Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Geschichte eines Zahnwehs

Gegen Abend bekam der große Riese Grindel noch einmal solch furchtbaren Zorn auf die Menschen, er nahm, was immer er mit den Fäusten erraffen konnte, und schleuderte es gegen die Stadt Hamburg, Feldsteine, Büsche und Hände voll Torf und Dreck und Sandheide. Und alles, was gerade in Baum und Gestrüpp saß, flog mit über die Wälle. Auch der kleine Stackel, ein Unterirdischer, der just zwischen handhohem Bärlapp und Heidekraut seinen Spaziergang gemacht hatte, sauste in gewaltigem Bogen zur Stadt hinüber.

Glücklicherweise kam Stackel ziemlich weich nieder; als er so in der Gegend der Trostbrücke die Erde erreichte, geriet ihm ein Brocken Torfmull unter den Sitz, das rettete ihn. Aber selbst für solch hornhäukigen Unterirdischen ist eine Luftfahrt nicht ohne Verdruß, und das Überkopf- fliegen kann seekrank und die Ohren brausen machen.

Stackel erholte sich trotzdem rasch von seinem Schreck. Wenn jemand mit gesundem Verstand aus einem warmen Heideloch urplötzlich in eine große Stadt gewirbelt wird, so gibt es, das könnt ihr verstehen, so viel zu sehen, daß Mund und Augen eine Weile nicht mehr zugehen wollen. All die Speicher mit den Pugen und kleinen Wölterken! All die Löcher zwischen den Ziegeln, die voll von verdutzten Wichtgesichtern waren, und all diese ungeheuren, schwerfüßigen Menschen, welche die Straße herauf und hinab trabten, —oh, Stackel aus der Heide hatte so viel zu sehen, er wurde vor lauter Staunen wieder gesund.

Ein Hund, der neben einem alten Bettelmann stand, witterte den kleinen Sandheider als erster. Er war einst von draußen gekommen, war sogar im gleichen Dorf geboren, beschnupperte den Unterirdischen und erkannte zu seiner Freude jemand, mit dem er früher gespielt hatte.

"Was treibst du hier denn?" fragte er.



309 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa

"Das weiß ich eigentlich selbst nicht, aber es ist ein Glück, daß ich gleich Bekanntschaft finde", antwortete Stackel. "Und was machst du in der großen Stadt?

"Man bettelt sich sein Brot zusammen", sagte der Hund trübe und hob die Pfote zu einem Vorübergehenden auf. "Aber die Menschen werden schlecht und geizig", fügte er hinzu, als der Fremde vorbeieilte, ohne ihn zu sehen.

Der Bettelmann hatte, als der Hund den Fuß hob, auf seiner Flöte ein trauriges Lied zu spielen begonnen. Niemand hörte indes auf ihn. Der kleine Sandheider bekam deshalb rechtes Mitleid; er begriff, um was es bei seinen Freunden ging. "Hättet ihr nur eine Pfeife", meinte er, "so eine Zauberpfeife, nach der jedermann tanzen muß, da würdet ihr besser verdienen!"

"Solche Pfeifen gibt es gar nicht", antwortete der Bettler, "ich merke schon, du willst dich über uns lustig machen." Und der alte Wann zog sein Tier an den Zotten und schritt weiter, und der Hund mußte ihm folgen.

Aber der Sandheider hatte sich gar nicht lustig machen wollen; er war traurig, daß die beiden ihn mißverstanden, und hätte ihnen gern eine jener guten Zauberpfeifen besorgt, wie er sie hier oder da einmal gehört hatte.

Nun brachte der Zufall es mit sich, daß einige Straßen weiter, jenseits der Slamatjenbrücke, der Schneider Snied Snitters mit seiner unholden Wirtschafterin wohnte — ihr kennt ihn wohl, es ein alter geiziger Kerl, der, so reich er ist, doch immer an unredlichem Tuch verdienen will —, und es fügte sich, daß dieser Snied Snitters an jenem Tag gerade in Not geraten war. Er hatte für einen Nies Puk aus der Nchbarschaft einen Kock machen sollen und hatte so viel Tuch für sich oder seine Haushälterin abgeschnitten, wie er beim Menschenmaß zu tun pflegte. Darüber war das Wams nun zu klein geworden, und der Knirps, der sich doch nur alle hundert Jahr einen Rock bestellt, bedrohte ihn furchtbar und tanzte in seiner Wut von einem Fuß auf den andern.



310 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa

"Du kannst mein Haus durchsuchen", verteidigte sich Snied Snitters und machte sein einfältigstes Gesicht. "Ich schwöre dir bei meinem schlimmen Zahn, ich habe kein übrig" — der Zahn blieb ihm nicht mehr lange, der Betrüger wagte schon etwas darauf.

Aber der arme Kunde war außer sich vor Zorn und nahm es wahr, daß der Schneider sich verschwor. "So gewiß du lügst, Snied Snitters", schrie er, "so gewiß soll alles vor deinem Zahn zu tanzen anfangen, wie ich hier getanzt habe."Im nächsten Augenblick war der Knirps mit rollenden Augen verschwunden.

Dem Meister wurde leichter zumut, als er den schlimmen Mahner nicht mehr vor sich sah. Er atmete auf — dabei kam ihm aber auf einmal ein kleiner Tanzlaut von den Lippen, so schön, daß sein alter Kater die Beine heben und sich dazu drehen mußte.

Snied Snitters dachte erschrocken an den bösen Wunsch des Besuchers, er konnte nicht glauben, daß der liebe Gott das Wort eines solch winzigen Unholds erfüllen würde. Aber als er gleich darauf ein wenig hustete, blies er wieder über den schlimmen Zahn, und schon fingen Tisch und Stuhl wackelnd zu tanzen an. Hilfe, dachte der Meister, schnaufte ängstlich durch die Nase und setzte sich auf den nächsten Stuhl, um nachzugrübeln.

Nun war Snied Snitters schon in ärgeren Lagen als dieser gewesen, Er verlor den Mut nicht, legte beide Zeigefinger ans Kinn und über: legte, wie er den Zauber wieder loswerden könnte. Ihm fiel indes nichts Rechtes ein, und er wollte schon seine schlimme Wirtschafterin um Rat bitten.

In dem Augenblick kam der kleine Unterirdische, der dem Hund und dem Bettler folgte, an seinem Fenster entlang; Snied Snitters winkte ihn rasch zur Tür herein, er kannte ja die meisten aus dem winzigen Volk drinnen und draußen. "Stackel", stöhnte er, hob die Arme und lächelte über den tanzenden Kater. "Stackel, willst du mir einen Zahn ziehen?

Wenn du es durchaus möchtest, kann ich dir einen Zahn ziehen", sagte der Knirps und wunderte sich über den Empfang, "aber willst du mir nicht Verraten warum?



311 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa



312 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa

Der Schneider schüttelte den Kopf, holte einen Gulden aus der Westentasche und rollte ihn wortlos hin und her.

"Meinetwegen", sagte Stackel zögernd. Da half Snied Snitters ihm auf den Tisch, legte eine Zange bereit, schob das Kinn auf die Kante und deutete verzweifelt auf seinen Mund.

Was wohnen doch für sonderbare Menschen in der Stadt, dachte Stackel; dann versuchte er sich mit beiden Händen und setzte an.

"Los", flehte Snied Snitters, er wollte nicht, daß noch ein anderer von der Geschichte erfuhr.

Im Augenblick aber, wo der Schneider "los" gesagt hatte, mußte Stackel sich zum Tanz drehen, und das geschah mit solcher Gewalt, daß er wahrhaftig den Zahn über die Schulter mit sich riß. Snied Snitters tat einen Schrei, dann war es vorüber, und er begann zu grinsen vor lauter Behagen, daß er den betrogenen Kunden mit seinem Wunsch übertölpelt hatte.

Nun er die Angst los war, wollte der Schneider sich das Wunder auch einmal besehen. Aber der kleine Stackel hatte seine eigene Meinung über den sonderbaren Tanzzahn; er hielt ihn mit beiden Fäusten fest, und als Snied Snitters danach greifen wollte, blies er rasch darüber hin, so daß der Schneider gleich rund um den Tisch wirbelte. Gerade solch Ding, wie mein alter Freund nötig hat, dachte Stackel zufrieden, nahm die Beute unter den Arm und kletterte, wie dieses Volk nur klettern kann, blitzschnell über den Stuhl hinab und zum Fenster hinaus.

Snied Snitters hatte indes auch begriffen, daß der verwunschene Zahn etwas Wichtiges war; er lief rasch hinterdrein und wollte dem Knirps seinen Gewinn wieder abnehmen. Aber immer, wenn er ihn beinah zu fassen hatte, blies der Kleine auf einer Zahnkante, und der Schneider und alle Leute auf der Straße warfen die Arme in die Luft und mußten sich einen Augenblick um sich selbst drehen.

Trotzdem, der Sandheider hatte nur kurze Beine, und es war noch nicht sicher, wie die Sache für ihn ausgehen würde. Aber als er mit der schweren Beute schon schier außer Altem war, sah er, um eine



313 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa

Ecke rennend, den Gichtbrüchigen und seinen Hund auf sich zutappen. Flink lief er den beiden entgegen und versteckte sich in der großen buschigen Rute seines Freundes.

Auch Snied Snitters kam gleich danach, er klapperte die Straße ab, jammerte und bat alle Leute, doch nach seinem Zahn zu suchen, der ihm gestohlen sei. Aber sie lachten nur über den alten Geizhals, der sogar am Gebiß sparen wollte.

Während sich unser Sandheider nun noch verschnaufte, zogen der Hund und der Bettelmann die Straße entlang, ohne etwas Rechtes einzunehmen. Sie kamen dabei auch vor ein großes Fährhaus und wollten dort vor der Tür spielen. Aber nur wenige ente achteten auf sie.

Inzwischen merkte Stackel, daß Snied Snitters ihn wohl verloren hatte. Er hob vorsichtig den Kopf auf, um zu sehen, ob sein Feind: noch in der Nähe sei. Die Luft war rein, dünkte ihn; er kroch dem Hund also aus dem Pelz heraus. "Du pfeifst schlecht", sagte der Knirps zum Bettler, "deshalb nimmst du auch nichts ein." Und er legte Snied Snitters Zahn an die Lippen und begann zu blasen.

Hui, da fuhren die Menschen in die Höh! Der dicke Pförtner, der die Spielleute gerade verjagen wollte, wirbelte gleich auf einem Bein, alle Fahrer sprangen vom Bock und hüpften um ihre Wagen, solche Musik hatte man lange nicht mehr gehabt. "Wir wollen getrost hineingehen", sagte Stackel und setzte sich dem Hund zwischen die Ohren, "man wird mehr hören wollen.

Was für eine Verwunderung gab es, als der halbblinde Hund mit dem Bettelmann und einem winzigen Wicht in den vornehmen Fährhausgarten eintrat. Die Kellner rannten gleich, wehten mit ihren Tüchern und wollten die drei hinausscheuchen. Stackel lachte und blies ein wenig, da fingen die Fräcke zu hüpfen an, und alle Leute standen von den Stühlen auf, um zu sehen, was los wäre. Auch der riesige Hausknecht hörte von der Unordnung und kam zwischen den Tischen herbei. Er hatte eine barsche Stimme, und der alte Bettelmann suchte ängstlich den Ausgang. Aber Stackel blies einen Triller,



314 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa

und der dicke Mann lächelte und hob die Hacken. Und die Gäste, die noch auf den Stühlen saßen, rutschten hin und her, und die, welche den Hals gereckt hatten, um zu sehen, was es gäbe, mußten mitsingen, so herrlich klang es aus der sonderbaren Pfeife.

Alls sie merkten, daß ihnen nichts geschehen konnte, fanden die drei Leute Vergnügen an der Sache. Stackel blies wunderschön, und nicht nur die menschen, auch die großen Leuchter drehten sich bald in den Gehangen. Und die Wände wackelten, und alle Gäste, die im Fährhaus zusammengekommen waren, hopsten, schalten und lachten und konnten doch nicht aufhören; sogar der Bettler trampelte, und der Hund stand auf den Hinterbeinen. Da leitete Stackel die Freunde langsam zwischen den Tischen entlang, und der hüpfende Bettelmann hielt den Hut nach der rechten Seite und einen Teller nach der anderen. Die Groschen flogen nur so hinein.

Was wurde das für ein Abend! Immer mehr Leute versammelten sich; die Eulen und Raben, die in den Bäumen vorm Fährhaus saßen, fuhren nieder, und alle Frösche, die schon eingeschlafen waren, wachten auf und quakten von neuem. Danach ging es zur Pforte hinaus! Vier Straßenjungen liefen voran und riefen Hurra, in den Häusern öffneten sich die Fenster, begannen die Jungfern mit den Dienern zu walzen und die würdigen Bürger mit den Haustöchtern; sogar die Ratten kamen aus den Kellerlöchern, rannten quiekend zur Straße, und die Boote auf dem Fluß wandten den Bugspriet, um zuzuhören.

Und doch war das alles erst ein Anfang. Als der Zug auf den alten Marktplatz geriet, wurde es so arg, der hochebrwürdige Rat, der noch bis spät in den Abend unter dem hohen Turm tagte, mußte seine Sitzung unterbrechen; die Schreiber ließen Akten, Gesetze und Bürgschaften liegen und sprangen aus den Fenstern, um dabeizusein, aus Schenken, Wirtschaften und Gesellschaftshäusern aber strömte es und drehte sich und tanzte und jubelte wie ein wahrhaftiger Fastnachtszug.

Kein Mensch weiß auch, wie groß Glück und Unglück noch geworden wären, denn Snied Snitters Zahn gewann an Kraft, je mehr man darauf blies, und der kleine Stackel, der sich schon als König von Hamburg



315 H.F. Blunck Märchen -- Geschichte eines Zahnwehs Flip arpa

fühlte, dachte gar nicht daran, die Gewalt ans den Händen zu geben. Viele alte Gemäuer hoben sich aus der Tiefe, die Bäume zogen die Wurzeln aus der Erde, und vom Hafen stiegen die Wasserfrauen auf und platschten und patschten sich zum Marktplatz.

Wahrhaftig, niemand weiß, was daraus geworden wäre, wenn nicht Snied Snitters und seine böse Haushälterin eine schlimme List ausgeheckt hätten. Als die beiden, die noch immer nach dem kleinen Stackel suchten, nämlich das Geschrei und Gedränge und Tanzen vom Rathausmarkt hörten, dachten sie sich, daß der verlorene Zahn wohl dabei im Spiel sei. Sie liefen nach Haus, so rasch es ging, das unholde Weib mußte ihr Vogelgefieder anziehen, das sie unten in ihrer Truhe liegen harre, und Snied Snitters wies ihr den Weg dahin, wo Hund und Bettelmann und der kleine Stackel alle Welt tanzen ließen.

Und dann ist es geschehen, daß mitten im allerschönsten Lied eine große Ohreule niederstieß und den pfeifenden .Knirps mit seinem Zahn aufhob, um ihn nach Snied Snitters Kammer zu entführen.

Es ist aber doch nicht so leicht gegangen, wie der Schneider wohl gehofft hatte. Die Alte hat den Zwerg weder in ihr Haus tragen, noch ihm den hohlen Zahn abwünschen können. Der kleine Sandheider hat nämlich, als er von seiner Todfeindin in den .Klauen hochgehoben wurde, in seiner Angst aus Leibeskräften fortgefahren zu blasen, und die im Eulengefieder hat auch ihre Kreise in der Luft ziehen müssen. Dabei hat sie bald nicht mehr gewußt, wo sie den verwünschten Knirps und seine Pfeife absetzen sollte, hat am Ende weder Haus noch Baum unterscheiden können und ist schließlich taumelig und vielgeschüttelt über das Heidmoor gekommen, von dem aus der Riese Grindel den kleinen Stackel in die Stadt geschleudert hatte. Da hat die Eule endlich den Atem verloren, hat ihre Beute fallen lassen müssen, und der Knirps ist fast genau auf der gleichen Stelle gelandet, wo einst sein Loch gelegen hatte.

Was soll ich weiter erzählen? Snied Snitters hat seinen Zahn nicht wiederbekommen, das ist gewiß; wahrscheinlich wird der kleine Stackel ihn noch bei sich haben. Mitunter, wenn die Burschen und Mädchen draußen



316 H.F. Blunck Märchen -- Der Kulenkröger soll seefahren lernen Flip arpa

vorm Tor der Stadt tanzen, werden sie so unvernünftig, als blies solch Knirps und kein echter Spielmann ihnen auf. Mir ist es selbst so ergangen, als ich jung war.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt