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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Das verzauberte Reich

Weitab von den Menschen zwischen Kiefern und Heidewald wohnte ein alter Siedler mit seinen drei Söhnen. Er war in jungen Jahren von der Stadt herübergekommen, hatte mit seinem Weib die Hütte aufgebaut und so viel Land umgebrochen, daß sie davon leben konnten. Viel hatte er arbeiten müssen sein Leben lang und war selten über den Rain seines Ackers hinausgeschritten. Deshalb graute ihm auch vor einem Hagen, der wie ein dunkler Molchrücken sich nach Westen hinzog. Die Leute sagten, dahinter stimmten die großen Wandkarten des Schulmeisters nicht, man könne unendlich weit wandern und käme in ein Land mit schönen Burgen und verzauberten Reichen. Andere aber meinten, hinter dem Hagen läge ein tiefes Meer, in dem jedermann elend ertrinken müsse, auch wenn er den Pfad durch den Maid gefunden und die Unholde am Weg überwunden hätte. Ihr könnt begreifen, der Alte hatte nicht viel Lust, sich dahin zu wagen.

Als seine Jungen aber aufgewachsen waren, als der Busch rund um die Hütte spärlich wurde und nicht einmal zum neuen Schafstall reichte, baten die drei den Vater, mit ihnen zum Wald zu gehen, um Holz zu hauen.

Nun hatten die Söhne in der gleichen Nacht einen wunderlichen Traum. Sie standen noch vor ihrer Rate, da sahen sie quer durch den fernen Hagen hindurch bis zum Meer. Mitten im Wasser lag eine Burg, vor der ein wunderschönes Mädchen mit seinem Hofstaat Ausschau hielt. Es war sogar, als winkte es ihnen. Da tat sich das Burgtor hinter ihm auf, die Fremde wandte sich traurig. Und die Schläfer sahen



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durch das Tor hindurch einen alten König am Tisch sitzen und neben ihm einen dunklen Riesen, der das edle Fräulein rief.

Sie verbargen den Traum voreinander, aber sie sprachen sehnsüchtiger davon, daß es Zeit würde, zusammen zum Wald zu gehen, um Holz für den Schafstall zu schlagen. Mittags hielt es der älteste der drei Brüder nicht mehr aus, er brach auf, den Pfad zu jener Fremden zu suchen; er fürchtete, ein anderer könnte ihm zuvorkommen.

Gegen Abend gelangte er zum Waldrand. Da stand ein riesiger Stein mit einem menschlichen Kopf und fragte jeden Vorbeigehenden nach seinem

"Holz hauen will ich", sagte der Siedlerssohn.

Da grinste der Kopf, weil er jemand bei einer Lüge überrascht hatte; er schüttelte sich, der Fels barst entzwei, und ein gelber Sandkerl machte sich auf und davon. Der arme Bursch aber spürte, wie er erstarrte, wie er selbst zu dem steinernen Gesicht wurde und rührlos am Weg stehenbleiben mußte.

Als der Bruder zum Abendbrot nicht heimkam, wußten die andern, daß er zum Wald aufgebrochen war; sie wurden scheelsüchtig oder traurig und fürchteten, daß ihm etwas zugestoßen sei. Aber sie vermochten doch nicht, miteinander über ihre Gedanken zu sprechen, jeder hoffte, daß es ihm selbst einmal gelingen würde, das Mädchen zu finden, von dem er geträumt hatte.

Anderntags bekam der zweite Bruder solche Sehnsucht nach der Fremden, er nahm die Art auf die Schultern und ging heimlich den gleichen Pfad wie der ältere. Er sah den großen Stein am Weg liegen, in dem sein Bruder gefangen war, aber der erkannte ihn und ließ ihn vorbeischreiten. Als der Bursch jedoch das Walddickicht betrat, beugte sich ein knorriges Gesicht oben aus einer Buche zu ihm nieder und fragte herrisch nach seinem Begehr.

"Holz hauen will ich", log er.

Da hob ein Drull hohnlachend die Fäuste, trat aus dem Stamm heraus und lief eiligst davon. Und der Bursche fühlte, wie ihm die Füße ein



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wurzelten, wie sein Gesicht und sein Leib sich lang zogen und wie er selbst zum Baum wurde.

Als auch der zweite nicht heimkehrte, verzagte Iwer, der dritte Bruder, und mußte lange nicht, was er beginnen sollte. Er war ein junger Fant, täppisch und unentschlossen, und wagte sich noch nicht allein vom Hause fort. Sein Vater fragte ihn oft, wohin die anderen Brüder gegangen
waren. Iwer wußte es nicht, er sagte aber auch nichts von seinem Traum, es war, als würde er alles verlieren, wenn er ein Wort davon verriet.

Endlich konnte er die Trauer seines Vaters und die Sehnsucht nach der Unbekannten jenseits des Waldes nicht länger ertragen; er machte sich auf den Weg, um nach seinen Brüdern Ausschau zu halten und das schöne Fräulein zu sehen.

Ehe er aber ging, suchte Iwer, womit er sich der Fremden gefällig erweisen könnte. Er fand nichts Rechtes



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und nahm darum ein paar Glasperlen mit, die seine Mutter ihm hinterlassen hatte, zwei bunte Schuhschnallen und einen kleinen schmalen Ring, den sie mittsommers getragen hatte, wenn sie mit ihrem Mann ins Dorf zu Besuch ging.

Damit wanderte der junge Iwer klopfenden Herzens seines Weges. Er sah auch den riesigen Stein, aber sein Bruder, der ihn wohl hätte anhalten müssen, tat ihm nichts. Er sah den Baum wie ein Menschengesicht am Waldeingang, aber obschon sich jemand darin rührte, kam er glücklich vorbei. Dann lief der Bursch die ganze Nacht durch den Hagen und erreichte in der Frühe das Meer, so wie er geträumt hatte. Als er sich da nun umschaute, wie er wohl weiterkäme, saß ein Seewiweken, das ist eine kleine Meerminne, halb vergraben im Strand und lachte ihn an: "Wohin willst du?

"Holz hauen!" wollte Iwer sagen, aber es war, als lauerte die Nixe schadenfroh auf etwas, das ihn in ihre Macht gäbe. Er fragte sie deshalb lieber, wo er eigentlich sei und ob er ein paar Perlen hier irgendwo zur Nacht einkehren könnte.

Die Glasperlen wollte die Frau gleich sehen, sie erblickte auch den kleinen Ring und die Schnalle und bettelte sehr darum. Da schenkte Iwer ihr eins nach dem andern, und sie gab ihm einen Laib Brot, eine Feldflasche mit Milch und einen Beutel Tabak. Dabei lachte sie und sagte, er werde das wohl nötig haben, aber mehr dürfe sie nicht verraten. Dann wieg sie ihm einen Pfad und grub sich flugs wieder in den Sand ein, ehe er von neuem fragen konnte.

Als der Bursch nun den Scharweg weitertappte und Umschau hielt, sah er einen alten Nachen im Schilf liegen. Und weil es inzwischen Abend geworden war, rastete er und ruderte, um's einmal zu versuchen, auf See hinaus, so recht ohne zu wissen, wohin es ginge.

Es war aber ein zauberisches Fährboot, das er gefunden hatte. Kaum hatte er abgestoßen, da begann es ohne Aufhören rasch und rascher das Mondlicht zu durchfahren, neigte sich und schnitt, ohne daß es zu merken war, schnurgerade in die Tiefe hinab.



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Endlich setzte es Iwer vor einem großen Burggarten ab, den liefen viele Schiffe mit Reisenden und Knechten an; es fiel gar nicht auf, daß ein Fremder gekommen war.

Der junge Bauer mengte sich unauffällig unter die Burgdiener, und weil er Hunger und Durst hatte, setzte er sich zu einigen riesigen Wassermännern, die in der Vorhalle zechten und es sich wohl sein ließen. Sie nahmen ihn gut auf, tranken und würfelten mit ihm, und einer der Socken gab dem Burschen sein altes Wams, als er verlor. Da sah Iwer beinahe den wilden Wachtkerlen gleich. Nur von seinem Gesicht wußte er wenig, und Spiegel gab es in der großen Vorhalle nicht. Er meinte aber, daß er ebenso feiste Backen wie die Knechte und Vortrinker hätte.

Als die Wasserleute nun auf die Wache verteilt wurden, lief er noch unter ihnen und bekam einen Posten an der Schloßmauer, dicht vor einem Gitter aus Mondstrahlen, das den Innenhof der Burg verschloß. Da sollte er zwei Stunden stehen.

Es wurde ihm ein wenig unheimlich dabei. Wenn Iwer zur Seite sah, schien jemand durch die Vergitterung nach ihm auszuschauen. Aber immer, wenn er sich wandte und die glitzernden Stäbe prüfte, war das Gesicht verschwunden; nur ein Seufzen blieb zu hören. Einmal, als er nahe vorbeischritt, vernahm er eine leise Bitte um etwas Brot. Dem Burschen fiel ein, daß er noch einen Laib in seiner Wandertasche hatte, die Meer- minne hatte es ihm ja mitgegeben. Er brach also ein Stück davon ab und reichte es durchs Gitter. "Hier, armer Umgänger", sagte er, "hungern sollst du nicht!

Kaum hatte er es getan, da erblaßte das Mondlicht ein wenig, und er sah eine Jungfer, die das Brot von ihm nahm und es einem sehr schönen Fräulein brachte, das hinter ihr durch den Burggarten wandelte. Da wurde dem Wächter feierlich zu Sinn. Er erkannte die Fremde aus seinem Traum, grüßte und seufzte von Herzen, um ihr zu zeigen, daß er um ihretwillen gekommen sei. Zu reden wagte er nicht recht. Aber die Königstochter schien wohl Bescheid zu wissen, nickte freundlich, und als er sein Gesicht ins Gitter zwängte, trat auch sie heran, streichelte ihn und



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erzählte ihm, sie wohne schon, solange sie denken könnte, in diesem riefen Schloß. Ihr armer Vater und sie seien einst von der hellen Erde hierher verwünschen. Und nur alle Jahre einmal dürfte sie den Menschen durch ihre Träume eilen.

"Hast du es denn nicht gut?" fragte Iwer; ihm schienen Burg und schöne Kleider recht begehrenswert.

Ach, seufzte das Fräulein, was gäbe es darum, wieder auf der sonnigen Erde zu sein. Atm schlimmsten wäre aber, daß ein großer, schwarzer Wasserkönig um sie freien wolle. Da möchte sie lieber sterben. Während sie so sprach, verlor sich ihr Gesicht. Der Bursche mußte sich eilen, ihr ein neues Stück Brot zu brechen.

Noch als er's versuchte, hörte er andere Stimmen um einen Krumen flehen; ihm wurde unheimlich zumute, er spürte, daß er wohl etwas Verbotenes tat. Kam auch schon ein böser Ruf aus der Tiefe des Schlosses näher, alle Schatten und Gesichter flüchteten erschrocken und warnten ihn. Da ließ Iwer Wache Wache sein, warf das Wams ab und verbarg sich in den wilden Seegräsern, die weiter ab auf dem Grund wuchsen. Einen ganzen Tag blieb er in seinem Versteck.

Am Abend aber kamen Brunnenbohrer vom Schloß, die hatten zu sorgen, daß auf dem Meeresboden gute Quellen sprängen; sie fanden Iwer und herrschten ihn an, er solle hier nicht faul herumtreiben, sondern mithelfen. Hatten auch gleich genug Werk für ihn; in tiefe Schächte stiegen sie hinab, Salzlager waren da angeschlagen, Brunnen strömten mit großer Gewalt aus den Gründen auf. Aber die Wächter waren nicht zufrieden; Sonne und Mond tranken zuviel von dem Zaubermeer, in dem sie lebten, sie mußten hurtig am Werk sein und tauften und gingen mit Ruten über den tiefen Grund und klopften wieder die Schächte nach neuen Salzen und Quellen ab.

Viele Wochen blieb Iwer bei ihnen, er gewann das Vertrauen der Leute und lernte Stollen unterm Meeresboden treiben. Mitunter kam ein alter Bag und sah sich seine Arbeit an, oft war er ganz allein. Er hatte aber nicht fern von der Burg zu tun, und als der Aufseher wieder einmal



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bei ihm gewesen war, packte ihn solche Sehnsucht nach der Stimme des Fräuleins, dem er sein Brot gegeben hatte, er schlug sich heimlich einen eigenen Schacht just unter die großen Burgmauern, verstopfte den Zugang, so daß niemand ihn verfolgen konnte, und kam um Mitternacht wirklich ins Freie; gerade in der Kammer der Königstochter stieg er hoch. Aber helfen konnte er nicht, auch war ihr Lager ganz von silbernen Stäben umschlossen, er hörte nur ihr Seufzen und ein feines Schluchzen. Da rief er leise hinüber: "Willst du Brot haben?

"Ach ja, Brot, und noch lieber ein wenig Milch dazu, damit ich wieder Blut gewinne wie die Menschen!" Iwer reichte flink seine Feldflasche durch die Stäbe und wollte schon den Mund dazu spitzen. Da kam ein fremdes Rollen und Poltern, die grünen Augen eines Wächters näherten sich, wütend und bösartig. Der Bursch machte sich eilig von dannen und war, gerade als der Hauerbas wieder nach ihm fragte, an seinem alten Werkplatz.

Als Iwer in der nächsten Nacht, noch leiser als zuvor, den Weg zur Königstochter suchte, blieb in der Kammer alles still. Da wurde der Bursche besorgt und rief überall durch den Raum. Niemand antwortete ihm. Endlich schlüpfte jene kleine Jungfer, der er das erste Mal Brot geschenkt hatte, wie zufällig bei ihm entlang, entsetzte sich sehr, als sie Iwer sah, und fragte, ob er denn nicht in der Frühe Hochzeit halten wolle. "Davon weiß ich nichts", sagte er traurig, "aber vielleicht holt man mich noch.

Da rang die Zofe die Hände, erzählte mit fliegendem Atem, es sei einer da, der ihm gleich sähe und dem das Fräulein sich verlobt habe. Was nun zu tun bleibe? Gewiß sei da ein böser Betrug im Gang!

"Ja, was ist zu tun?" klagte Iwer und machte ein sehr trübseliges

Ob der Herr nicht Milch und Brot gebracht habe?

Das hätte er getan!

Ob er noch ein Drittes wüßte, um dem armen Fräulein weiter zu helfen?

Tabak werde wohl nicht rauchen, fragte Iwer und dachte an die drei Geschenke des Stadenweibchens.



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Die Zofe glaubte, er wolle sich über sie lustig machen, und lief klagend auf und davon. Der Bursch überlegte hin und her, was da zu tun sei, nahm selbst sein Pfeifchen, stopfte von dem nutzlosen braunen Kraut hinein und zündete es an.

Da ging der Hauerbas durchs Schloß und sah ihn nicht.

Iwer glaubte, der andere sei blind geworden, und rief ihn; aber der Bao starrte nur erschrocken an ihm vorbei.

So merkte der Bursche, daß der Tabak auch seinen Zweck hatte und daß der Rauch ihn unsichtbar machte. Erstaunt ging er weiter, stapfte durch den Garten, über dem hoch oben das Wasser wie Wolken stand, und prüfte, ob wohl jemand seiner gewahr würde. Dann schritt er frech durch das große Schloßtor. Und nicht einmal die rote Leibwache des Wasserkönigs erkannte ihn. Das machte den armen Werber so vergnügt, er überlegte schon, wie er sich zu seiner Liebsten durchfragen könnte.

Im Schloßinnern war aber ein mächtiges Laufen und Rennen zu einem großen Fest. Aufträger eilten mit Braten und Tellern hin und her, die Schlote qualmten, niemand hatte Zeit für den Armen.

Erzürnt trat er in die Küche ein, um zu sehen, welchen Weg die Diener nähmen. Die Köche brutzelten und brieten, daß es eine Lust war, alle Töpfe schmorten und zischten, es war ein Lärm, daß man sein eigenes Wort kaum verstand.

Als Iwer nun so zwischen den Leuten entlang lief, stolperte jemand über seine Füße und



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stieß einen großen Kübel Wasser über den Herd. Da erlosch das Feuer und qualmte gewaltig, alle Köche schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Unser Iwer aber hatte gelernt, er schmiß Pfannen und Platten um, daß es in der Küche wimmelte wie in einem Ameisenhaufen. Dann ging er rauchend vor die Tür, warf sie zu und tat von außen drei Riegel vor, so daß der Sumpf aus allen Spalten pfiff.

Der Bursch suchte jetzt die Treppe zum großen Saal. Dabei hörte er zwei Stufen miteinander reden. "Ach", trauerte die eine, "daß die arme Königstochter jetzt doch den Wasserkerl heiraten muß!

"Und es ist schon ein Mensch so weit gewesen, daß sie Milch und Brot von ihm bekommen hat", sagte die andere.

Aber gegen den Trugspiegel des Wasserkerls kommt doch niemand an!

Was ist das für ein Spiegel? dachte Iwer und horchte aufmerksam. Was ist das für ein Spiegel?"fragte auch eine dritte Stufe.

Ach", seufzte die erste, "da meint die arme Prinzessin, daß sie den heiratet, der ihr Milch und Brot gebracht hat. Das macht, weil der Wasserkerl den Spiegel bei sich trägt, da sehen ihn alle für einen jungen Wachtmann an.

In dem Augenblick kam ein Rufen von oben, viele Diener schalten, wo der nächste Gang bleibe; von unten nahten zugleich Aufträger und schrien ratlos, in der Küche sei der Böse los und es stänke aus allen Spalten. Wie die wilde Jagd purzelten die Krieger an Iwer vorbei, um zu helfen.

Als er allein war, vernahm der Bursch, wie die Stufen sich weiter besprachen; sie glaubten wohl, daß keiner sie hörte. "Wenn man nur wüßte, wo der ist, der unserer Prinzessin Brot und Milch geschenkt hat!"

"Niemandem braucht sie zu folgen, der ihr nicht Milch und Brot bringen kann", sagte eine andere.

"Ach", stöhnten alle zusammen, "wo ist er geblieben, der zu uns kam und nicht weiß, daß er drei Geschenke mit in die Tiefe nahm?

Da war unser Iwer wieder ein Teil klüger und beeilte sich. Mit ein paar großen Sprüngen, die Pfeife im Mund, war er oben im Hochzeits saal. Und wie es unten in der Küche so schön angefangen, begannen auch



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dort bald die Teller und Töpfe zu wackeln, flogen die Mundtücher durch die Luft, fielen die braunen Tunken über alle Kleider, gab es einen Wirrwarr und ein Verfolgen, ein Jammern und ¨Donnerwettern, daß alles in wilden Aufruhr geriet. Aber der Wassermann saß wie ein Spiegelbild Jwers neben der Prinzessin und kümmerte sich wenig darum. Er grölte nur mitunter, daß der Saal dröhnte und die Leute vor Furcht bebten.

Der zaghafte Iwer fühlte sein Herz klopfen, er schmauchte und schmauchte, um vor den grünen Augen seines Doppelgängers unsichtbar zu bleiben. Dann aber sah er die Königstochter und nahm allen Mut zusammen; er ließ Schüsselklappen, Tellerwerfen und ging rechtwegs zur Mitte, um den Betrug aufzudecken. Mit festem Schritt trat er hinter den Wassermann.

Als der Bursch jedoch zum letztenmal aus vollem Halse sein Pfeifchen schmauchte, um seiner Unsichtbarkeit gewiß zu sein, da trübte sich vom Tabaksrauch der Spiegel des Unholds; aus dem jungen Hochzeiter, der neben der Königstochter saß, wurde mehr und mehr ein feistes, dunkles Schwammgesicht, das zornig nach allen Seiten blies.

Was gab das für einen Auflauf, und wie sehr weinte die arme Prinzessin! Siele kleine Seelen aber merkten, wo der Zauber war, liefen zu dem Unsichtbaren und begannen an seinem Brot zu nagen und an der Flasche zu knabbern. Iwer streute auch flink mit der linken Hand so viel Krumen um sich, wie er vermochte, und schüttete die Milch über den Estrich, damit alle trinken könnten. Er selbst aber schmauchte und schmauchte, und die Burg wurde lichter und höher, der Spiegel immer trüber und der Wassermann immer greulicher und schwerer, sosehr er auch wild und brüllend um sich fuchtelte. Schließlich trug ihn der Fußboden nicht mehr. Ein tiefes Loch brach unter seinem Stuhl auf, und während der Schwarzgrüne tiefer und tiefer sank, war es, als höbe sich das ganze Schloß mit allem, was darin war, federleicht zur Höhe. Einmal noch sah man das grimmige Gesicht des Betrügers und seine hochgestreckten Hände, dann blickte schon die liebe Sonne in die Fenster; Iwer konnte das Schmauchen lassen, und die Königstochter sprang auf und fiel ihm um den Hals.



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Ihr könnt euch denken, wie es weitergegangen ist. Das Meer mit dem Wassermann war verschwunden, an seiner Statt war nichts als ein armseliger kleiner Teich geblieben. Hinterm großen Hagen aber ist neues Land aus dem See aufgestiegen, der alte Herrscher ist wiedergekommen und hat sein Reich übernommen, das ihm das Wasservolk geraubt hatte. Und wer die Königstochter geheiratet hat, brauche ich nicht erst zu erzählen.

Ich weiß nur, daß schon lange nicht mehr solch prächtige Hochzeit im Land gewesen ist wie damals, ich weiß, daß der Schulmeister seine Wandkarte hat verändern müssen und daß Jwers Vater und auch seine beiden Brüder aus Stein und Baum erschienen und daß alle Gäste drei Tage nicht aus den Kleidern gekommen sind.


Copyright: arpa, 2015.

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