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Die Kormorane von Ut-Röst


Norwegische Märchen


Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Die Knaben, welche den Trollen im Hedalswald begegneten

In Vogo, in Gudbrandsdalen, wohnte in alten Zeiten einmal eine arme Familie, die viele Kinder hatte. Zwei halberwachsene Söhne mußten beständig in den Gehöften umherstreifen und betteln. Deshalb kannten sie alle Wege und Stege, und sie wußten auch den kürzesten Weg nach Hedalen. Eines Tages wollten sie dorthin, denn sie hatten gehört, daß in der Nähe von Meila ein Falkenfänger sich eine Hütte gebaut hatte. Bei dem wollten sie vorbeigehen und sich die Vögel ansehen und auch zuschauen, wie er sie fing. Deshalb wählten sie den Weg über Langenmyra. Aber weil es schon spät im Herbst war und die Sennhütten menschenleer und verschlossen waren, konnten sie nirgends etwas zu essen bekommen und auch kein Nachtlager, sie mußten also den Weg nach Hedalen weiter gehen. Das war aber nur ein schmaler grüner Viehpfad, und als die Dämmerung hereinbrach, verfehlten sie den Weg und fanden die Vogelfängerhütte nicht mehr. Ehe sie es sich versahen, waren sie mitten im dichtesten, dicksten Wald. Es war unmöglich weiterzugehen, und so entschlossen sie sich, im Freien zu übernachten. Sie machten sich ein Feuer und bauten sich eine Hütte aus Zweigen, denn sie hatten eine kleine Axt mit. Sie rupften Blätter und Moos und machten sich daraus ein Lager.

Eine Weile nachdem sie sich gelegt hatten, hörten sie, wie etwas zu schnauben und zu brausen begann. Die Knaben lauschten gespannt darauf, ob es ein Tier oder ein Waldtroll sein könne. Aber da schnaufte es schon stärker und sagte: »Hier riecht es nach Christenblut.« Dann hörten sie so schwere Schritte, daß die Erde davon erzitterte. Nun wußten sie, daß sich draußen ein Troll nahte.

»Gott helfe uns, was sollen wir nur tun?« sagte der jüngere Knabe zu seinem Bruder. »Ach, du mußt unter der großen Föhre stehen bleiben und bereit sein, den Sack zu nehmen, wenn du sie kommen siehst,



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und ich werde die kleine Axt nehmen«, sagte der andere. Da sahen sie die Trolle auch schon kommen. Sie waren so groß und mächtig, daß ihre Häupter die Föhrenwipfel streiften. Aber alle drei zusammen besassen nur ein Auge, welches sie wechselweise gebrauchten. Dazu hatten sie ein Loch in der Stirn, wo sie es hineinlegten und es mit den Händen steuerten. Derjenige, der voranging, der mußte das Auge haben, und die anderen gingen hinterher und hielten sich an dem ersten fest.

»Lauf, was du kannst«, sagte der ältere Knabe, »aber fliehe nicht zu weit, damit du siehst, wie es geht. Wenn sie das Auge so hoch oben haben, wird es ihnen schwer fallen, mich zu sehen, wenn ich hinter ihnen herkomme.«

Also gut, der Bruder rannte voran und die Trolle hinterher. Sogleich kam der ältere Knabe hinter ihnen her und hackte die Axt dem letzten Troll ins Fußgelenk mit solcher Wucht, daß er einen gräßlichen Schrei ausstieß und der erste Troll dadurch so erschrak, daß er stolperte und das Auge fallen ließ. Der Junge war flink und erhaschte es. Das Trollauge war so groß wie zwei Topfdeckel zusammen, und so klar war es, daß selbst in kohlschwarzer Nacht es lichter Tag wurde, wenn man hindurchschaute.

Als die Trolle merkten, daß er das Auge weggenommen und daß er den einen Troll verwundet hatte, begannen sie zu drohen mit allen Übeln, die sie zu vergeben hatten, wenn er ihnen nicht sogleich das Auge zurückgeben würde.

»Ich habe keine Angst vor Trollen und ihrem Drohen«, sagte der Knabe, »jetzt habe ich drei Augen für mich allein, und ihr habt überhaupt keins, und außerdem müssen zwei den dritten tragen.«

»Bekommen wir unser Auge nicht gleich zurück, sollst du zu Stock und Stein werden«, schrien die Trolle.

Aber der Knabe meinte, das ginge nicht so schnell, er hätte keine Angst, weder vor der Prahlerei noch vor dem Trollwerk. Würde er von ihnen nicht in Frieden gelassen, so würde er sie alle drei mit der Axt hacken, sodaß sie nur noch auf der Erde kriechen könnten wie Gewürm und Ungeziefer.

Als die Trolle das hörten, bekamen sie Angst und begannen ihm gute Worte zu geben. Sie baten ihn so schön, er solle ihnen das Auge zurückgeben, so würde er auch Gold und Silber von ihnen bekommen und alles, was er nur haben wollte.

Ja, damit war der Knabe einverstanden, aber zuerst wolle er Gold und Silber haben, sagte er, einer von ihnen solle heimgehen und so viel Gold und Silber holen, daß er damit seinen Sack und den Sack seines



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Bruders füllen könne. Und außerdem müßten sie ihm noch zwei gute Stahlbögen dazugeben, und dann könnten sie das Auge zurückhaben, aber so lange wolle er es noch behalten.

Die Trolle nahmen es übel auf und sagten, keiner könne heimgehen, wenn er nicht das Auge zum Sehen mithatte, aber schließlich erbot sich einer, das alte Trollweib zu rufen, denn sie hatten alle drei ein Weib zusammen.

Eine Weile später antwortete es von einer nördlichen Bergkuppe. Da riefen die Trolle, sie solle mit zwei Stahlbögen kommen und mit zwei Körben voll Gold und Silber. Doch als sie hörte, was sich zugetragen hatte, begann auch sie mit Trollkünsten zu drohen.

Aber die Trolle bekamen Angst und rieten ihr, sich in acht zu nehmen vor den kleinen Wespen, sie könne vor ihnen nicht sicher sein, daß sie ihr das Auge nicht auch noch wegnehmen würden.

Da warf sie die Körbe mit Gold und Silber und die Stahlbögen den Knaben hin und schlich mit den Trollen heim zu den Bergkuppen.

Und seit der Zeit hat niemand mehr etwas davon gehört, daß die Trolle im Hedalswald nach Christenblut geschnüffelt hätten.


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