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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Der siebente Vater im Haus

Es war einmal ein Mann, der war unterwegs auf einer Wanderung. Nach langer Zeit kam er zu einem großen und schönen Bauernhof. Es war ein so prächtiger Herrenhof, daß er beinah aussah wie ein Schloß. »Hier werde ich bleiben und mich ausruhen«, sagte er zu sich selbst, als



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er durch das Hoftor trat. Dicht dabei stand ein alter Mann mit grauem Haar und grauem Bart und hackte Holz. »Guten Abend, Vater«, sagte der Wandersmann, »könnt ihr mich wohl über Nacht behalten?« »Ich bin nicht der Vater im Hause«, sagte der Alte, »geh in die Küche hinein und sprich mit meinem Vater.«

Der Wandersmann ging in die Küche hinein. Dort traf er einen Alten mit schlohweißem Haar und Bart, der kniete vor dem Herd und blies das Feuer an. »Guten Abend, Vater«, redete der Mann ihn an, »könnt ihr mich heut Nacht wohl beherbergen?« - »Ich bin nicht der Vater im Hause«, erwiderte der Alte, »aber geh in die Stube und frage meinen Vater, der sitzt dort am Tisch!« Der Mann ging hinein und fragte den Greis, der dort am Tische saß und in einem großen Buche las. »Guten Abend, Vater, könnte ich wohl bei euch übernachten?« - »Ich bin nicht der Vater im Hause. Geh und sprich mit meinem Vater, der dort im Lehnstuhl sitzt.« - Da saß wahrhaftig ein noch kleineres Männchen, das war ganz bucklig und verschrumpelt und runzlig wie eine getrocknete Birne. Er war gerade dabei, eine Pfeife zu stopfen, aber seine Hände zitterten so, daß er sie kaum halten konnte. »Guten Abend, Vater«, sagte der Wandersmann wieder, »könnt ihr mich heute Nacht beherbergen?« - »Da mußt du meinen Vater fragen«, entgegnete das Männchen, »denn ich bin nicht der Vater im Hause. Geh hinüber zum Bett, da liegt er!« Als der Wanderer sich übers Bett beugte, lag da ein uraltes Männchen, das war ganz kahl und seine Haut schien völlig vertrocknet, und nichts schien lebend an ihm als ein paar große Augen. »Guten Abend, Vater, könnt ihr mich wohl über Nacht behalten?« - »Ich bin nicht der Vater im Hause«, hauchte der mit den großen Augen, »aber geh und sprich mit meinem Vater, der dort in der Wiege liegt!« Ja, der Mann ging hin zur Wiege, da lag ein uraltes Männchen drin, das war so zusammengeschrumpft, daß es nicht größer war als ein neugeborenes Kind. »Guten Abend, Vater!« sagte der Mann, dem allmählich bange wurde, denn an dem Kleinen war kaum ein Lebenszeichen zu bemerken. »Wollt ihr mir eine Unterkunft geben zur Nacht?« Kaum verständlich murmelte der uralte Greis: »Ich bin nicht der Herr im Hause, sprich mit meinem Vater, der hängt dort im Horn an der Wand.« Der Mann suchte an den Wänden entlang, endlich entdeckte er das Horn. Was aber darin lag, war nicht mehr als eine Hülse, die einem Menschenantlitz glich. Da bekam es der Mann mit der Angst zu tun und schrie: »Guten Abend, Vater, kann ich bei euch übernachten?« Da zirpte es in dem Horn wie eine kleine Meise: »Ja, mein Kind!« Da atmete der Mann erleichtert auf, aber der Alte im Horn wollte erst



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noch wissen, woher er komme und wo er zu Hause sei. »Von Selgjord«, antwortete der Mann. »Laß mich sehen«, piepste der Mann im Horn, »ob die Männer dort noch so stark sind wie in alten Tagen. Reich mir deine Hand und laß mich fühlen, ob du noch Mark in den Knochen hast!« Der Mann streckte die Hand aus, da gab ihm der am Tisch ein Zeichen, er solle statt seiner Hand dem Alten eine Eisenstange reichen, die dort in der Ecke stand. Er tat es. Da preßte der Alte die Stange so fest zusammen, daß Wasser daraus tropfte. »Ich sehe, du hast noch Mark in den Fingern«, sagte er, »und doch ist es nichts als Schafsmilch im Vergleich zur Stärke deiner Landsleute in alten Zeiten!« Und er erzählte dem Mann, er heiße Skaane und habe einst die Kirche in Selgjord für den heiligen Olaf gebaut. Aber die leidige »Schellkuh«, so nannte er die Glocke, die dann in die Kirche kam, habe ihn vertrieben. »Aber nun setz dich«, sagte er, »iß und trink und ruh dich aus!«

Da kam ein Tisch in die Stube gefahren, der war mit den köstlichsten Gerichten gedeckt, und Met, Bier und Branntwein dabei. Und als er gegessen und getrunken hatte, kam ein Bett herein mit Renntierfellen, da war der müde Mann glücklich und schlief.

Als er am anderen Morgen vors Hoftor kam, fand er sein Pferd dort angebunden. Er stieg auf, aber als er ein Stück weit geritten war und sich umschaute, war der prächtige Hof verschwunden. Da begriff der Mann, daß er bei Trollen zu Gast gewesen war, und ritt schnell und eilte, daß er nach Hause kam.


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