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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Die Geschichte vom Ahlbeerbusch

Der kleine Junge des Bahnwärters hatte sie indes springen sehen. Er wollte seiner Mutter

Wenn man nur Glück hat, dachte die kleine schwarze Ahlbeere, da sprang sie —witsch — der Bahnwärterfrau, die sie mit all ihren Geschwistern in den Einmachtopf werfen wollte, — witsch — zwischen den Fingern hindurch. Flink hüpfte sie auf den heißen Herd, was sehr weh tat, stieß sich arg an einer Kante und hatte doch immer noch solch Eile, daß sie — hupp — über die Türschwelle in den Garten kam.



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beim Einmachen helfen, wurde aber zur Seite geschoben, weil er immer im Wege stand. Jetzt möchte er zeigen, daß er doch nützlich sei, tappte durch die Küche, kletterte auf allen vieren über die Türschwelle und griff wahrhaftig nach der schwarzen Kugelrunden. Alls er sie mit seinen schmutzigen Fingern beinah erwischt hatte und die kleine Beere, die eben ihr Glück gepriesen, schon entsetzlich in Angst geriet, fiel ihr gerade noch ein guter Gedanke ein. "Paß auf", sagte sie leise, "die Glucke hat Kücken gekriegt, lauter gelbe piepsende Kücken.

Als das der Bahnwärterjunge hörte, ließ er Ahlbeere Ahlbeere sein, patschte sich hoch und wollte zum Hühnerhof. Aber weil er noch nicht so weit laufen durfte, steckte er nur beide Hände in den Mund und sah voll Verlangen zum Kakelstall mit den gelben Küchlein, fing an zu weinen und vergaß ganz, daß er die Ahlbeere hatte holen wollen.

Der sollte das Aufschneiden jedoch nicht recht bekommen. Kaum war sie den Jungen los, da kreiste brusebrusebrumm eine dicke Wespe gerade über ihrem Kopf. Wie fürchterlich hat sie sich erschrocken! "Bitte, bitte, tu mir nichts", sagte sie laut, so daß die Summende es hören mußte. Bitte, stich mich nicht, ich will dir auch verraten, daß hinter mir in der Küche all meine Geschwister mit Zucker eingemacht werden." Als die Wespe das Wort Zucker vernahm —hast du nicht gesehen —, weg war sie und zur Küchentür hinein, man hörte die Frau gleich schelten und mit der Schürze schlagen.

Die Ahlbeere kam indes immer noch nicht zur Ruhe. Kaum war sie den Quälgeist los, da stand ein ungeheurer Riese dicht neben ihr. Der Riese aber war der Stiefel eines alten Bettlers, der sich nicht recht in die Tür wagte, verlegen im Sand schurrte und so viele Löcher wie Zehen am Fuß hatte; es war drollig, den Stiefel anzusehen. Die kleine Ahlbeere hat denn auch alle Furcht vergessen; das schönste Loch hat sie sich ausgesucht, hat sich lautlos hineingerollt und ganz warm und behaglich neben der großen Zehe des Fremden eingehuschelt.

Es gibt indes keinen ungetrübten Frieden hienieden, auch nicht bei den Ahlbeeren. So gut der Platz war, solange der Bettelmann vor der Tür



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stand und um ein Stück Brot bat, so lebensgefährlich war es für die mutige Kleine, als der Schuh wieder in Bewegung kam. Das drückte und zwackte, das ruckte und krachte, das zwickte und schwappte, oh, der armen schwarzen Ahlbeere wurde siedeheiß vor Angst um ihr Leben. Alls der Bettelmann mit der bloßen Zehe gegen einen Stein stieß und den Fuß mit einer Verwünschung hin und her schlenkerte —witsch —, quetschte sich gerade noch rechtzeitig nach draußen und fiel, plumps, ins Gras mein.

Das schien nun endlich ein ungefährliches Vergnügen; wohlig und sorgenlos lag sie mitten im schönsten Sonnenschein zwischen den Halmen und ließ sich von allen Seiten bescheinen. Immer müßte es so bleiben, dachte die Ahlbeere und reckte und dehnte und schnupperte vorsichtig über die Erde, ob hier wohl der Boden sei, um einen großen neuen Beerenbusch wachsen zu lassen.

Aber was meint ihr? Ehe die Johannisbeere sich noch recht besonnen hatte, auf einmal, hupp, hatte eine Drossel auf und im Schnabel, um sie ihren Jungen zu bringen. Das arme Ding war außer sich vor Schreck; keinen Laut konnte es von sich geben, gleich neben einem zappelnden Wurm und einem Weizenkorn hing es im Vogelschnabel und flog, eng gedrückt und gezwickt, zum Busch hinterm Bahnwärterhaus. Nicht die Augen aufmachen konnte es vor Angst.

Die Drossel hatte sich aber wohl etwas viel zugemutet. Gerade über der Dachrinne krümmte sich der Regenwurm noch einmal erbärmlich; der Vogel wollte ihn fester packen, da rutschten ihm das Weizenkorn und die schwarze Ahlbeere aus dem Schnabel und hüpften, so schnell sie nur konnten, davon. weg waren sie! —

Nun wollen die Wunder mitunter ja nicht aufhören. hatte der gute Pullemann Puk, der bei Bahnwärters unterm Dach wohnt — ihr wißt, ein grauer kindsgroßer Alter mit einer roten Mütze —, da hatte Pullemann Puk in der Dachrinne gerade Besuch von zwei Neffen, von zwei Rullerpuckern drüben vom Bahnhof. Die Rullerpucker sind ja noch kleiner als Pullemann Puk. Ihr habt vielleicht von ihnen gehört, hausen



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unter den Eisenbahnwagen; kein Zug kann abfahren, ohne daß sie ihr Kullerdipuck, Kullerdipuck dazu abgeben.

Was sagte ich eben? Zwei von diesen Flegeln von Kullerpuckern waren gerade zu der Zeit, wo meine Geschichte von der Ahlbeere spielt, zu Besuch bei ihrem Onkel gekommen; Ohm Pullemann hatte früher einmal rote Grütze für sie gehabt, das wußten sie noch. Nun, die beiden Rullertjes langweilten sich sehr, weil Ohm Pullemann heute keine rote Grütze hatte. Der Graukopf wollte sie auch nicht in seiner guten Stube haben. So schickte er sie in die Dachrinne, um Kriegen zu spielen. — Es ging etwas gefährlich zu, Dachrinnen sind gewiß kein Platz zum Laufen und Jagen. Aber der alte Wann war froh, daß sie sich beschäftigten.

Da fiel nun, gerade als die Rullerpucker sich wegen des Antickens in den Haaren hatten, eine schwarze Ahlbeere mitten zwischen ihnen nieder.

Was haben sie für Augen gemacht! Das hatten sie noch nicht gewußt, daß bei Ohm Pullemann Puk solche Dinge vom Himmel regnen. Lange sahen sie sich das Sunder an, einer hinter den andern gedrückt. Endlich wagte der Ältere sacht mit der Hand daran zu stoßen. Die kleine Ahl: beere lief höflich einen Schritt weiter. Gleich wurde der Knirps mutig und schlug mit dein Holzschuh hinterdrein, so wie er es bei den Menschen gesehen hatte. Schwapp, flog das arme schwarze Ding in die Luft und trudelte, so weit es ging, die Dachrinne entlang. Jetzt hatten die beiden es erfaßt. Die Jüngere holte den Fußball ein und schubste ihn zurück, es gab ein fürchterliches Hin und Her über Pullemanns Wohnung; immerzu in Purzeln und Torschießen ging es auf und ab, die Bengels wußten sich kaum zu halten vor Vergnügen, obschon es für die Ahlbeere keine Freude war, mit den groben Holzschuhen getreten und gestoßen zu werden.

Als es nun dämmerig wurde, die grauen Moornebel aufwachten und der Lärm in der Dachrinne sich wieder verschlimmerte, wurde es sogar dem guten Ohm Pullemann zuviel. Er schob sich aus seiner Kammertür, stand auf einmal hinter dem einen Torwächter, als der gerade die Ahlbeere



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fangen wollte, und nahm den sonderbaren Fußball selbst in die Hand, um ihn sich näher zu betrachten.

"Gaat na Huus, Jungens!"mahnte er.

"Och nee und och nee", jammerten die, und Ohm Pullemann sollte wenigstens noch einen einzigen Spaß mit ihnen machen.

Der Alte hatte keine Lust, aber er sah ein, daß er das Gelichter nicht anders loswürde. Und weil von unten gerade ein paar Nebelriesen träg und strähnig die Straße heraufkrochen, langte er nach dem Rücken, wo er sein Pusterohr hängen hatte, paßte sein Geschoß ein — es ging auf ein Haar — und blies die Backen voll, daß es kaum zum Ansehen war.

Und dann, just als so ein Nebelgreis vorbeikam —ihr wißt, Pullemann hat eine alte Feindschaft gegen die vom Moor —, zielte er scharf und pruschte ab. Was glaubt ihr wohl? Die kleine schwarze Ahlbeere flog dem Riesenkerl genau ins linke Ohr hinein und dann zum rechten wieder hinaus und noch weit, weit fort ins Land, —Der Graue ist stehengeblieben, hat sich verwundert mit dem Finger im Ohr getuppt, hat den Kopf geschüttelt und sich umgeguckt. Er hat jedoch nur die beiden Rullertjes gesehen, die vor Vergnügen kreischten und von einem Bein aufs andere sprangen. Da hat er etwas von dummen Jungen gebrummt und hat sich weitergeschleppt.

Aber ich wollte von der kleinen Ahlbeere erzählen. Ja, die nach jener Fahrt aus Ohm Pullemanns Rohr geradeswegs in ein wundervolles Versteck hineingerollt, just so eins, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Da hat sie im Frühling einen Busch mit Blättern getrieben, der Busch hat nach sieben Sommern zu blühen angefangen, die Bienen summen darin, und er duftet und gibt einen herrlichen Schatten.

Ich lag nämlich noch jüngst unter ihm und bin gar nicht mehr erstaunt, wie er in das wilde Moor kam. Er hat mir die ganze Geschichte erzählt.


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