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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Vogel Dam

Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, die mochte er so gut leiden, daß er sie allezeit um sich haben wollte. Nur jeden



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Mittag, wenn der König schlief, gingen die Prinzessinnen hinaus spazieren.

Eines Tages, als der König sein Mittagsschläfchen hielt, blieben die Prinzessinnen auf einmal weg und kamen nicht wieder. Da befiel eine große Trauer das ganze Land, aber der König trauerte am meisten von allen. Er ließ Boten ausgehen in sein Land und in die Nachbarländer, ließ es verkünden in allen Kirchen, und alle Glocken ließ er für sie läuten im ganzen Land. Aber die Prinzessinnen waren fort und blieben verschwunden und niemand wußte, wo sie geblieben waren. Nun war es klar, ein Troll hatte sie geraubt und in den Berg entrückt. Man sprach überall darüber, in Stadt und Land, sogar in fremden Königreichen, und eines Tages drang die Kunde auch zu einem König in einem sehr sehr fernen Lande, der hatte zwölf Söhne. Als die von den zwölf Königstöchtern hörten, baten sie um die Erlaubnis, hinauszuziehen und sie zu suchen. Der König wollte die Fahrt nicht erlauben, er hatte Angst, seine Söhne nie wieder zu sehen, aber sie knieten vor dem König und baten ihn so lange, daß er sie schließlich doch ziehen lassen mußte. Er rüstete ein Schiff für sie aus, bestimmte Ritter Röd als Steuermann, der sich auf See gut auskannte, und so segelten sie eine lange Zeit umher, kamen in viele Länder, forschten, suchten und fragten nach den Prinzessinnen, doch niemand hatte etwas von ihnen gehört oder gesehen.

Es fehlten nur noch ein paar Tage, daß sie sieben Jahre mit ihrem Segelschiff unterwegs waren und suchten. Da brach ein fürchterlicher Sturm los, ein dunkles Ungewitter ließ sie nicht glauben, je wieder Land zu sehen. Sie brauchten alle ihre Kräfte, das Schiff aus dem Sturm zu retten und mußten alles daran setzen, daß der Schlaf sie nicht übermannte, so lange das Unwetter tobte. Aber als der dritte Tag sich neigte, legte sich der Sturm und augenblicklich trat eine Stille ein. So müde waren sie alle von dem harten Wetter und den vielen Mühen, daß sie sogleich fest schliefen. Nur der jüngste Königssohn hatte keine Ruhe und konnte nicht schlafen.

Wie er ruhlos hin und her so auf dem Deck des Schiffes wandert,
sieht er vor sich eine Insel. Und ein Hund springt ihm entgegen,
bellt und winselt zu dem Schiff hin. Und der Königssohn, der lockt ihn,
spricht und lockt, das Hündchen winselt. Schade, dachte da der
Jüngling,
wenn das Hündchen sterben würde, stammt vielleicht von einem
Schiffe,



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das im Sturme ging zu Grunde. Könnt ich nur das Boot aussetzen, ganz allein, ich wollt ihm helfen. Doch die andern schliefen alle. Und er wollte sie nicht wecken. Da das Wetter war so stille, dachte er, ich wills versuchen. Besser gings, als er vermutet, und er ruderte aufs Land zu, stieg hinan, griff nach dem Hunde, doch der sprang geschwind zur Seite, und so oft er greifen wollte, führte ihn der Hund landeinwärts. Ehe er es noch gewahrte, stand er vor dem großen Schlosse. Und der Hund war schnell verwandelt in die lieblichste Prinzessin. Doch davor, in einem Stuhle saß ein Mann, so fahl und häßlich, daß der Königssohn erbleichte. Du brauchst gar nicht zu erschrecken, sagte da der Mann im Stuhle, denn ich weiß, wonach du suchest. Seid ihr doch zwölf Königssöhne und ihr sucht zwölf Königstöchter, welche eines Tags verschwanden. Ja, ich weiß, wo sie geblieben: Hier im Schloß bei meinem Hausherrn, sitzen auf zwölf goldnen Stühlen, kraulen ihm seine zwölf Köpfe. Sieben Jahr seid ihr gesegelt, müßt noch sieben Jahre segeln, ehe ihr sie könnt erlösen. Aber du kannst gern hier bleiben, kannst auch meine Tochter haben. Doch erst mußt du ihn erschlagen, denn er ist ein strenger Hausherr, und wir wohn ihm nicht mehr dienen. Nun versuch das Schwert zu schwingen, sagte drauf der Trollprinz leise. Ja, der Königssohn entdeckte an der Wand die breite Klinge, braun vom Rost und schwer vom Alter. Doch er konnt' das Schwert nicht heben. Einen Schluck nimm aus der Flasche, sagte da der Trollprinz leise. Als er dies getan, da konnte er das Schwert ein wenig rücken. Und als er den zweiten Schluck nahm, konnte er's ein wenig heben. Einen dritten Schluck, den nahm er, und nun konnte er es schwingen, war so leicht wie eine Feder. Wenn du dann an Bord gekommen, sagte drauf der Trollprinz leise, mußt das Schwert du gut verstecken, in der Koje ruht's am besten. Laß es Ritter Röd nicht sehen, er kann nie das Schwert so schwingen, doch er haßt dich, will dich töten. Wenn dann sieben Jahr vergangen, so daß noch drei Tage fehlen, wirds genau so gehn wie eben, werden große Stürme kommen und ein heftig Ungewitter. Doch wenn dieses überstanden, werden alle schlafen müssen. Nimm dein Schwert, besteig dein Boot dann,



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rudre kräftig schnell zum Lande, wirst zu einem Schlosse kommen. Aller Art Getier, als Wächter, steht davor in langen Reihen - Wölfe, Bären, Löwen siehst du, doch da sollst du nicht erschrecken, denn die Tiere werden alle dir sogleich zu Füßen fallen. Wenn du dann ins Schloß gekommen, in dem prächtigsten der Säle, da wirst du ihn sitzen sehen, hat zwölf Köpfe an dem Leibe. Und zwölf Königstöchter sitzen rings um ihn auf goldnen Stühlen, jede hat ein Haupt im Schoß, muß es lausen, muß es kraulen. Doch dann ist die Zeit gekommen, faß dein Schwert und zögre nicht mehr, schlag du eines nach dem andern von den Häuptern ihm vom Leibe! Wenn er wacht und dich erblicket, schlingt er dich lebend'gen Leibes.

Der Königssohn ging mit dem Schwert an Bord, und das, was er zu wissen bekommen hatte, behielt er in seinem Herzen.

Während die anderen noch schliefen, verwahrte er das Schwert in seiner Koje. Weder Ritter Röd noch ein anderer bekam es zu sehen.

Nun kam ein frischer Wind auf und er weckte die anderen und sagte, sie sollten nicht länger mehr schlafen, da doch der Wind günstig sei. Keiner von allen ahnte auch nur, daß er sich vom Schiffe entfernt und was er inzwischen erlebt hatte.

Als nun die sieben Jahre vergangen waren bis auf drei Tage, geschah es genau so, wie der Trollprinz es ihm vorausgesagt hatte. Es kam ein Unwetter über sie mit schweren Stürmen, das währte drei Tage. Als das überstanden war und Stille eintrat, waren sie schläfrig und müd von der Arbeit und legten sich schlafen. Doch der Jüngste ruderte zum Land, die Wachtiere fielen ihm zu Füßen, und so kam er zum Schloß. Als er in den prächtigsten Saal trat, fand er den großen Troll schlafend und um ihn die zwölf Königstöchter auf zwölf goldenen Stühlen sitzend, jede von ihnen lauste und kraulte ein Trollhaupt. Der Königssohn winkte nun den Prinzessinnen leis, sie sollten fliehen. Doch sie wiesen auf den schlafenden Troll und winkten, er solle den Saal schnell verlassen. Doch er bedeutete ihnen mit flehenden Gesten, sie sollten doch fliehen, bis sie verstanden, daß er sie befreien wollte. Nun schlichen sie sachte hinweg, die eine nach der anderen, und sogleich hieb er dem Trollkönig die zwölf Häupter nacheinander ab, daß sein Blut strömte wie ein großer Bach.

Als er den Troll besiegt hatte, ruderte er zurück zum Schiff und verbarg sein Schwert wieder gut. Ihm schien, er hätte nun genug allein getan, nun sollten ihm die anderen helfen. Er weckte sie also und sagte,



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sie sollten sich schämen, zu liegen und zu schlafen, während er die Prinzessinnen gefunden und vom Troll befreit hätte. Da lachten die anderen und sagten, er hätte wohl genau so gut geschlafen wie sie und nur geträumt, daß er dies alles vollbracht hätte. Wenn jemand die Prinzesinnen befreien sollte, so würde es besser einer von ihnen tun. Aber der Jüngste erzählte, wie alles zugegangen war, und als sie mit ihm ans Land kamen und der erste den Blutbach sah und das Schloß und die zwölf Trollhäupter und die zwölf Prinzessinnen, da erkannten sie, daß er die Wahrheit gesprochen hatte, und nun halfen sie, Häupter und Leib des Trolles ins Meer zu werfen. — Alle waren sie nun herzensfroh, aber niemand war glücklicher als die Prinzessinnen, die nun nicht mehr auf ihre goldenen Stühle gebannt waren, um den Troll alle Tage zu lausen.

Von all dem Gold und Silber und den kostbaren Dingen, die das Schloß barg, nahmen sie mit sich so viel das Schiff fassen konnte. Und so gingen sie alle an Bord, die Prinzen und die Prinzessinnen.

Kaum waren sie ein Stück ins offene Meer hinausgekommen, da sagten die Königstöchter betrübt: »0, vor lauter Freude haben wir unsere Goldkronen vergessen, sie liegen in einem Schrein im Schlosse, die hätten wir gar zu gerne dabei.« Doch keiner der Prinzen wollte sie holen. Da sagte der Jüngste: »Nun habe ich schon so vieles für euch gewagt, so wag ichs und hole die Goldkronen auch noch, wenn ihr die Segel so lang reifen und ein Weilchen hier warten wollt, bis ich zurückkomme.« 0 ja, das wollten sie! Kaum war der Jüngste den Augen entschwunden, sagte Ritter Röd: »Laßt uns jetzt segeln!« 0, der Schlimme wollte gern selbst die jüngste Königstochter haben und der Tüchtigste sein. Es nütze nichts, hier still zu liegen, sagte er, und er wisse genau, der Jüngste käme niemals zurück. Der König selbst habe ihm Macht gegeben, das Schiff zu steuern, wohin er wolle. Kämen sie heim, dann sollten sie sagen, er, Ritter Röd, hätte die Prinzessinnen erlöst. Und wenn einer wagen sollte, anders zu sprechen, so sollte er sofort sein Leben verlieren. Die armen Prinzessinnen trauten sich nicht mehr, etwas anderes zu tun, als das, was Ritter Röd wollte. So segelten sie und das Schiff trug sie fort.

Unterdessen ruderte der jüngste Königssohn an Land, ging hinauf ins Schloß, fand im Schrank die Goldkronen und rollte sie hinab zum Boot. Doch als er an die Stelle kam, wo er das Schiff hätte sehen müssen, war es fort. Da er es nirgends entdecken konnte, ahnte er, was vorgefallen war. Rudernd konnte er das Schiff nicht mehr erreichen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als umzudrehen und zum Lande zurückzurudern.



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Er hatte Furcht, die Nacht allein im Schloß zu verbringen, doch war kein anderes Haus weit und breit zu sehen. Und so faßte er sich ein Herz, ging hinein, verschloß alle Türen und Pforten im Haus und legte sich in ein bereitetes Bett, das er in dem einen Raume fand. Hatte er schon Angst, so wuchs seine Furcht noch mehr, als es nach einer Weile zu knacken und zu brechen begann in Wänden und Dach, als sollte das ganze Schloß zerreissen. Auf einmal stürzte zu Seiten des Bettes etwas herab, wie eine Last Heu. Dann wurde es still. Aber er hörte eine Stimme, die ihn bat, nicht zu erschrecken und die ihm sagte:

»Ich bin Vogel Dam, ich helfe dir fort,
vertraue mir nur, ich halte mein Wort.«

»Gleich wenn du morgen früh erwachst, mußt du vier Tonnen Roggen für mich aus dem Vorratshaus holen, das muß ich zum Frühstück haben, sonst kann ich nichts machen«, sagte die Stimme noch.

Als er erwachte, sah er einen unheimlich großen Vogel, der hatte eine Feder im Nacken, fast so dick wie ein Tannenbalken. Der Königssohn ging nun zum Wintervorratshaus und holte vier Tonnen Roggen für Vogel Dam, und als der das gefressen hatte, bat er den Königssohn, daß er ihm den Schrank mit den Goldkronen an die eine Seite des Halses hängen solle, und als Gegengewicht ebensoviel Gold und Silber an die andere Seite, und er selbst solle sich ihm auf den Rücken setzen und sich an der Nackenfeder festhalten.

So trug er ihn davon, daß es nur so in den Lüften sauste. Und es dauerte nicht lang, da flogen sie am Schiff vorbei. Der Königssohn wollte gern an Bord und sein Schwert holen, denn er hatte Angst, jemand würde es sehen, und der Trollprinz hatte ihm doch gesagt, es dürfe niemand sehen. Aber Vogel Dam sagte, er müsse weiterfliegen: »Ritter Röd wird es nicht sehen, aber wenn du an Bord kämest, würde er dir nach dem Leben trachten, denn er will gern die jüngste Prinzessin haben. Aber du kannst ganz ruhig sein, denn sie legt ein bloßes Schwert neben sich jede Nacht.«

Schließlich kamen sie zum Trollprinzen, der ihm alles vorausgesagt hatte, und dort wurde der Königssohn so gut empfangen, daß man gar nicht beschreiben kann, wie gut. Der Trollprinz wußte gar nicht, was er ihm alles zu lieb tun sollte, weil er seinen bösen Hausherrn zur Hölle geschickt und ihn zum König gemacht hatte. - Er hätte ihm gar zu gerne seine Tochter und sein halbes Reich gegeben. Aber der Königssohn war der jüngsten der zwölf Prinzessinnen so gut, daß er keine Ruhe fand, sondern endlich hinauswollte, das eine mal über das



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andere. Doch der Troll bat ihn, ruhig noch eine Weile hier zu bleiben, denn sie hätten ja doch noch sieben Jahre zu segeln, ehe sie heim kämen. Über die Prinzessin sprach er genauso wie Vogel Dam: »Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen, sie legt ein bloses Schwert neben sich nachts. Und wenn du mir nicht glauben willst, so kannst du an Bord gehen, wenn sie hier vorbeisegeln, und selbst nachsehen. Und das Schwert kannst du holen, das muß ich wiederhaben.«

Als sie vorbeisegelten, hatten sie wieder ein Unwetter gehabt, und als der Königssohn an Bord kam, schliefen sie alle, und jede der Prinzessinnen lag bei ihrem Prinzen. Aber die Jüngste lag allein mit einem bloßen Schwert neben sich. Und auf dem Fußboden, vor dem Bett, lag Ritter Röd. Der Königssohn nahm sein Schwert und ruderte wieder zum Lande, ohne daß jemand gemerkt hatte, daß er an Bord gewesen war.

Der Königssohn konnte nun nicht mehr ruhig bleiben, er wollte oft von dannen, und als es nur noch drei Wochen waren, bis die sieben Jahre vergangen, sagte der gute Trollkönig: »Nun kannst du dich zur Reise rüsten, wenn du nicht bei uns bleiben willst. Ich leihe dir das Eisenboot, welches von selbst fährt, du brauchst nur zu sagen: ,Boot, fahr zu!' Im Boot liegt eine Eisenkeule, und diese sollst du anheben, wenn du das Schiff mit den Prinzessinnen vor dir erblickst. So wird eine heftige Bö entstehen, daß sie vergessen, nach dir zu schauen. Kommst du längsseits des Schiffes, so mußt du die Eisenkeule wieder anheben, da wird ein Sturm hereinbrechen, dann haben sie so viel anderes zu tun, daß sie gar keine Zeit haben, nach dir auszuschauen. Und wenn du an ihnen vorbei bist, mußt du die Eisenkeule zum dritten Mal anheben. Aber du mußt sie allezeit sorgsam wieder niederlegen, sonst entsteht ein solches Unwetter, daß die darin umkommen würden und du auch. Wenn du an Land kommst, brauchst du dich nicht weiter ums Boot zu kümmern, wende es, schiebe es hinaus aufs Wasser und sage: ,Boot, fahre heim, woher du kamst!'«

Als er fort fuhr, bekam er so viel Gold und Silber, so viele andere Pracht und Kleider und Leinenzeug, welches in der langen Zeit die Trollprinzessin für ihn genäht hatte, sodaß er viel reicher war, als einer von seinen Brüdern. Kaum hatte er sich in das Eisenboot gesetzt und gesagt: »Boot, fahr zu!« so fuhr das Boot los. Und als er das Schiff vor sich sah, hob er die Keule und gleich bekamen sie eine Fallbö, daß sie vergassen, nach ihm zu sehen. Als er längsseits des Schiffes war, hob er die Eisenkeule wieder. Da entstand solch ein Sturm und solch ein Unwetter, so daß das Meer in weißem Gischt um sie schäumte und



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die Wellen über Deck schlugen, und sie genug anderes zu tun hatten, als nach ihm zu schauen. Und als er an ihnen vorbei war, hob er die Eisenkeule zum dritten Mal, da bekamen sie so reichlich zu tun, daß sie keine Zeit hatten, nachzusehen, was das für einer sei in dem Boot. Lang, lang vor dem Schiff kam er an Land. Und als er all seine Sachen ausgeladen hatte, wendete er das Boot, schob es hinaus und sagte: »Boot, fahr heim, woher du kamst«, sogleich fuhr das Boot zurück.

Er selbst verkleidete sich als Seemann, und so ging er hinauf zu einer armseligen Hütte, wo eine alte Frau wohnte. Der erzählte er, er sei ein armer Matrose gewesen auf einem großen Schiff, das untergegangen sei. Und er sei der einzige, der gerettet wurde. Er bat sie um Obdach für sich und all seine Dinge, die er geborgen hatte.

»Gott bewahre mich«, sagte die Frau, »ich kann niemanden beherbergen. Du siehst selbst, wie das hier ist. Ich habe schon für mich nichts, worauf ich liegen kann und noch viel weniger für andere.« Das sei ihm egal, sagte der Seemann, wenn er nur ein Dach über den Kopf bekäme, so wäre es ihm schon recht, wie er läge. Obdach könne sie ihm nicht verweigern, wenn er mit dem vorlieb nehmen würde, was sie zu bieten hätte.

Am Abend zog er mit seinen Sachen ein. Kaum war er damit fertig, als auch schon die Frau, welche gerne Neuigkeiten hören wollte, um sie weitersagen zu können, zu fragen begann, was er für einer sei, woher er käme, wohin er gehen würde, was das sei, das er da bei sich hätte, in wessen Auftrag er gereist sei, und ob er nichts gehört hätte von den zwölf Königstöchtern, welche seit so vielen Herrgottsjahren nun schon verschwunden seien, und noch anderes mehr, worüber sie nun Zeit genug hätten zu reden. Aber er sagte, er sei so schwach und müde, er hätte so Kopfweh von dem häßlichen Wetter, das er gehabt hätte. Bei ihm ginge noch alles durcheinander, sie müsse ihm endlich noch ein paar Tage Ruhe gönnen, bis er sich auf alles besinnen könne, was er durchgestanden hätte. Dann solle sie alles wissen, was sie wolle und noch mehr dazu. Den Tag darauf begann die Alte wieder zu fragen und zu bohren, aber der Seemann hatte noch solche Kopfschmerzen vom Unwetter, daß er keine Ordnung in seine Gedanken bringen konnte. Trotzdem ließ er ein Wort fallen, daß er schon einiges wüßte von den Königstöchtern. Sofort eilte die Alte von dannen mit dem, was sie erfahren hatte, zu all den Klatschweibern im Umkreis. Und nun kam die eine nach der anderen angerannt und fragte nach Neuigkeiten von den Königstöchtern. Ob er sie gesehen hätte, ob sie bald



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kämen, ob sie unterwegs seien und mehr dergleichen. - Er klagte darüber, daß er Kopfweh hätte vom Unwetter und daß er seine Gedanken nicht ordnen könne. Aber so viel sagte er, wenn sie nicht umgekommen seien bei dem harten Wetter, so kämen sie etwa in vierzehn Tagen oder vielleicht eher.

Eine von den alten Frauen eilte damit sofort zum Königshof und sagte, daß da ein Seemann in der Hütte der alten Frau wohne, der hätte seine zwölf Töchter gesehen, und sie kämen in vierzehn Tagen oder vielleicht in acht. Als der König das hörte, sandte er Boten zu dem Seemann, damit er kommen und ihm das selbst erzählen sollte.

»Ich sehe nicht danach aus«, sagte der Matrose, »ich habe nicht die Kleider danach, um vor ihm erscheinen zu können.« Aber des Königs Sendboten sagten, daß er endlich kommen solle, der König wolle und müsse mit ihm reden, ob er nun so oder so gekleidet sei, denn bisher hätte ihm noch niemand etwas von den Prinzessinnen erzählen können.

So ging er zum Königshof, wurde vor den König geführt und der fragte ihn, ob das wahr sei, daß er etwas von den Prinzessinnen gesehen hätte.

»Ja, das habe ich«, sagte der Seemann, »aber ich kann nicht wissen, ob sie noch leben, denn als ich sie sah, war solch ein Sturm, daß wir Schiffbruch erlitten. Aber wenn sie noch am Leben sind, so kommen sie in vierzehn Tagen, oder vielleicht früher.«

Als der König das hörte, war er beinah außer sich vor Freude, und als die Zeit herannahte, von welcher der Seemann gesprochen hatte, zog der König in vollem Staat ihnen entgegen zum Strand. Da war große Freude im ganzen Land, als die Prinzessinnen wirklich kamen und die Prinzen und Ritter Röd. Aber niemand war glücklicher als der alte König, welcher nun seine Töchter wiederbekommen hatte. Elf Prinzessinnen waren auch glücklich und lustig, aber die Jüngste, welche Ritter Röd haben sollte, sie weinte und war immer traurig. Dem König schien das schlimm zu sein, und er fragte, warum sie nicht lustig und munter sei wie die anderen Prinzessinnen. Sie hätte doch keinen Grund, um so niedergeschlagen zu sein, nun sie vom Troll befreit sei und so einen Mann bekommen sollte wie Ritter Röd. Aber sie getraute sich nicht, etwas zu sagen, denn Ritter Röd hatte gedroht, er würde demjenigen das Leben nehmen, der erzählen würde, was sich alles zugetragen habe.

Doch eines Tages, als die Prinzessinnen wieder an ihrem Hochzeitsstaat nähten, kam einer in einem weiten Matrosenkittel herein mit einem Krämerkorb auf dem Rücken. Der fragte, ob die Prinzessinnen



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zur Hochzeit nicht Putz von ihm kaufen wollten. Er hätte so viele seltene und kostbare Dinge aus Gold und Silber. Ja, das könne gut sein. Sie sahen die Waren an und schauten ihn an, denn es kam ihnen beides so bekannt vor.

»Derjenige, der so viel Prächtiges hat«, sagte die jüngste Prinzessin, »der hat gewiß etwas, was noch prächtiger ist, und was noch besser zu uns passen würde.«

»Das könnte schon sein«, sagte der Händler. Aber die anderen suchten sie zum Schweigen zu bringen und baten sie, daran zu denken, womit Ritter Röd gedroht hatte.

Einige Zeit danach, als die Prinzessinnen eines Tages beim Fenster saßen, kam der Königssohn wieder in der weiten Matrosenkleidung, den Krämerkorb mit den Goldkronen darin hatte er auf dem Rücken. Als er in den Saal des Königsschlosses eintrat, öffnete er den Korb für die Prinzessinnen, und als jede ihre Goldkrone wiedererkannte, rief die Jüngste:

»Mir scheint, das wäre wohl recht, wenn derjenige, der uns befreit hat, auch den Lohn bekäme, den er verdient hat. Und das ist nicht Ritter Röd, sondern der, welcher mit unseren Goldkronen kommt - er hat uns erlöst.« Da warf der Königsohn seinen Matrosenkittel von sich, und er stand viel prächtiger da, als alle die anderen. Da ließ der alte König Ritter Röd töten, und nun zog erst die rechte Freude am Königshof ein. Jeder nahm seine Braut, und so wurde Hochzeit gefeiert, daß man in zwölf Königreichen davon hörte und erzählte.


Copyright: arpa, 2015.

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