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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Das Huhn lief in den Berg hinein

Es war einmal eine alte Witwe, die wohnte mit ihren drei Töchtern weitab vom Dorfe, einsam, auf einem Bergrücken. Sie war so arm, daß sie nur ein Huhn ihr eigen nannte, aber das war ihr so teuer wie ihr Augenstern. Sie umsorgte es und sprach früh und spät mit ihm. Aber eines Tages war das Huhn verschwunden. Die Frau ging hinaus rund um das Haus, suchte und lockte, aber das Huhn war und blieb verschwunden.

»Geh hinaus und sieh, wo das Huhn geblieben ist«, sagte die Frau zu ihrer ältesten Tochter, »wiederhaben müssen wir es, und wenn wir es aus den Bergen herausholen müssen.« - Ja, da mußte die Tochter hinaus und nach ihm sehen. Sie ging dahin und dorthin, suchte und lockte. Schließlich hörte sie ganz weit weg aus einer Bergwand rufen:



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»Das Huhn lief in den Berg hinein. . .«

Sogleich ging sie dorthin, um zu sehen, was das war! Aber bei der Bergwand fiel sie in eine Spalte, tief, tief hinab, in ein Gewölbe unter der Erde. Dort unten ging sie weiter durch viele Räume, wovon der eine immer prächtiger war als der andere, aber in dem innersten kam ihr ein großer, häßlicher Bergtroll entgegen.

»Willst du meine Liebste werden?«fragte er. »Nein«, sagte sie, »das will ich ganz und gar nicht. Ich will wieder hinauf und nach meinem Huhn sehen, das davongelaufen ist.« Da wurde der Troll so böse und zornig, daß er sie packte und ihr den Kopf abdrehte. Darauf warf er Kopf und Körper in den Keller.

Die Mutter saß inzwischen zu Hause, wartete und wartete, aber keine Tochter kam zurück. Sie wartete noch einige Zeit, aber als sie nichts von ihr hörte und sah, sagte sie zur mittleren Tochter, sie solle hinausgehen und nach ihrer Schwester schauen. »Gleichzeitig kannst du das Huhn rufen«, sagte sie noch.

Da ging die andere Schwester hinaus, und es ging ihr wie der ersten. Sie lief und suchte und lockte, und auf einmal hörte auch sie weit, weit weg aus einer Bergwand rufen: »Das Huhn lief in den Berg hinein. . «

Das erschien ihr sonderbar. Sie mußte dort hin und sehen, was da war. Und so fiel auch sie in die Spalte, tief, tief hinab ins Gewölbe. Da ging sie durch alle Räume. Aber im innersten kam ihr der Bergtroll entgegen, und er fragte sie, ob sie seine Liebste werden wollte. Nein, das wolle sie ganz und gar nicht, sie wolle gleich wieder hinauf nach dem Huhn suchen, welches davongelaufen war. Aber da wurde der Troll böse, packte sie, drehte ihr den Kopf ab und warf Körper und Kopf hinunter in den Keller.

Als die Frau nun zu Hause gesessen und auf die andere Tochter gewartet hatte, und die Tochter weder zu hören noch zu sehen war, sagte sie zu der Jüngsten: »Nun mache du dich auf den Weg und schaue nach deinen Schwestern. Schlimm ist, daß mein Huhn weglief, aber schlimmer wäre es, würden wir deine Schwestern nicht wiederfinden. Aber das Huhn kannst du immer locken gleichzeitig.«

Ja, da mußte nun auch die Jüngste hinausgehen. Sie ging dahin und dorthin, suchte und lockte, aber sie sah weder das Huhn noch ihre Schwestern. Mit der Zeit kam sie auch zu der Bergwand und hörte, wie es da rief:

»Das Huhn lief in den Berg hinein, das Huhn lief in den Berg hinein...«



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Das erschien ihr seltsam. Sie wollte dorthin und nachsehen, und so fiel auch sie in die Spalte, tief, tief hinab ins Gewölbe. Dort unten ging sie weiter durch viele Räume, der eine war immer prächtiger als der andere. Aber sie war nicht so ängstlich. Sie nahm sich Zeit, besah das eine und andere, und so bemerkte sie auch die Falltür zum Keller. Sie schaute hinein und erkannte sofort ihre Schwestern, die da lagen.

Als sie die Falltür wieder gut verschlossen hatte, kam der Bergtroll zu ihr. »Willst du meine Liebste werden?«fragte er. »Ja, das will ich gern«, sagte das Mädchen, denn sie konnte sich denken, wie es ihren Schwestern ergangen war. Als der Troll ihre Antwort vernahm, bekam sie prächtige Kleider, die feinsten, die sie sich nur wünschen konnte, und alles andere, was sie etwa haben wollte, so glücklich war der Troll, daß jemand seine Liebste werden wollte.

Aber als sie eine Zeitlang bei ihm gelebt hatte, wurde sie eines Tages noch stiller und bedrückter, als sie sonst zu sein pflegte. Da fragte der Bergtroll, was sie so bedrücke.

»0, ich bin traurig, weil ich nicht heimkomme zur Mutter«, sagte das Mädchen, »sie ist gewiß hungrig und durstig und hat niemanden mehr bei sich.«

»Es ist dir nicht erlaubt, zu ihr zu gehen«, antwortete der Troll, »aber wenn du etwas Essen in meinen Sack stopfen willst, so werde ich ihn zu ihr tragen.« - Ja, dafür dankte sie ihm und das wolle sie tun. Aber ganz unten in den Sack tat sie eine Menge Gold und Silber, legte etwas Essen obenauf und sagte zum Troll, nun sei der Sack fertig. Aber er solle nicht hineinsehen. Das versprach der Troll auch.

Als er nun mit dem Sack wegging, blickte sie ihm nach durch ein kleines Loch im Felsen. Als er ein Stück Weges gegangen war, sagte er bei sich: »Dieser Sack ist so schwer, ich will nur nachsehen, was da alles drin ist«, und wollte gerade das Sackband lösen, da rief das Mädchen: »Ich seh dich noch, ich seh dich noch!« Du hast verteufelt gute Augen, dachte der Troll, und so traute er sich nicht mehr, den Sack nachzuprüfen. - Als er nun dort angekommen war, wo die Witwe wohnte, warf er den Sack hinein ins Haus gegen die Stubentür: »Da hast du Essen von deiner Tochter. Das macht ihr gar nichts aus«, sagte er.

Während nun das Mädchen weiter im Berg blieb, fiel eines Tages ein Geißböckchen hinunter in die Felsenspalte. »Wer hat dich gerufen, du langhaariges Biest!« schrie der Troll. Er war scheußlich wild, nahm das Böckchen, drehte ihm den Kopf ab und warf es in den Keller.

»Ach nein, warum tatest du das«, jammerte das Mädchen, »mit dem hätte ich so schön hier unten spielen können.«



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»Du brauchst deshalb nicht den Kopf hängen zu lassen«, sagte der Troll, »ich kann das Geißböckchen wieder zum Leben erwecken.« Damit nahm er einen Krug, welcher an der Wand hing, setzte dem Geißböckchen den Kopf wieder auf, beschmierte ihn mit Salbe aus dem Krug, und so war es gleich wieder heil.

Haha, dachte das Mädchen, der Krug ist noch zu etwas anderem gut. Da sie nun eine lange Weile bei dem Troll gewesen war, paßte das Mädchen eine Zeit ab, als der Troll weg war, nahm die älteste der Schwestern, setzte ihr den Kopf wieder auf, beschmierte ihn mit Salbe aus dem Krug, genau so wie es der Troll bei dem Geißböckchen gemacht hatte, und sofort kam wieder Leben in die Schwester. Das Mädchen steckte die Schwester in einen Sack, legte etwas zu essen obenauf, und als der Troll wieder nach Hause kam, sagte sie zu ihm: »Mein lieber Freund, nun mußt du meiner Mutter wieder einmal etwas zu essen bringen, sie ist gewiß durstig und hungrig, die arme, und allein ist sie auch. Aber schau nicht in den Sack!«Ja, er würde mit dem Sack hingehen, und hineinschauen würde er auch nicht, sagte er. Aber als er ein Stück Weges zurückgelegt hatte, erschien ihm der Sack schwerer und schwerer zu werden, und als er noch ein Stück gegangen war, sagte er sich, nun müsse er einmal nachsehen, was in dem Sack drin ist. »Wie auch ihre Augen beschaffen sein mögen, jetzt kann sie mich nicht mehr sehen«, sagte er zu sich selbst. Aber in dem Augenblick, als er das Sackband lösen wollte, sagte diejenige, die in dem Sack saß: »Ich seh dich noch, ich seh dich noch.« »Das war der Teufel, der dir solche Augen in den Kopf gehext hat«, sagte der Troll. Er glaubte, das Mädchen aus der Berghöhle spräche so. Er wagte nun nicht mehr, den Sack nachzuprüfen, sondern trug ihn zur Mutter, so schnell er konnte. - Als er zur Haustür kam, warf er den Sack dagegen: »Da hast du zu essen von deiner Tochter. Das macht ihr gar nichts aus.«

Als das Mädchen nun wieder eine Zeitlang im Berg verbracht hatte, machte sie dasselbe mit ihrer anderen Schwester. Sie setzte ihr den Kopf auf, beschmierte ihn mit Salbe aus dem Krug und steckte sie in den Sack. Aber diesmal füllte sie ihn obendrein noch mit Gold und Silber, so viel noch Platz darin war, und zu alleroberst legte sie etwas zu essen hinein.

»Mein lieber Freund«, sagte sie zum Troll, »nun mußt du meiner Mutter wieder etwas zu essen bringen. Aber schaue nicht in den Sack hinein!«Ja, der Troll wollte sich gern darein fügen, und er versprach auch, nicht in den Sack hineinzuschauen. Aber als er ein Stück Weges gegangen war, schien ihm der Sack bös schwer zu werden. Und da er



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noch ein Stück gegangen war, fühlte er sich vollkommen erschöpft. Er mußte sich mit dem Sack niedersetzen und ein wenig verschnaufen. Und da wollte er auch das Sackband lösen und hineinschauen. Aber da rief auch schon diejenige, die in dem Sack war: »Ich seh dich noch, ich seh dich noch!« - »Der Teufel hat dir solche Augen in den Kopf gehext«, sagte der Troll. Er wagte aber nun nicht mehr nachzuprüfen und trug den Sack gleichfalls zur Mutter. Als er vor die Haustür kam, warf er den Sack dagegen: »Da hast du Speise von deiner Tochter. Das macht ihr gar nichts aus«, sagte er.

Als das Mädchen noch eine gute Weile in dem Berg hauste, wollte der Troll einmal hinausgehen. Da verstellte sich das Mädchen, sie sei so krank und elend und jammerte und klagte.

»Es hat gar keinen Zweck, daß du vor zwölf heimkommst«, sagte sie, »denn ich werde das Essen nicht früher fertig haben, ich bin zu elend und schwach.«

Als nun der Troll gegangen war, stopfte sie ihre Kleider mit Stroh aus und setzte dieses Strohmädchen in den dunklen Herdwinkel mit einem Quirl in der Hand, so daß es aussah, als ob sie selbst dort stünde. Dann beeilte sie sich, nach Hause zu kommen und nahm auch einen Jäger mit in das Haus ihrer Mutter.

Als es zwölf war, kam der Troll heim.

»Trag die Mahlzeit auf!« sagte er zu dem Strohmädchen.

Nein, sie antwortete nicht.

»Komm mit dem Essen«, sagte der Troll, »ich bin hungrig.«

Nein, sie antwortete nicht.

»Komm mit dem Essen«! schrie der Troll ein drittes Mal, »hör, was ich dir sage, oder soll ich dich wecken!«

Nein, das Mädchen stand immer noch still.

Da wurde er so wild, daß er ihr einen Fußtritt gab und die Strohhalme gegen Wände und Decke flogen. Aber als er das sah, schöpfte er Verdacht und begann nach dem Mädchen zu suchen, oben und unten, und schließlich kam er auch in den Keller hinab. Da waren beide Schwestern des Mädchens fort, und da ahnte er, wie das zugegangen war. Das wollte er ihr vergelten. Er machte sich sofort auf den Weg dorthin, wo ihre Mutter wohnte. Aber als er beim Hause angelangt war, schoß der Jäger. Da getraute der Troll sich nicht hineinzugehen, denn er glaubte, es sei der Donner. Er lief heimwärts so schnell er konnte, aber ehe er zur Felsenspalte kam, ging die Sonne auf, und da zersprang er.

Gold und Silber ist da sicher noch genug. Wenn man nur wüßte, wo die Felsspalte ist.


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