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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Die Hexenbraut

Es war einmal ein Witwer, der hatte von seiner ersten Frau einen Sohn und eine Tochter. Beides waren liebe Kinder, welche sich herzlich zugetan waren. Nach einiger Zeit verheiratete sich der Witwer wieder und zwar mit einer Witwe, die eine Tochter von ihrem ersten Mann hatte. Die aber war häßlich und schlimm wie ihre Mutter. Von der Stunde an, in der die neue Frau ins Haus kam, hatten die Geschwister weder Ruhe noch Frieden mehr. Und so dachte der Knabe, es sei wohl das Beste, hinaus in die weite Welt zu ziehen und zu versuchen, sich sein Brot selbst zu verdienen.

Als er eine Weile gewandert war, kam er zum Königshof. Dort nahm er beim Stallmeister Dienste an, und weil er flink und geschickt war, sahen die Pferde, die er zu versorgen hatte, alle wohlgenährt und blank aus, daß sie nur so schimmerten.

Aber der Schwester, die zu Haus geblieben war, ging es schlecht und schlimm. Wo sie ging und stand waren Stiefmutter und Stiefschwester hinter ihr her, schalten, quälten und hetzten sie, nicht eine Stunde Ruhe gönnten sie ihr mehr. Die schwersten, niedrigsten Arbeiten mußte sie verrichten, bekam Scheltworte spät und früh und wenig zu essen obendrein.

Eines Tages, als sie zum Bach nach Wasser geschickt wurde, tauchte aus dem Wasserspiegel ein häßliches unheimliches Haupt hervor.

»Wasche du mich«, sagte das Haupt.

»Ja, gerne will ich dich waschen«, sagte das Mädchen, und sie begann das häßliche Gesicht zu schrubben und zu waschen, obgleich ihr die Arbeit grausig erschien.



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Als sie das gemacht hatte, tauchte ein anderes Haupt aus dem Wasserspiegel auf, das war noch häßlicher.

»Bürste du mich«, sagte das Haupt.

»Ja, gern will ich dich bürsten«, sagte das Mädchen und mühte sich mit den Haarstoppeln, das war keine lustige Arbeit, das kann man sich denken.

Als sie auch diese Arbeit vollbracht hatte, tauchte ein noch häßlicheres, unheimlicheres Haupt aus dem Wasserspiegel auf.

»Küsse du mich«, sagte das Haupt.

»Ja, ich werde dich küssen«, sagte die Tochter des Witwers und sie tat es auch, aber es war das Schlimmste, was sie jemals im Leben hatte tun müssen.

Da sprach das eine Haupt mit dem anderen und sie fragten einander, was sie mit derjenigen machen sollten, die so gut und weise war.

»Sie soll das schönste Mädchen werden, heller als der lichte Tag«, sagte das erste Haupt.

»Jedesmal, wenn sie sich bürstet, soll Gold aus ihren Haaren tropfen«, sagte das andere Haupt.

»So oft sie spricht, soll Gold aus ihrem Munde fallen«, sagte das dritte Haupt.

Als nun die Tochter des Witwers heim kam und so schön wie der lichte Morgen war, wurden Stiefmutter und Stiefschwester noch ärger. Noch schlimmer wurde es, als sie zu sprechen begann und sie sehen mußten, wie Goldstücke aus ihrem Munde fielen. Die Stiefmutter wurde so wütend und toll, daß sie das arme Mädchen in den Schweinestall jagte. Dort solle sie mit ihrer Goldpracht bleiben, aber ins Haus dürfe sie keinen Fuß mehr setzen.

Es dauerte nicht lang, so schickte die Stiefmutter ihre eigene Tochter zum Bach, um Wasser zu holen. Als sie mit ihren Kübeln da ankam, tauchte das erste Haupt aus dem Wasser auf.

»Wasche du mich«, sagte es.

»Der Schinder wasche dich«, antwortete die Tochter der Witwe. Da tauchte das zweite Haupt auf.

»Bürste du mich«, sagte das Haupt.

»Der Teufel bürste dich«, antwortete die Tochter der Witwe. Aus dem tiefsten Grunde tauchte auch noch das dritte Haupt auf.

»Küß mich, du«, sagte es.

»Der Teufel küsse dich, du Schnauzenmaul«, sagte das Mädchen.

Da sprachen die Häupter wieder und fragten einander, wie es der ergehen solle, die so schlecht und dumm gehandelt hatte. Sie beschlossen,



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daß diejenige eine vier Ellen lange Nase haben solle, eine drei Ellen lange Schnauze und einen Hexenbüschel mitten auf der Stirn, und jedesmal, wenn sie spricht, soll Asche aus ihrem Munde fallen.

Als sie mit den Wasserkübeln wieder heim an die Haustür kam, rief sie nach der Mutter, die im Haus war.

»Mach auf«, rief sie.

»Offne dir selbst, meine Tochter«, sagte die Mutter.

»Ich kann die Türklinke nicht erreichen wegen meiner Nase«, sagte die Tochter. Als die Mutter herauskam und ihre Tochter erblickte, kann man sich ja denken, wie sie erschrak und wie sie schrie und klagte, aber Nase und Schnauze wurden nicht kleiner davon. -

Der Bruder der schönen Tochter, welcher am Königshof diente, hatte seine Schwester gemalt, und dieses Bild hatte er mitgenommen und jeden Morgen und jeden Abend lag er auf den Knien vor diesem Bild und betete zum Herrgott für seine Schwester, so sehr liebte er sie.

Die anderen Stallburschen hatten das gehört, und so schauten sie eines Tages durchs Schlüsselloch in seine Kammer, und da sahen sie, daß er vor einem Bilde auf den Knien lag. Überall erzählten sie nun, daß der Junge jeden Morgen und jeden Abend vor einem Götzenbilde auf den Knien läge, und schließlich gingen sie auch zum König und baten ihn, doch einmal durchs Schlüsselloch in die Kammer des Jungen hineinzuschauen, da würde er es selbst sehen können. Der König wollte es nicht glauben, aber nach einiger Zeit überredeten sie ihn doch, und er schlich sich auf den Zehen zur Tür und guckte durchs Schlüsselloch. Ja, da sah er den Burschen tatsächlich auf den Knien liegen, und das Bild hing an der Wand, und die Hände hatte er gefaltet.

»Mach auf«, rief der König. Aber der Junge hörte nicht. Da rief der König zum zweiten Mal, aber der Junge betete so innig für seine Schwester, er hörte noch immer nicht.

»Mach auf, befehle ich«, rief der König wieder, »ich bin es, der hinein will.« Da sprang der Junge zur Tür und schloß auf, aber in der Eile hatte er vergessen, das Bildnis zu verbergen. Als der König nun eintrat und das Bild erblickte, blieb er wie gebannt stehen, konnte sich nicht mehr vom Fleck rühren, so wunderschön erschien ihm das Bild.

»So ein schönes Mädchen gibt es in der ganzen Welt nicht«, sagte der König. Der Junge erzählte, das sei seine Schwester, die er gemalt hätte, und wenn sie nicht noch schöner sei als dieses Bild, so sei sie bestimmt nicht häßlicher. »Ja, wenn sie so schön ist, so will ich sie zu meiner Königin machen«, sagte der König. Er befahl dem Jungen, heim zu reisen und sie in fliegender Eile herzuholen, und er solle sich ja unterwegs nicht



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aufhalten. Der Junge versprach, sich zu beeilen so schnell er könne, und so verließ er den Königshof.

Als der Bruder nach Haus kam, um seine Schwester zu holen, da wollten Stiefmutter und Stieftochter auch mit. So reisten sie alle zusammen. Die schöne Schwester hatte eine kleine Truhe mitgenommen, in der sie ihr Gold aufbewahrte, und einen Hund, der hieß Liliekaveirn. Diese zwei Dinge waren ihr ganzes Erbe von ihrer verstorbenen Mutter. Erst reisten sie ein Stück zu Lande, dann mußten sie über die See. Der Bruder setzte sich hinten ans Steuer, die Stiefmutter und die Stiefschwester saßen in der Mitte, und die schöne Schwester war mit dem Hund und mit der Truhe vorn im Schiff. So segelten sie eine gute Weile. Nach einiger Zeit kam ein Strand in Sicht.

»Wo ihr den weißen Strand seht, werden wir an Land gehen«, sagte der Bruder und zeigte hinaus über die See.

»Was sagte mein Bruder«, fragte die schöne Schwester.

»Er sagt, du sollst deine Truhe über Bord werfen«, antwortete die Stiefmutter. »Ja, wenn mein Bruder das sagt, so muß ich es wohl tun«, sagte die Schwester und warf die Goldtruhe über Bord.

Als sie eine Weile gesegelt waren, wies der Bruder wieder über See. »Dort seht ihr das Schloß, das wir erreichen sollen.«

»Was sagte mein Bruder«, fragte die schöne Schwester.

»Nun sagte er, du sollst deinen Hund in die See werfen«, antwortete die Stiefmutter.

Die Schwester weinte und war betrübt, denn Lillekaveirn war das Liebste, was sie auf der Welt hatte, aber endlich warf sie ihn doch über Bord. »Wenn mein Bruder es sagt, muß ich es wohl tun, aber Gott weiß, wie ungern ich dich hinauswerfe, Lillekaveirn«, sagte sie.

Sie segelten wieder ein gutes Stück. »Da siehst du den König kommen, um dich zu empfangen«, sagte der Bruder und zeigte zum Strand.

»Was sagte mein Bruder«, fragte seine Schwester wieder.

»Nun sagte er, du sollst dich beeilen und dich selbst hinauswerfen«, sagte die Stiefmutter. Sie jammerte und weinte, aber wenn ihr Bruder das sagte, so müßte sie es tun, und so sprang sie hinaus in die See.

Als sie nun zum Königshof kamen und der König die häßliche Braut erblickte mit vier Ellen langer Nase und drei Ellen langer Schnauze und dem Hexenbüschel auf der Stirn, war er ganz erschrocken. Doch alles war zum Hochzeitsfest bereitet, man hatte gebraut und gebacken und die Hochzeitsgäste saßen und warteten, und so mußte er sie nehmen, wie sie war. Aber wütend und zornig war er, das konnte ihm niemand verdenken, und dafür ließ er den Bruder in den Schlangengraben werfen.



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Am ersten Donnerstagabend danach kam eine herrliche Jungfrau in die Küche des Königsschlosses und bat das Küchenmädchen, das sich dort schlafen gelegt hatte, so herzlich darum, ihr eine Bürste zu leihen. Die bekam sie auch, und als sie damit ihr Haar bürstete, tropfte das Gold nur so hernieder. Ein kleiner Hund war mit ihr gekommen und zu dem sagte sie: »Geh hinaus, Lillekaveirn, und sieh, ob es nicht bald tagt.« Das sagte sie dreimal. Und das dritte Mal, als sie den Hund aussandte, begann das Morgengrauen. Da mußte sie fort. Aber indem sie schon ging, sprach sie noch:

»Hu, du böse Hexenbraut,
die dem König angetraut,
0, ich wein am Meeresgrund,
Bruder weint zur gleichen Stund
im Schlangengraben.

Nun komme ich noch zweimal und dann nimmermehr.«

Am Morgen erzählte das Küchenmädchen alles, was sie gesehen und gehört hatte. Und der König sagte, am nächsten Donnerstagabend wolle er selbst in der Küche wachen und sehen, ob das wahr sei. Als es dunkelte, kam er in die Küche hinunter zu dem Küchenmädchen. Aber obgleich er sich die Augen rieb und versuchte, wach zu bleiben, es half alles nicht, denn die Häßliche mit dem Hexenbüschel trällerte und sang, sodaß ihm die Augen zufielen, und als die schöne Jungfrau kam, schlief er so fest, daß er schnarchte. Genau wie beim ersten Mal bekam sie eine Bürste geliehen und bürstete damit ihr Haar, sodaß Gold nur so hernieder tropfte. Auch den Hund sandte sie dreimal aus, und ehe der Tag anbrach, ging sie, und dabei sagte sie dieselben Worte, wie das vorige Mal:

»Hu, du böse Hexenbraut,
die dem König angetraut,
0, ich wein am Meeresgrund,
Bruder weint zur gleichen Stund
im Schlangengraben.

Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr«, sagte sie.

Am dritten Donnerstagabend wollte der König wieder wachen. Diesmal setzte er zwei Männer neben sich, unter jeden Arm einen, die sollten ihn wachrütteln und ihn kneifen, jedesmal wenn er schlafen wollte. Und zwei Männer setzte er neben die Häßliche mit dem Hexenbüschel. Aber als es spät am Abend war, begann die Häßliche zu trällern und zu singen, sodaß sich seine Augen langsam schlossen und sein Haupt zur Seite sank.



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Nun kam die schöne Jungfrau, lieh sich die Bürste und begann ihr Haar zu bürsten, sodaß Gold nur so tropfte. Sie sandte auch den Hund hinaus, um nachzusehen, ob es nicht bald tage, und das tat sie dreimal. Beim dritten Mal begann es zu dämmern, und da sagte sie:

»Hu, du böse Hexenbraut,
die dem König angetraut,
0, ich wein am Meeresgrund,
Bruder weint zur gleichen Stund
im Schlangengraben.

Nun komm ich niemals mehr«, sagte sie und wollte gehen. Aber die zwei Männer, die den König unter den Armen hielten, nahmen seine Hände und drückten ihm ein Messer in die Faust, und so bekam sie einen Schnitt in den kleinen Finger und das tropfende Blut erweckte sie wieder zu den Lebenden. So war die rechte Braut erlöst und der König erwachte. Sie erzählte ihm, wie alles zugegangen war und wie die Stiefmutter und ihre Tochter ihn betrogen hätten.

Sofort wurde der Bruder aus dem Schlangengraben geholt - ihm hatten die Schlangen nicht den mindesten Schaden angetan - und die Stiefmutter und ihre häßliche Tochter wurden an seiner Statt hineingeworfen.

Niemand kann beschreiben, wie glücklich der König war, daß er die häßliche Hexenbraut los war und dafür eine Königin gewann, die so schön war wie der lichte Morgen.

Nun wurde erst die richtige Hochzeit gefeiert, und von der hörte und erzählte man sich in sieben Königreichen. Der König und seine Braut fuhren zur Kirche und Lillekaveirn saß mit im Wagen. Als die Trauung vorüber war, fuhren sie wieder heim, aber was dann geschah, weiß ich nicht.


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