Mensch bisher gehört? Der erste, der mich hörte, warst du, und nun sollst du deinen Lohn dafür bekommen, daß du mich übergesetzt hast«, sagte sie. Der Junge mußte ihr folgen zu ihrer Schwester, die in einem Berge wohnte ganz dicht dabei, dort sollte er um das alte Tuch bitten, das auf dem Schrankbett lag. Ja, als sie nun dorthin kamen, und die alte Frau dort zu wissen bekam, daß er es war, der ihrer Schwester über den Sund geholfen hatte, sagte sie, so müsse er bekommen, was er wolle.

»Ich will nichts anderes haben als das alte Tuch, welches auf dem Schrankbett liegt«, sagte der Junge. »Das hast du nicht aus dir selbst«, sagte die Schwester.

»Nun fahre ich zum Schiff zurück und koche Sonntagsessen für die Kirchenleute«, sagte der Junge. »Eil dich nicht«, sagte die alte Frau, »das wird sich selbst kochen, während du weg bist. Komm mit mir, du sollst noch mehr Lohn bekommen. Ich habe hundert Jahre am Sund gestanden und gejuchzt und gerufen, aber niemand hat mich gehört außer dir.« Er solle mit zu der anderen Schwester kommen. Dort solle er bitten, ob er das alte Schwert bekommen könne.

Das war solch ein Schwert, das man in die Tasche stecken konnte, da



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wurde es zu einem Messer, doch zog man es heraus, so wurde es zu einem langen Schwert. Hieb man mit der schwarzen Schneide zu, so fiel alles tot um, wechselte man auf die weiße, so wurde alles wieder lebendig.

Ja, als sie hinkamen und die alte Frau wissen ließ, daß er es war, der ihr über den Sund geholfen hatte, sollte er nun den Fährmannslohn erhalten, er könne haben, was er wolle. »Ach, ich will nichts anderes haben als das alte Schwert, das oben auf dem Schranksims liegt«, sagte der Junge. »Das hast du nicht aus dir selbst«, sagte die Alte.

»Komm mit mir«, sagte die andere; »ich stand an dem Sund und rief und jauchzte hundert Jahre lang, und niemand hat mich gehört und ist gekommen, nur du; du sollst mehr Lohn haben, komm mit mir zu der dritten Schwester. Dort sollst du um das alte Gesangbuch bitten, mit dem steht es so: wenn jemand krank ist und du singst einen Psalm, der zu der Krankheit paßt, so wird der Kranke wieder gesund.« Ja, als sie nun dort waren und die dritte Alte hörte, daß er ihrer Schwester geholfen hätte, über den Sund zu kommen, sollte er auch da seinen Fährlohn haben, er könne bekommen, was er wolle. »Ach, ich will nichts anderes haben als das alte Psalmenbuch der Großmutter«, sagte der Junge. »Das hast du nicht aus dir selbst«, sagte die Alte.

Als er zum Schiff zurückkam, waren die Kirchgänger noch nicht da. Da prüfte er das Tuch und breitete nur einen kleinen Zipfel aus, denn er wollte zuerst sehen, was es tauge, bevor er es auf den großen Eßtisch breiten würde; ja, da stand zu essen, prächtig und reichlich, und zu trinken gab es auch genug. Er nahm nur eine Kostprobe und das andere gab er den Hunden, soviel sie nur fressen konnten.

Als die Kirchgänger nun an Bord kamen, sagte der Schiffer: »Warum hast du den Hunden so viel zu fressen gegeben, die sind ja aufgeblasen wie die Rollwürste und faul wie die Säue.« »Ach, ich gab ihnen einen Knochen«, sagte der Junge. »Das ist gut von dir, Junge, daß du auch an die Hunde denkst«, sagte der Schiffer. Nun breitete der Junge das Tuch aus und sogleich standen die herrlichsten Speisen und Getränke darauf, so daß sie so gut lebten wie nie zuvor.

Als der Junge wieder allein mit den Hunden war, wollte er das Schwert auch ausprobieren. Er hieb zu mit der schwarzen Schneide, da fielen sie tot aufs Deck nieder, aber als er es drehte auf die weiße Schneide, lebten sie wieder und wedelten mit den Schwänzen ihrem Spielkameraden zu. Aber das Buch, das konnte er nicht ausprobieren.

Nun segelten sie wieder weiter, lange Zeit, bis sie in einen Sturm kamen, der viele Tage andauerte, sie wurden geworfen und getrieben,



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sodaß sie nicht mehr wußten, wo sie waren. Schließlich legte sich der Sturm und sie kamen zu einem Land, ganz weit draußen, das keiner kannte. Aber dort herrschte große Trauer, denn die Königstochter war todkrank. Der König kam hinab zum Schiff und fragte, ob niemand da sei, der sie wieder gesund machen könne. Nein, hier sei niemand an Bord, der das könne, sagten diejenigen, die auf Deck waren. »Sind da nicht noch mehr Menschen in dem Schiff?« sagte der König. »Ja, ein kleiner armseliger Küchenjunge«, sagten sie. »Laßt ihn auch heraufkommen«, sagte der König. Der Junge meinte, er könnte die Königstochter gesund machen. Da wurde der Schiffer so bös und wild, als er das hörte, er rannte im Kreis herum wie ein Mistkäfer im Teerfaß, er meinte, der Junge hätte sich vielleicht etwas ausgedacht, aber es wäre nicht der Wert, auf solchen Kinderkram zu hören. Aber der König sagte: »Die Weisheit kommt mit den Jahren, und das Kind ist doch nun erwachsen, wenn er gesagt hat, er könne das, dann soll er es versuchen«, da wären manche, die hätten etwas gewagt, obgleich sie früher gefehlt hätten. Er nahm ihn mit zu seiner Tochter, und der Junge sang den Psalm das erste Mal, da konnte die Königstochter die Arme heben, er sang ihn noch einmal, da konnte sie im Bett aufrecht sitzen, und als er ihn das dritte Mal gesungen hatte, da war die Königstochter gesund.

Der König war so glücklich, daß er ihm die Hälfte seines Reiches geben wollte und die Tochter dazu. Ja, Land und Reich, da könne er gern die Hälfte gebrauchen und er danke vielmals dafür, aber er hätte sich einer anderen versprochen, sagte er, sodaß er die Königstochter nicht nehmen könne. So blieb er im Lande und bekam die Hälfte des Reiches. Aber als eine Zeit vergangen war, brach Krieg aus. Der Junge mußte mit in den Kampf ziehen, und er schonte nicht die schwarze Schneide seines Schwertes, das kann man sich denken. Das Kriegsvolk der Feinde fiel wie die Fliegen und der König gewann. Aber nun gebrauchte er die weiße Schneide, da lebten sie alle zusammen wieder auf und ergaben sich dem König, der gab ihnen die Erlaubnis, das Leben zu nützen. Aber da es so viele waren, war es schlecht mit dem Essen bestellt, und der König wollte ihnen so gerne reichlich Essen und Trinken geben. So mußte der Junge sein Tuch wieder gebrauchen, und so entbehrten sie nichts, weder Essen noch Trinken.

Als er nun wieder eine Zeit beim König war, zog es ihn zur Bürgermeisterstochter. Er rüstete vier Kriegsschiffe aus und segelte damit los. Und als er zu dem Hafen der Stadt kam, wo der Bürgermeister wohnte, schoß er, und hunderte von Fensterscheiben zerbrachen in der Stadt. An Bord dieser Schiffe war es so prächtig und stattlich wie bei einem



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Könige, und er selbst hatte Gold an jedem Saum und sah sehr prächtig aus. Es dauerte nicht lang, so kam der Bürgermeister herab und fragte, ob der fremde Herr wohl so gut wäre, bei ihnen zu speisen. Ja, das wollte er. Er kam hinauf zur Bürgermeisterin, und da saß er zur Seite der Tochter und der Frau Bürgermeister. Sie saßen und plauderten und aßen und tranken und lebten gut, und der Junge lauerte auf einen günstigen Augenblick, in dem er den halben Ring in das Glas der Tochter werfen konnte. Sie verstand sofort, was gemeint war, brauchte einen Vorwand, um vom Tisch aufzustehen und setzte den halben Ring draußen zusammen mit ihrer Ringhälfte.

Die Mutter merkte, daß etwas geschehen war und schlich hinterher, so schnell sie konnte. »Weißt du, wer das ist da drinnen, Mutter?« sagte die Tochter. »Nein«, sagte die Bürgermeisterin. »Das ist der, den Vater für Tabak verkaufte«, sagte sie. In dem Augenblick wurde die Frau ohnmächtig und fiel auf den Fußboden. Da kam auch der Bürgermeister dazu, und als er hörte, wie alles zusammenhing, wurde ihm auch nicht leichter. »Bekommt keinen Schrecken«, sagte der Tabaksjunge; »ich bin nur gekommen, um das kleine Mädchen zu holen, welches ich auf dem Schulweg geküßt habe«, sagte er. Und zur Bürgermeistersgattin sagte er: »Du sollst niemals verachten armer Leute Kinder. Man kann nie wissen, was einmal aus ihnen wird, wenn Kinder mündig werden; und die Weisheit kommt mit dem Wachsen.«


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