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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Feinsmütterchen (Spiräe)

Da wohnte einmal eine reiche Ratsfrau in unserem Land, die kam in die Jahre und hatte keine Kinder. In einer großen Stadt voll kluger Menschen und schöner Straßen lebte sie und hatte viel Gut, viel Gesinde und viel Freundschaft zu eigen. Aber wie es so eines Tages brach die Furcht über sie ein, im Alter sehr einsam zu werden; sie verließ die Stadt und ritt durch viele Wälder, um Frau Holle zu finden, von der sie als Mädchen gewußt hatte. Und sie klagte der ihr Leid, daß sie so allein und ohne Kinder sei.



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"Nun, ich kann dir deinen Wunsch erfüllen", sagte die schöne Königin, du sollst noch in deinen Jahren fruchtbar werden. Aber meine Bedingung ist, daß du mit dem, was ich dir schenke, bei mir bleiben mußt, es könnte dir sonst Unglück bringen unter den Menschen.

Die Ratsfrau war froh, sie versprach gern alles, und so bezog sie ein schmuckes Haus draußen im Wald bei Frau Holle. Und als sie nach der ersten Nacht vom Schlummer erwachte, fand sie zwei knospende Wildrosen neben sich auf dem Lager, die hatte die Gütige im Schlaf aus ihren Wangen geschaffen.

Die Frau war indes unzufrieden und beachtete die Blumen kaum, solche Fruchtbarkeit hatte sie ja nicht gewollt. Und sie sagte es der Zauberin. Da fand sie, als sie am folgenden Morgen erwachte, vier weiße Birkenbäume vor ihrem Lager, die waren im Schlaf aus ihren Gliedern gewachsen. Aber die Einsame verachtete solches Geschenk, glaubte sich betrogen und weinte den ganzen Tag.

Am dritten Morgen lagen endlich zwei Knäblein ihr zur Seite, die hatte die hohe Königin ihr über Nacht werden lassen. Und die Ratsfrau war überglücklich, sie vergaß Rosen und Birken, blieb bei der gütigen Freundin Holle zu Gast, wie sie s versprochen hatte, und zog mit großer Liebe ihre Söhne auf. Es waren indes keine Menschenkinder, das merkte sie bald. Sie kleideten sich am liebsten wie Waldleute, spielten nachts auf den Wiesen und gingen oft den ganzen Tag auf den Seegrund zu Socken und Wasserjungfern. Sie hatten ja kleine rote Wundmale am Hals, die erlaubten es ihnen, in der Tiefe zu weilen.

Die Mutter aber, die von den Menschen stammte, ängstigte sich über solche Zeichen, und weil sie die Kinder von Herzen liebhatte, vergaß sie eines Tages das Mersprechen, das sie Frau Holle gegeben hatte, nahm ihre Söhne und kehrte mit ihnen in die große Stadt heim, aus der sie gekommen war. Und sie schickte die beiden auf hohe Schulen und rief berühmte Ärzte: die einen, um den Knaben über die Augen zu streichen, auf daß sie den Wald vergaßen, und die anderen, damit sie ihnen an der Kehle die Kiemenmale zuheilten, die Frau Holle ihnen beiden mitgegeben hatte.



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Die Jahre gingen; die Mutter wurde grau, ihre Augen waren müde, wie es der Menschen Schicksal ist. Aber die Knaben wuchsen heran, sie wurden groß und stattlich, und die Mädchen schauten ihnen nach und freuten sich an den beiden Söhnen der Ratsfrau.

Nun wurde um die Zeit davon gesprochen, daß die Leute in der Stadt zu viel lernten und rechneten und tüftelten und zu wenig vom wilden Wind auf dem Wasser und von Mittag und Mitternacht im Wald wüßten. Manche wanderten deshalb über Sonntag ins Freie. Auch die zwei Burschen hörten davon und quälten die Mutter oft, mit ihnen vor das Tor zu gehen. Aber die hielt sie sorgsam verborgen, sie fürchtete sich zu sehr vor Frau Holle.

Die Söhne ließen indes nicht ab, wieder und wieder nach dem Wald zu fragen, und eines Tages war es so weit, daß aus einer fremden Stadt Botschaft geschickt und die Frau mit ihren Kindern zu einem großen Fest eingeladen wurde. Da mußte sie sich doch aufmachen und fuhr mit ihren Söhnen eilig die Heerstraße entlang; sie hoffte wohl, big zum Abend in die andere Stadt zu gelangen.

Als sie aber kaum draußen im frühen Morgen waren, und die Lerchen aufstiegen, und die Blumen sich duftend öffneten, sprangen die Burschen schon zum Wagen hinaus, um all solche Buntheit zu begrüßen; so viel Herrlichkeit meinten sie ja noch nie gesehen zu haben. Und sie lockten die Hasen, statt sie zu jagen, und wußten gleichwie einst mit den Birken als Geschwistern zu reden.

Die Mutter entsetzte sich, sie rief ihre zwei Kinder, befahl ihnen einzusteigen, und sie fuhren wieder eilig eine Strecke Weges. Aber als sie an dem See vorüberkamen, an dem Frau Holle die Einsame beschenkt und in dem die Knaben einst gespielt hatten, da wurde der Vogelsang so hell, da würden die Farben der Blumen so leuchtend, da wich alles Wort der Menschen von den beiden Brüdern. Sie hörten nicht mehr auf das Flehen ihrer Mutter, sie schirrten die Pferde aus und fragten jeden Baum, wie es ihm ergangen sei, seitdem sie hätten in der Stadt wohnen müssen, sie kamen allen Tieren des Waldes nahe und vernahmen unter den weißen



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Seerosen Stimmen, die zu ihnen auf lockten. Kaum hörten die Burschen aber die Schwestern aus der Tiefe rufen, da hatten sie alles andere vergessen, sie stürzten sich wie einst in den See, um die Schönen zu besuchen. —

Die beiden Brüder sind niemals wiedergekehrt, die Male am Hals waren zu fest verschlossen, sie sind des Wassers nicht mehr Herr geworden.

Die Ratsfrau irrte noch viele Tage lang klagend am Ufer hin und her. Sie bot Fischer und gelehrte Männer auf und rief und rief zur Tiefe. Niemand antwortete indes. Und niemand vermochte die Toten zu finden.

Nacht um Nacht, Tag um Tag, viele Jahre lebte die Ratsherrin von da ab an jenem Wasser. Und sie weinte und wartete und wartete ohne Ende, aber ihre Kinder kehrten nicht zurück.

Endlich ist Frau Holle einmal des Wegs gekommen, sie wußte wohl von der Ungetreuen und fragte sie; "Hatte ich dir nicht gut geraten, bei mir zu bleiben?

Die andere nickte voll Reue, sie sah ihre Schuld ein; schon leuchtete ihr Haar wie silberner Schnee. "Ach", bat sie, "wenn ich meine Kinder auch nicht wiederhaben darf — wenn ich doch immer bei ihnen weilen könnte!

Da erfüllte die gütige Holle den Wunsch und verzauberte die Mutter in eine Blume, deren Füße nahe am Wasser stehen. Und ihre Blüte ist so weiß wie ein Frauenscheitel, sie duftet und wölbt sich und wächst und sät sich fort, den Menschen zur Freude.

Feinsmütterchen nennen wir sie und wollen der Hollin danken, daß sie Leid in solch blühende Pracht verwandelte.


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