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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Die drei Schwestern der Mutter

Es war einmal ein armer Mann, der wohnte in einer Hütte weit oben in den Bergen und lebte von der Jagd. Er hatte eine einzige Tochter, die war schön und freundlich. Die Mutter war schon lang gestorben.



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Als das Mädchen halberwachsen war, sagte sie, daß sie nun zu den anderen Menschen gehen und lernen wolle, selbst ihr Brot zu verdienen. »Ja, meine Tochter«, sagte der Vater, »genau besehen hast du bei mir nichts anderes gelernt, als Vögel zu rupfen und zu braten. Trotzdem kannst du versuchen, dein Brot selbst zu verdienen.«

Also ging das Mädchen fort und wollte um Dienste bitten. Als sie eine Weile gegangen war, kam sie zum Königshof. Dort blieb sie, und die Königin mochte sie so gut leiden, daß die anderen Diener neidisch auf sie wurden. Sie hatten sich ausgedacht, der Königin zu sagen, daß dies Mädchen damit geprahlt hätte, sie könne ein Pfund Flachs in vierundzwanzig Stunden spinnen, denn die Königin liebte alle Art Handarbeit. »Ja, wenn du das gesagt hast, so mußt du es auch tun«, sagte die Königin, «du kannst sogar etwas länger Zeit dazu brauchen.« Das arme Mädchen traute sich nicht zu sagen, daß sie noch niemals gesponnen hätte, sondern sie bat nur um eine Kammer ganz für sich allein. Die bekam sie auch, darin standen Spinnrad und Flachs bereit. Da saß sie nun und weinte und wußte sich keinen Rat. Sie schob das Spinnrad von sich, drehte und wendete es und wußte nicht, wie sie es gebrauchen sollte, denn sie hatte vorher niemals ein Spinnrad gesehen.

Aber während sie so saß, kam auf einmal ein altes Weib zu ihr. »Was fehlt dir, mein Kind?«fragte sie.

»Ach, es nützt ja nichts, wenn ich es dir auch sage«, antwortete das Mädchen, »du kannst mir doch nicht helfen.«

»Wer weiß«, sagte die Frau, »vielleicht kann ich doch Rat schaffen.«

Das Mädchen dachte bei sich, ich kann es ihr ja gern sagen, und so erzählte sie, daß die anderen Diener das Gerücht verbreitet hätten, sie könne ein Pfund Flachs in vierundzwanzig Stunden spinnen. »0, ich Arme«, sagte sie, »ich habe noch nie ein Spinnrad gesehen und soll trotzdem in einem Tag und einer Nacht soviel spinnen.«

»Das ist doch ganz gleich, mein Kind«, sagte die Frau, »willst du mich an deinem Ehrentage als ,Schwester deiner Mutter' begrüßen, so will ich für dich spinnen, du kannst inzwischen weggehen und dich schlafen legen.« - Ja, das wollte das Mädchen gerne, und so ging sie fort und legte sich nieder.

Am Morgen, als sie aufwachte, lag aller Flachs gesponnen auf dem Tisch. Und der war so fein gesponnen, noch nie hatte sie so gleichmäßig schönes Garn gesehen. Die Königin freute sich über das schöne Garn, das sie bekommen hatte, und mochte das Mädchen nun noch lieber als vorher. Aber die anderen wurden wieder neidisch und dachten sich aus, der Königin zu erzählen, sie habe gesagt, sie könne das Garn, das



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sie gesponnen habe, in vierundzwanzig Stunden verweben. Die Königin meinte wieder, wenn sie das gesagt habe, so müsse sie es auch tun, sie könne auch gern ein wenig länger brauchen. Das Mädchen getraute sich nichts zu sagen, sie bat nur um eine Kammer für sich allein, so würde sie es wohl versuchen.

Da saß sie nun wieder und weinte und klagte und wußte nicht, was sie machen sollte. Da kam wieder ein altes Weib herein und fragte:

»Was fehlt dir, mein Kind?«

Das Mädchen wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus, aber schließlich erzählte sie, worüber sie so traurig war.

»Das ist doch ganz gleich«, antwortete die Frau. »Willst du mich an deinem Ehrentage ,Schwester deiner Mutter' nennen, so werde ich für dich weben! Du kannst inzwischen weggehen und dich schlafen legen.« Das ließ sich das Mädchen nicht zweimal sagen, sie ging weg und legte sich schlafen.

Als sie erwachte, lag der Stoffballen auf dem Tisch und war so fein und dicht gewebt, wie man nur immer weben konnte. Sie nahm das Gewebte und ging damit hinunter zur Königin, und die war sehr glücklich über das schöne Gewebe, das sie bekommen hatte, und nun mochte sie das Mädchen noch lieber als vorher. Die anderen wurden indessen noch eifersüchtiger auf sie und dachten an nichts anderes mehr, als etwas gegen sie zu finden. Schließlich erzählten sie der Königin, daß sie sich gerühmt habe, sie könne in vierundzwanzig Stunden aus dem Gewebe Hemden nähen. Ja, da ging es genau wie vorher. Das Mädchen getraute sich nicht zu sagen, daß sie nicht nähen könne. Sie kam ganz allein in eine Kammer und saß dort und weinte und klagte. Aber wieder kam ein altes Weib zu ihr und versprach, für sie alles zu nähen, wenn das Mädchen sie nur an ihrem Ehrentage »Schwester der Mutter« nennen wollte. Das versprach sie gerne, und dann tat sie, was die Frau ihr sagte, ging fort und legte sich schlafen. Am Morgen, als sie erwachte, fand sie einen Stoß Hemden, die aus dem Gewebe genäht waren. So schöne Hemden hatte sie noch nie gesehen, und die Hemden waren mit Namen bestickt und vollkommen fertig.

Als die Königin diese Arbeit sah, war sie so glücklich, daß sie immer wieder die Hände zusammenschlug. »Eine so schöne Arbeit habe ich noch nie gesehen«, sagte sie, und seitdem war ihr das Mädchen so lieb, als ob es ihr eigenes Kind wäre.

»Wenn du den Prinzen haben willst, so kannst du ihn bekommen«, sagte sie zu dem Mädchen, »denn du brauchst keine Arbeit mehr aus dem Haus zu geben, du kannst alles selbst: nähen, spinnen und weben.«



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Weil das Mädchen so schön war und sie dem Prinzen gefiel, wurde bald Hochzeit gehalten. Als der Prinz sich jedoch mit ihr zum Brauttisch gesetzt hatte, kam ein altes, häßliches Weib herein mit einer Nase - die war gewiß drei Ellen lang.

Die Braut stand auf, verneigte sich und sagte: »Guten Tag, Schwester meiner Mutter!«

»Ist das die Tante meiner Braut?« fragte der Prinz. Ja, das sei sie.

»So muß sie sich wohl mit an den Tisch setzen«, sagte der Prinz, aber allen, ihm selbst und den anderen, schien sie viel zu häßlich zu sein, um mit am Tisch zu sitzen.

Aber da geschah es, daß wieder ein altes, häßliches Weib hereinkam, das so dick und breit war, daß es sich mit Mühe und Not gerade noch durch die Tür quetschen konnte. Sofort stand die Braut auf und begrüßte sie: »Guten Tag, Schwester meiner Mutter!« Und der Prinz fragte wieder, ob das die Tante seiner Braut sei. Beide antworteten ja, und der Prinz sagte, wenn es so sei, so solle sie sich nur auch mit an den Tisch setzen.

Aber kaum hatte sie sich gesetzt, so kam wieder ein altes, häßliches Weib herein mit Augen, so groß wie Teller, und so rot und rinnend, daß es ganz gräßlich anzusehen war. Die Braut stand wieder auf und grüßte: »Guten Tag, Schwester meiner Mutter!« und der Prinz bat auch sie, sich mit an den Tisch zu setzen, aber er war gar nicht glücklich darüber und dachte bei sich selbst: »Gott bewahre mich vor den Tanten meiner Braut!«

Als sie eine Weile so gesessen hatten, konnte er es nicht mehr aushalten und fragte: »Warum in aller Welt hat meine Braut, die doch so schön ist, so häßliche und mißgestaltete Tanten?«

»Das will ich dir sagen«, antwortete die eine. »Ich war genauso schön wie deine Braut, als ich in ihrem Alter war. Daß ich jetzt eine so lange Nase habe, das kommt daher, daß ich immer dagesessen, genickt und gesponnen habe, da hat sich meine Nase in die Länge gezogen, wie du sie jetzt siehst.«

»Seitdem ich jung war, habe ich gesessen und den Webebalken vor- und zurückgeschlagen«, sagte die andere, »und davon bin ich hinten so dick und geschwollen geworden, wie du mich jetzt siehst«.

Und die dritte sagte: »Als ich noch ganz klein war, habe ich schon gesessen und genäht, Tag und Nacht! Davon sind meine Augen so häßlich und rot geworden, und nun kann man nichts mehr daran ändern. «

»Ja so!« sagte der Prinz, »es ist gut, daß ich das weiß. Wenn ein 1



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Mensch so häßlich und mißgestaltet davon wird, so soll meine Frau niemals mehr spinnen oder weben oder nähen, in ihrem ganzen Leben nie mehr!«


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