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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Gulifebla

Es war einmal eine Bauersfrau in Solheim im Hallingdal, die war so geizig, daß es fast nicht mehr zu beschreiben ist. Sie hungerte, Knechte und Vieh hungerten und ihre eigenen Kinder waren ganz gelbgrau vor Hunger, und wenn sie sich aus dem Vorratsraum etwas zu essen holen konnten oder wenn sie bei fremden Leuten etwas bekamen, so verschlangen sie es wie hungrige Wölfe, die acht Tage nichts gegessen hatten. Die Kinder mußten sich mit diesem Hunger abfinden, sie getrauten sich nicht mehr zu weinen, wenn sie es sah, sie getrauten sich nichts zu sagen, sonst bekamen sie das Birkenreis zu spüren, welches am Balken unter dem Dach steckte. Aber wenn sie konnten, liefen sie hinunter zur Häuslersfrau in Glittreplassen - sie hieß Ragnhild -, da weinten sie und klagten ihre Not, und Ragnhild teilte die Brocken, die sie hatte, unter sie und ihre eigenen kleinen Kinder. Aber oft hatte sie überhaupt nichts, sodaß sie und ihre Kinder hungern mußten. Sie hatte nur eine einzige Kuh, aber die hegte und pflegte sie so gut sie konnte. Manchmal im Winter zog sie oder der Mann mit einem Schlitten in die Berge und holte eine Last Moos für sie. Und die Kuh gedieh gut und gab so viel Milch, daß sie wieder einmal alle zusammen genug hatten.

Aber die Kühe der Mutter von Solheim, die hatten es nicht so gut. Zur Winterszeit bekamen sie nichts weiter als Tannenzweige und Pferdemist, und es war wie eine Hochzeit für sie, wenn sie einen Wisch Rentiermoos bekamen. Zurückgezahlt wurde es der Bäuerin beim Melken. Die Milch war so schlecht und dünn, daß man keinen Rahm darauf fand, und sie taugte zu nichts anderem als in den Brei gemischt zu werden, oder es wurde Bierkäse davon gekocht.

Die Rinder konnten nicht zu ihr sprechen, aber die Tiere schauten sie an, ja sie schauten die Bäuerin an mit großen, tiefsinnigen Augen, daß es ihr zu Herzen gehen mußte, wenn sie überhaupt eins hatte, und sie schleckten ihr die Hände mit ihren großen Zungen, wenn sie hinauf zum Viehstand kam.



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Aber im Frühling solltest du sie sehen, wenn sie herauskamen, da war nichts mehr von ihnen da als Haut und Knochen. Sie waren so gebrechlich und so abgemagert, daß die Beine sie nicht mehr tragen wollten, sie fielen hin alle Augenblicke, die frische Luft vertrugen sie gar nicht mehr, sie torkelten umeinander wie Betrunkene.

Ragnhild sagte, wie unverantwortlich es sei, so mit Mensch und Tier zu verfahren, aber die Bäuerin kümmerte sich nicht darum, denn Ragnhild war nur eine Häuslersfrau, und was sie sagte, damit brauchte sie sich nicht näher zu befassen.

Aber ein neuer Stall mußte gebaut werden, denn der alte war nahe am Zusammenfallen, so verfault war er. Er war so löchrig, daß es abwechselnd hineinregnete und die Sonne hineinschien. Sie hatte einen Zimmermann kommen lassen, der den Stall neu aufbauen sollte, und der hieß Per. Das war ein geschickter Mann, der fleißig arbeiten konnte. Und ein tüchtiger Arbeiter muß kräftige Kost haben. Aber Per bekam nur wenig und schlecht war es auch noch. Sie gab ihm nichts weiter als kleine Fische und Grütze. Per schonte die Alte nicht länger. Sie konnte kaum noch mit ihm reden, ohne daß er ihr vorhielt, wie schlimm sie sei, und er sagte es ihr immer so grob, daß sie sich kaum noch getraute mit ihm zu sprechen. Als er den Heustall einige Ellen hoch gezimmert hatte und hoch oben saß, ging die Solheimsalte eines Tages vorbei. »Du kommst voran, Per«, sagte sie. »Ach ja«, sagte er mürrisch, »ich versuche voranzukommen, aber die kleinen Fische und der schmalzlose Brei ziehen mich immer wieder herunter.« Damit meinte er, wenn er besseres Essen bekäme, ginge ihm die Arbeit auch rascher von der Hand. Eines Sonntags las und blätterte Per im Almanach. »Was prophezeit der Almanach jetzt, Per?« fragte die Alte. Sie meinte vor allem, was für eine Art Wetter zu erwarten sei. Aber Per antwortete: »Der prophezeit nichts anderes als Hering und Grütze und Grütze und Hering und Hering und Grütze.. .« Die Alte sagte nichts dazu. Per schien ihr nicht dumm zu sein, sie merkte, daß er einen bösen Mund haben konnte. Seit der Zeit knauserte sie nicht mehr ganz so schlimm mit der Kost. Das tat sie nicht etwa, weil sie einsah, daß es falsch war, sondern weil sie Angst hatte, daß Per, der durch sein Handwerk viel unter die Leute kam, schlecht über sie reden würde, weil sie so geizig war.

Als der Sommer kam und es grün und bunt von Blumen wurde und in jedem Busch die Vögel sangen, stieg die Alte von Solheim zur Sennhütte. Aber sie merkte nicht, wie gut die Blumen dufteten, sie hörte keinen Vogelgesang, denn sie selbst und die Mägde und die Hütehunde hatten genug zu tun, die verhungerten armen Tiere zusammenzuhalten.



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Daheim hatten sie alles abgenagt, die Hügel in der Koppel waren kahl gefressen, und jedesmal wenn die Tiere einen grünen Fleck sahen oder ein paar Grashalme oder frisches Laub an den Büschen, stürzten sie hin, um daran zu naschen. Die Kälbchen und Kühe rannten umher und schlugen nach hinten aus, sodaß es eine Lust war, anzusehen, wie munter sie waren. Sie konnten sich gar nicht genug freuen über die fette Bergweide.

Sie kamen spät zur Sennhütte, und als sie gerade alles versorgt hatten, kam eine Magd herein: da sei eine große fremde Ziege beim Wall, die hätte vergoldete Hörner und das Fell schimmere, als ob es aus Seide sei, sagte die Magd.

»Hat je ein Mensch solchen Unsinn gehört«, sagte die Alte und stürzte gleich hinaus, um nach der Geiß zu sehen, aber sie konnte nicht finden, daß sie vergoldete Hörner hatte, und das Fell schien ihr nicht anders zu sein als bei ihren eigenen Tieren. Aber als sie noch so stand, hörte sie einen süßen Sang weit oben in den Bergen:

»Wollen wir tauschen, du,
Gullfebla für die Kuh.«

Da wurde die Alte ganz böse, das kannst du glauben. Sie bildete sich ein, das seien Nachbarsleute, die sie ärgern und zum Narren halten wollten, weil sie so geizig war. Sie schimpfte und schrie, so eine schlechte Kuh hätte sie nicht, daß sie tauschen wolle, und wenn ihr auch ein ganzes Dutzend zottiger Ziegen geboten würden, und so jagte sie die fremde Geiß vom Wall fort, weit in das Wäldchen hinein. Da begann es zu jauchzen hoch oben in den Bergen:

»Komm heim, komm heim,
kleine Gulifebla mein,
komm heim, komm heim,
Gullfebla mein,
Gulifebla.. .«

Und dann blies es so schön auf der Lure, daß es von allen Bergen und Hügeln widertönte, bis der letzte Ton verhallte, weit weit oben in den Berggipfeln, wo der Schnee lag.

Kurz danach zog die Solheimsalte heim, und Ragnhild Glittre bekam Erlaubnis, zur Sennhütte zu gehen mit ihrer Kuh. Sie sollte dort oben bleiben und den Mädchen helfen bei der Stallarbeit. Ihr könnt euch vorstellen, daß es keine tüchtigere dafür gab als Ragnhild. Seit sie auf der Alm war, lief alles wie von selbst, und niemals bekamen sie goldenere Butter und besseren Käse, als wenn Ragnhild butterte und käste.



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Aber eines Abends, als sie und die Mägde melkten, da wurden die Tiere rein närrisch, sie stampften und schlugen aus, als ob die Viehbremsen hinter ihnen her seien, und sie wollten nicht wieder still stehen. Die große rote Kuh begann zu brüllen und auf einmal rannte sie gegen die Hecke und stieß einen häßlichen Laut aus. Zur gleichen Zeit blickte Ragnhild auf, ihr schien es zuerst, sie sähe etwas über den Hof fliegen, aber sie konnte nicht erkennen, was es war, das da so schnell flog. Für ihre Augen sah es wie ein Pelzdeckenfetzen aus.

Da, auf einmal war ein Band um den Hals von Ragnhilds Kuh gebunden. Sie machte es sofort ab, denn alle glaubten, daß die Huldren das Halsband gebunden hätten. Und das war es auch, was Ragnhild über den Zaun springen sah, das glaubte sie steif und fest.

Während die Mägde die Milch wegtrügen, hörte Ragnhild, wie jemand nach ihr rief. »Ragnhild«, sagte es. »Ja, hier bin ich«, antwortete Ragnhild.

»Wollen wir tauschen, du,
ein Zicklein für die Kuh,
Wollen wir tauschen, du,
Gulifebla für die Kuh«

sang es draußen von den Bergwänden. Ragnhild dachte, ich werde die Kuh doch verlieren, weil du ihr das Band um den Hals gebunden hast, deshalb ist es das Beste, ich sage ja und tausche.

»0 ja«, sagte sie, »ich will tauschen.«

Bevor die Sonne aufging, ganz früh, kam Ragnhild hinaus zum Wall. Da lag Gulifebla auf einem großen Stein, wie der klare Morgen selbst, mit vergoldeten Hörnern. Sie war so schön und fein, wie man noch keine gesehen hatte im ganzen Hallingdal. Und so groß war sie, beinah so groß wie eine kleine Kuh. Es war auch nicht abzustreiten, daß sie genau so viel Milch gab wie eine kleine Kuh.

Als Ragnhild von der Sennhütte wieder herunterkam, brachte sie die Geiß mit heim zu ihren Kindern, die freuten sich, denn sie bekamen Geißmilchbrei, und sie tanzten und sprangen. Eine noch größere Freude gab es, als Gullfebla eine kleine Geiß bekam, sogar eine Geiß mit goldenen Hörnern und einem Fell wie Seide. Sie bauten für beide ein kleines Haus, sammelten Laub und Borke, Tannenzweige und Moos, daß sie ihnen auch im Winter etwas davon geben konnten.

Am Tage war Gulifebla draußen im Wald, fand Laub und Borke, und am Abend kam sie heim, das Euter angefüllt mit der köstlichsten, fettesten Milch. Als es aber auf Weihnachten zu ging, bekam Gulifebla sogar zwei Zicklein, und da freuten sich die Kinder von Ragnhild



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Glittre noch viel mehr. Sie nahmen sie mit in die Stube, schmückten sie, so gut sie konnten, und wenn die Zicklein auf den Tisch kletterten oder auf den Kaminsims, oder wenn ein Tier mit allen vier Beinen auf dem Bettpfosten stand, da lachten sie und klaschten in die Hände vor Freude.

Schließlich bekam Gulifebla so viel Geißen, daß Ragnhild sie verkaufen konnte. Dafür kaufte sie sich eine Kuh und ein Pferd, denn es war die beste Ziegenrasse, die es jemals in Hallingdal gegeben hatte. Und die Kinder lebten lang und glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.


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