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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Das Kindlein findet zu den Menschen zurück

Da waren einmal junge Eheleute, die glücklich miteinander lebten; aber sie hatten keine Kinder. Mann und Frau haben jedoch viel Verlangen danach gehabt und waren traurig, sobald sie darüber sprachen.

Nun besaßen die zwei einen Wagen, mit dem sie jeden Sonntag ins Land hinausfuhren, um Kirchen und Schlösser zu besehen; der Mann war ein gelehrter Herr und schrieb Bücher über dergleichen Dinge,



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Eines Tages kamen sie in einen kleinen Ort, in dem ein berühmtes Gehöft liegen sollte. Es lebten in seinen Giebeln und Schwellen aber auch viele Rotmützen, wie es oft in altem Gemäuer ist.

Als der Mann sich nun die Stätten besah, die er suchte, und die Frau währenddessen beim Wagen wartete, wurde sie auf einmal des Muckerpuckers gewahr — das ist der kleine Wicht, der unter den Achsen des Wagens wohnt. Er verschnaufte vom langen Fahren, scherzte mit den Knirpsen in den Dachluken und lehnte blasend am Trittbrett. Die Frau war so erstaunt, ihn zu sehen, daß sie ihn gleich ansprach. Und weil er höflich antwortete und sie im Lauf der Unterhaltung Vertrauen zu ihm gewann, der ihnen doch immer wacker und gut geholfen hatte, und weil sie auch wußte, daß er ihr und ihrem Mann bei allen Gesprächen zugehört hatte, kam sie auf Dinge zu reden, die sie sonst vor fremden Leuten nicht berührt hätte.

"Ach", scherzte sie, "du wärst mir ein wenig zu klein, Muckerpucker, aber wenn ich jemand fände, doppelt so groß wie du bist, so ein richtiges Menschenkind, wie froh würde ich da sein!" —

Des andern Sonntags, als sie wieder hinausfuhren und der Mann eine alte Kirche aufsuchte, sah die Frau den kleinen Wicht zum andern und redete ähnlich mit ihm. Und als sie einen dritten Sonntag unterwegs waren, geschah das gleiche:

"Ach, Muckerpucker, weis' uns doch einmal, wo ein Findelkind am Mea liegt, ich hob' es gerne auf!

Aber der Knirps antwortete wortkarg; vielleicht war er jemand, der nur mit seiner Maschine Bescheid wußte, vielleicht wollte er bedeuten, daß es eine weite Kluft von den Menschen big zu seinesgleichen ist.

Als sie am vierten Sonntag haltgemacht hatten und der Gelehrte ausgestiegen war, um Türen und Truhen zu besehen, stand der Kleine auf einmal wieder neben dem Weib. Er machte diesmal ein sehr listiges Gesicht, sie merkte gleich, daß er ihr etwas erzählen wollte. Gerade da kehrte ihr Wann zurück; er ließ fallen, daß er eine besondere Spur habe und weiterfahren wolle.



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Es war aber ein verwunschenes Städtchen, in dem sie weilten, eines von denen, die allerlei Wunderlichkeiten erwarten lassen. Die Frau hätte wohl bleiben mögen, sie wußte es indes nicht zu begründen; vom Muckerpucker wagte sie nichts zu verraten, sie fürchtete vielleicht, er würde sich ihr sonst nicht wieder zeigen.

Kaum aber hatten die beiden Reisenden das Städtchen hinter sich —oder eigentlich waren sie noch am letzten Haus —, auf einmal sprang der Wagen ein Stückchen seitab, als wäre er in ein zweites Gleis gefahren oder auf eine Straße, die eine Handbreit über oder unter ihnen entlang führte. Mann und Frau sahen sich verdutzt an, es war, als hätten auch sie sich verändert. Sie konnten es kaum glauben und erstaunten über den Wagen, der doch genau derselbe wie eben war, hätte er nicht plötzlich die Größe eines Kinderspielzeuges. Und die Äpfel an der Straße schienen goldgelber und blutroter als vorher im Menschenland. Alle Höfe, die am Weg standen, waren älterlich und klein, und statt eine Heide zu überqueren, wie es die Landkarte wies, fuhren sie bald wieder in eine Ortschaft hinein, in der waren die Häuser nur sechs Schuh hoch und die Fenster daumengroß und die Hühner wie Spatzen und die Ochsen wie Ferkel mit Hörnern. Es war überhaupt alles so verwünschen und abenteuerlich, der Mann wollte schon den Wagen anhalten, er glaubte, er hätte eine falsche Brille aufgesetzt oder sei zwischen den Augenlidern verhext. Aber die Räder rollten trotz Bremsens noch rasch so weit, daß sie bis vor ein wunderschönes Burgtor kamen; Türme und Zinnen ragten dahinter auf.

Alls der Mann sich nun noch verwahren wollte, die Frau festhielt, damit sie nicht ausstiege, und vor dem Spuk Gag gegeben hätte, trat aus dem Schlosse mit festlichem Gefolge ein eisgrauer Unterirdischer; es war, als hätte er die Menschen schon erwartet. Neben ihm aber schritt die Königin, die war viel größer als er selbst. Die beiden Verfahrenen sahen gleich, es war ein Mädchen von oben; dieser Wichtelkönig hatte eine Frau aus unserer Welt, und bei allem Schreck freuten der Gelehrte und sein Weib sich doch, daß sie jemand hatten, mit dem sie ein Wort wechseln und den sie nach dem Weg fragen konnten.



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Sie winkten deshalb der Königin und riefen, sie möchte ihnen doch helfen und Bescheid geben, wie sie aus diesem Spuk wieder zu den Menschen zurückkommen könnten.

Inzwischen hatten aber schon sieben Diener feierlich die Tür des Wagens geöffnet; der kleine Muckerpucker stand mitten unter ihnen, er grinste die Frau des Gelehrten an und zog höflich die Mütze. konnten nicht so unfreundlich sein, sitzenzubleiben.

Die Königin sagte auch, sie freue sich sehr über den Besuch; aber sie schien gar nicht so verwundert wie der gelehrte Herr und sein Weib. Dann winkte sie, und die Gäste mußten dem Zwergkönig und seiner Frau über drei Treppen und durch viele Gemächer in einen großen Saal folgen. Wieder war alles gedeckt, als hätte man die Fremden feierlich erwartet. Die Königin schickte sogar nach ihren Kindern, — ein kleiner Zwerg, zwei kleine Zwerge, drei, vier, fünf, sechs kleine Zwerge, alle genau wie der Vater. Aber das siebente und jüngste war schon zweimal so groß wie die Geschwister, es war ein Menschenmädchen geworden und nach der Mutter geschlagen! Blaß und hager sah es aus —solche Kindlein können da unten ja nicht leben noch sterben.

Daß diese Unterirdischen soviel Söhne und Töchter haben, dachte die Frau, und ich empfing kein einziges!



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Sie begrüßte die Kleinen trotzdem freundlich, ließ sich zwanzig Herren des Gefolges vorstellen und nahm mit ihrem Mann auf sehr zierlichen Stühlen an der Tafel Platz. Diener trugen das Essen auf, winzige Schüsseln und Teller, es waren indes zusammen so viele Gerichte, daß sie schließlich doch satt wurden.

"Jetzt müssen wir aber heim", sägte der Gelehrte auf einmal und wollte höflich aufstehen. Ihm war noch immer sehr irr und wirr zumute, er glaubte, er hätte einen bösen Traum, dem er nicht entspringen konnte. Der Frau war die Gesellschaft indes recht nach ihrem Herzen; sie möchte noch dableiben, sann immer über das siebente Kindlein und fragte dies und das und wie es denn hieße.

Ja, sagte der Zwergkönig lauernd, sechs hätten rote Backen. Nur mit dem Letzten sei es schlimm bestellt. Und leise fügte er hinzu: es werde wohl sterben müssen, wenn nicht ein Wunder geschähe. Die Königin hob rasch ein Taschentuch vor die Augen, alle Leute blickten das kranke Mädchen an.

"Wenn ich es doch eine Meile mitnehmen könnte", seufzte die Frau des Gelehrten, "ich würde schon dafür sorgen, daß euer Kindlein rote Backen bekommt.

Kaum hatte sie das gesagt, da war es, als sei wieder alles längst vorbereitet und man habe nur auf ihren Wunsch gewartet. Der Zwerg hob die Tafel auf, drückte den Gästen die Hand und entließ sie mit einigen altertümlichen Worten; die Diener geleiteten sie treppab und rissen vor den Fremden die Türen auf. Und der Mann, der blitzschnell in den Wagen sprang und ihn kaum rasch genug in Gang bringen konnte, brauste davon, als könnte er damit die ganze Hexerei hinter sich lassen. So glauben's die Unvernünftigen ja allzu oft.

Aber zwischen den beiden, was meint ihr, saß wohlverwahrt und mit einem goldenen Ranzen auf dem Rücken das siebente Kind, das die Menschenfrau geboren hatte. Und je rascher die gelehrten Leute fuhren und je eiliger sie es hatten, wieder in ihre Schicht zurückzugelangen, desto fröhlicher lachte es die beiden an; es merkte vielleicht, daß es in seine Heimat



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kam. Und auf einmal war der Wagen da, wo er bei der Hinfahrt über die Schwelle gesprungen isar, es gab einen Krach, daß die Federn schier barsten.

Dann war alles echt und wirklich, sie waren wieder in dem Städtchen, von dem sie aufgebrochen waren; ein Schutzmann stand und winkte mit dem Notizbuch, die Leute in den Haustüren waren richtige Menschen, und der Wagen war genau der gleiche wie früher. Aber zwischen Mann und Weib saß noch immer das fremde Kind und hatte rote Backen. Und vor ihnen auf dem Kühler grinste einen Augenblick lang der Muckerpucker. Er lachte die Frau wie ein Schelm an, rückte dem Mädchen zu und war dann mit einem Satz vorn unter den Rädern verschwunden, so daß der gelehrte Herr, der glaubte, er würde ihn überfahren, vor Schreck zum zweitenmal über den Kantstein eckte.

Was soll ich noch erzählen? Nie wieder haben die beiden den Weg zu den Unterirdischen zurückgefunden. Es ist dabei geblieben, daß, wie aus dem leeren Raum heraus, sagt der Wann, auf einmal ein Findelkindchen zwischen ihnen im Wagen gesessen hat, das hatte ein Ränzel voll Goldstücken auf dem Rücken und war in Tücher gehüllt, die so fein gewirkt schienen, wie Mondlicht im Nebel schwebt. ) Mitunnter, wenn die Leute wegblicken, guckt wohl noch einmal der Muckerpucker mit halbem Gesicht vorn über den Kühler oder unter der Wagennummer hervor, um zu sehen, wie es allen geht. Aber er will sich nicht viel zeigen, er will ja nicht gefragt werden, woher das Kindlein stammt.


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