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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Gericht der Tiere

Es war einmal ein Mann, der hatte eine kleine Rate am Waldrand und einen Acker dabei. Aber er hatte nicht viel Glück im Leben; er war jemand, der zuviel über die Gerechtigkeit dieser Welt nachdachte, stritt sich mit groß und gering, mit Tieren und unirdischen Wesen sogar und wollte jedes Unrecht, das getan wurde, bis zum letzten verfolgen, ohne daß er selbst das Recht seines Lebens gefunden hätte.

So kam es, daß er schließlich seine Hütte verlassen mußte, daß sein Weib von ihm ging und daß er einsam in den großen Wald floh, wo er sich von Jagd und Wurzelsuchen erhielt, ja auch die Wanderer überfiel. Er meinte, daß alles Leben schlecht sei und daß er sich an allem rächen müsse.



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Und niemand ließ ihn dafür entgelten. Vor den Häschern verbarg er sich; die Unirdischen des Waldes lachten nur, wenn die Menschen sich untereinander Böses antaten, und die Tiere wagten nicht, ihn zu verfolgen. Er war noch zu stark für sie und ihnen an Kräften über.

Endlich, als sein Haar schon ergraut war, wurde auch er siech und schwach. Da glaubten sie ihre Zeit gekommen und luden ihn vor, und der Mann mußte dem folgen.

Es gibt, das wißt ihr wohl, in jedem Frühling und in jedem Herbst und in jedem Wald und Brook Gerichtstage der Tiere, an denen neun von ihnen sich versammeln, um die Klagen von groß und klein anzuhören. Das war auch in dem wilden Hagen der Fals in dem der vertriebene Mann hauste. Unter eine ästige Buche luden die Herren ihn —Hund und Hase, Specht und Rehbock, Dachs und Igel, Molch und Eidechse —, wie gewählt waren.

Nun wollte sich an jenem Tag auch Frau Holles schwarze Katze, die als neunte zu den Geschworenen gehörte, rechtzeitig in den Wald begeben. Ihre Herrin sah, daß sie sich putzte, und fragte, wohin sie wolle. Da sagte sie es ihr. Die schöne Frau Holle aber wurde begierig, solches Gericht einmal anzuhören. Und die Zauberin ließ sich den Pelz ihrer Katze geben, tat ihn um und ging selbst an deren Statt.

Als nun die Stunde gekommen war und die Gerichtsboten die Schellen geläutet hatten, wurde als erster der Fuchs aufgerufen, gegen den viele Klagen erhoben waren. Aber Reineke wußte sich gut zu verteidigen. Sein Beruf zwänge ihn zu manchen Dingen, sagte er, die ihm selbst unlieb seien. Solle er indes Weib und Kind hungern lassen? Und er fragte die Zeugen so verwirrend, daß sie unsicher wurden und die Tiere ihn wieder einmal laufen lassen mußten.

Danach kam der kranke Manu, von dem ich erzählt habe. Auf den waren die Richter besonders zornig. Er hatte ihnen Jahre hindurch viel Böses getan, und ebenso leid war es ihnen um die Menschen, die er verfolgt hatte. Sie hielten ihm deshalb alles vor, was er ihnen zugefügt hatte.

Der Mann aber, das sagte ich schon, war ein Rechthaber, der sich nicht anklagen ließ, ohne selbs zu klagen.



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Und er rief mit lauter Stimme den Rehbock an: "Warst du es nicht", fragte er, "der mir mein junges Korn abweidete, so daß ich kaum genug zur neuen Einsaat erntete? Wie willst du über mich richten? Ach, so sanftmütig du tust, du hast schuld, daß ich so geworden bin!

"Und du", sagte er zum Dachs, "hast du nicht mein Feld unterwühlt, daß mein Kohl vertrocknete und gelb auf der Erde lag?

"Und du", fuhr er den Hasen an, "hast du nicht Kraut und Saat abgeäst, so daß wir hungerten und mein Weib mich verließ? Schlecht seid ihr alle, keiner hat mir je Gutes getan. Was wundert ihr euch, daß ich so mit euch umging, wie ihr mit mir? Ist es nicht das gleiche, den Nächsten mit offener Gewalt zu berauben, wie ihn so arm zu machen, daß er vor Hunger in Verzweiflung fällt?

"Jedermann hat Schlimmes und Gutes erfahren", mahnte jemand, du hast auch Gutes erfahren, Fremder, aber es ist die Art der Menschen, das zu vergessen."

Was er je Gutes erfahren habe?

"Hast du nie gesehen, wie grün die Bäume wachsen und wie fröhlich der Wind durch den Morgen braust?"

Nein der Grimmige wußte nichts davon, er hatte Tag und Nacht über sein Recht gegrübelt und geklagt.

"Hast du nie den Schall der Vögel gehört?"fragte es aue den Zweigen. Ist das nicht das Schönste, was den Menschen geschenkt ist?

Nein der Mann hatte keine Zeit gehabt, darauf zu lauschen. Er hatte an seine Vergeltung gedacht, da war sein Weib von ihm gegangen.

"Hast du niemals das Frauenspiel auf den Wiesen gesehen?" horchte die, welche im Kleid der Katze verborgen war.

"Ach", sagte der Mann, "in einer Nacht habe ich Frau Holle wohl vorbeifahren sehen, aber sie achtete meiner nicht, so elend und armselig schien ich ihr.

Als der Mensch mit dem ungeschnittenen Bart und dem verfallenen Antlitz so müde seines Lebens vor ihnen stand, als er immer noch haderte, daß Gottes Wille ungerecht sei, und nichts von dem schönen Wesen der



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Frühe und Späte spürte, da wäre beinahe das Mitleid über die Tiere gekommen. Aber sie dachten auch an alles Unheil, das er verübt hatte, und sahen einander an, um zu einem Spruch zu gelangen.

Nun war Frau Holle durch den Sinn gegangen, daß sie wirklich einmal an jenem wilden Gesicht vorübergefahren war, und es reute sie, daß sie des Menschen Einsamkeit nicht gelindert hatte, wie es ihr gütiger Auftrag von Gott ist. Sie warf deshalb das Kleid ab, das sie trug, und trat auf den Verlassenen zu. Und ehe jemand Einsage erheben konnte, strich sie ihm über die Stirn: "So schenke ich dir, bevor du den letzten Spruch zu erdulden hast, ein anderes Leben. Vielleicht daß du es besser zu wandeln vermagst Sie lächelte, während der Mann betäubt vor ihr niederfiel, in sein Herz hinein, um ihm Freude mitzugeben, von jener Freude, die wohl vergessen war, als er seiner Mutter Schoß verließ.

Und sieh, wo eben der kranke Mann gehadert hatte, stand ein Knabe, der verwundert um sich blickte, nichts von dem wußte, was hinter ihm lag, und nur mit Erstaunen auf die Tiere schaute, die ihm zunickten — ein Knabe, dessen Blick mit dem letzten Licht der Verwandlung noch Frau Holles Lächeln fing, das ihn fröhlich zu neuem Suchen und zu den Wegen mitleidiger Menschen heimschickte.


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