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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Die Insel Utwunder

Es war einmal eine Fischerfrau, die gebar ihren ersten Knaben, als sie draußen im Vorland arbeitete. Eine junge Fremde aus dem Wasser kam und half ihr; sie sahen beide das Kind mit Freuden an, und die Unbekannte schenkte ihm einen zierlich geschnitzten kleinen Stab, den hing ihm an einer Kette um den Hals, damit es ihn nicht verlöre.

Nach einigen Jahren, als der Knabe schon mit seinen Geschwistern am Deich spielte, suchte er Blumen und sang einen alten Reim dazu:

Moje, moje Fru Nimmernood,
Wees uns lütten Kindekens good."

Da kam eine Wunderschöne draußen vom Wasser und horchte im Rohr auf die Kleinen. Und sie kleidete sich wie eine wirkliche Menschenfrau, ging zu den Spielenden und fragte den Knaben, wer er sei. Als er seinen Namen nannte, wurde sie froh, wollte wissen, ob er den Stab noch hätte, und sagte ihm, daß er sich damit über alle Meere eine Brücke schlagen könnte, er solle ihn wohl verwahren. Dann gab sie ihm noch ein Tüchlein zum Angedenken.

Wieder nach einigen Jahren, als der Knabe schon Matrose war, wanderte er einmal nahe am Wasser stromab; er wollte nach einem Seehäfen, um Heuer zu suchen. Als er nun so für sich hinschritt, sah er am Ufer ein großes Haus, das war früher nicht gewesen. Eine Frau stand vor der er erkannte die Nimmernood und grüßte zu ihr hinüber.

Sie winkte ihn lächelnd näher und fragte, ob er ihr Tüchlein noch habe. "Ja", sagte er und wies es ihr. Er hatte es aber um den Stab gewickelt und, wie s bei den Schiffern sein muß, ein Stück Teerleinen darumgenäht, damit beides im Seegang nicht feucht würde.

Die Frau war nicht mehr so freundlich wie einst, als sie zu den Kindern gekommen war; vielleicht fürchtete sie sich auch vor Boten und Horchern



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im Wasser und redete leise. Wenn er in das Tüchlein spräche, sagte sie rasch, käme er durch alle widrigen Winde hindurch, aber er dürfe es nur brauchen, wenn es wirklich arg zugehe. Dann schenkte sie ihm eine kleine Kappe, und ehe sie noch ein Wort hinzufügen konnte, winkte sie ihm, sich weiterzutrollen.

Der Bursch dachte nicht mehr viel an die drei Dinge; er fand ein gutes Schiff, fuhr ein Jahr ums andere in die Ferne und verdiente Geld genug, um sich selbst einen Ewer zu kaufen.

Nun sollte er eines Tages damit über eine Bucht segeln, um Klinker einzunehmen. Und weil das Wetter schön war, meinte er, den Ewer allein nach drüben bringen zu können. Aber mitten auf dem Wasser überfiel ihn ein warmer, grauer Nebel; der Schiffer trieb mit der Ebbe weit in die See hinaus, er fand keine Boje und kein Zeichen, die ihm den Weg gewiesen hätten.

Gegen Abend kam er bei aufklärendem Gewölk zu einer großen Insel, die er nie gesehen hatte und die auf keiner Karte stand. Sie heißt Utwunder und soll irgendwo zwischen hier und der Doggerbank liegen; viele sagen, daß es Böses bedeute, wenn sie einem Irdischen sichtbar wird. Der Schiffer verlor seinen Mut nicht. Weil er jedoch nicht wußte, wo er war, legte er den Ewer fest, um an Land zu fragen.

Er mußte eine lange Weile suchen, über viele Brücken und breite Wettern hinweg. Dann sah er eine Wiese, junge Wasserkerle warfen sich Holzbälle zu. Kaum wurden die Grünen den Schiffer gewahr, da riefen sie einander zu, ihn zu fangen und als Spielzeug zu behalten. Der ,Mann bekam Furcht und lief durch dichtes Schilf zurück. Aber er irrte sich in der Richtung und kam vor eine große Bucht, wohl tausend Schritt breit. Schon waren die Wasserkerle nahe hinter ihm, er hörte sie fragen und jagen. Da fiel ihm in seiner Not der Stab ein, den ihm die Nixe vor langer Zeit einmal geschenkt hatte; rasch riß er das Beutelchen auf und hielt den Zauber vor sich. Und sieh, eine kleine schmale Brücke baute auf; er sputete sich hinüberzukommen und merkte, wie das Holz immer hinter ihm schwand und sich vor ihm verlängerte. So kam er heil an



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das andere Ufer, war vorsichtig und suchte in der Dämmerung nach eines Menschen Haus. Der Schiffer war jetzt in ein Land des Windvolkeg geraten, das tollte auf der Wiese. Es waren riesengroße Jungfern und Burschen, die ihn bald entdeckten, blasend anlachten und sich lärmend vergnügten, als er im Kreuzwind um sich selber tanzen mußte und sich schließlich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Der Mann dachte in seiner Not wieder an die Geschenke der Nixe, es war, als hätte sie gewußt, was ihn treffen würde. Als die langen Kerle ihn noch wie einen Ball hin und her bliesen, griff er heimlich nach dem Brustbeutel
und bat das Tüchlein, ihm durch die Winde hindurchzuhelfen. Und sieh, er konnte aufspringen, verbarg sich vor den Sturmkerlen und kam bald an einen großen Wasserlauf. Da nahm er den Stab und lief wieder mit seinem Brückenzauber nach drüben, verwundert, wohin er nun wohl weiter gelangen würde.



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Es wohnte aber ein Drullevolk im dritten Land, das hatte den Lärm bei den Windischen gehört, einige hatten sich auch schon in den Hinterhalt gelegt. Kaum war der Schiffer an der Uferkante, da fielen sie über ihn her und banden ihn, sosehr er sich wehrte. Dann führten sie ihn frohlockend vor ihren König.

Hager und dunkel war der, niemand außer seiner Königin wagte sich ihm nahe. Als der Gefangene die Frau aber recht anschaute, war es jene Nixische, die seiner Mutter geholfen und die ihm einst die drei Wunder geschenkt hatte.

Sie sagte ja kein Wort zu ihm. Nur als der Drullkönig seine Gelehrten fragte, was mit dem Schiffer zu geschehen habe, sah sie die furcht
baren Graubärte einen nach dem andern bittend an. Und die wagten lange keinen bösen Spruch. Endlich meinte einer, darüber müsse die Königin urteilen.



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Der Drull lachte schaurig, viele Bäume bebten davon, und die Fische in den Gräben sprangen hoch vor Schreck.

"Ihr Feiglinge, was starrt ihr der Königin auf den Mund. Sie läuft den Menschen nach und bringt ihnen Geschenke. Ich will einmal mit diesem Mann ringen, da sollt ihr erkennen, wer stärker ist, wir oder die pappelnden Erdleute, die zu den weißen Himmlischen halten.

Er hob sich dabei von seinem Sitz, gebot, einen Kreis frei zu machen, und warf den Mantel ab, so daß man die riesigen schwarzen Schultern sehen mußte. Und er hieß dem Schiffer die Fesseln lösen und schleuderte ihm sein Messer zu.

Als der Gefangene nun gehorchen mußte und auch langsam den Rock abtat, dachte er noch einmal nach, ob es keinen anderen Ausweg gäbe. Er fühlte aber die Kette auf der Brust schaukeln und sah, wie der Königin Augen starr darauf blickten. Da fiel ihm ein, daß er noch einen dritten Zauber von ihr erhalten hatte, ohne zu wissen, wozu er diente. Was soll's wohl nützen, meinte er, aber ich will ihn ausprobieren. Und obschon er keinen geringen Mut hatte, ließ ihn die List bis zuletzt nicht im Stich; er tat, als wolle er die Kette ablegen, und streifte sich dabei die Kappe über.

Im gleichen Augenblick hörte er ein Wutgeheul aus vielen Kehlen. Alle Drulle waren aufgesprungen, liefen an ihm vorbei, griffen ins Leere und suchten nach ihm. Nur die Königin lächelte und winkte ihm, fortzueilen.

Das ließ der Schiffer sich nicht zweimal sagen. Wo er nur Raum zwischen der rennenden, brüllenden Wildheit fand, glitt er hindurch, hob seine Jacke auf und flüchtete den Weg zurück, den er gekommen war. Und er gelangte mit seinem Tuch quer durch alle Winde und mit dem Stab über Flüsse und Priele hinweg und war endlich wieder da, wo er seinen Ewer gelassen hatte.

Da hißte er das Segel und fuhr auf das Wasser hinaus; überall, meinte er, sei es besser als auf der verwunschenen Insel Utwunder. Als der Morgen graute, sah er denn auch das dritte Elbfeuerschiff und hatte seinen Weg wieder.



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Einige wollen nun wissen, daß die Drullkönigin ihm nachgefolgt ist, und sie vermuten, daß die wassergrünen Augen in unserm Land von jener Frau kommen, die der Schiffer heimlich zu sich genommen hat. Andere wieder sagen, es sei dumm von dem Mann gewesen, gleich heimzukehren. Er hätte nur mutig an der Insel Utwunder weiter entlang fahren sollen, die hellen und die unterirdischen und riesischen Reiche lägen auf den andern Ufern, da hätte er Wunder und Schätze im Überauß gewonnen.

Das ist jedenfalls gewiß, der Mann ist heil davongekommen. Aber nicht jeder hat ja die drei Zauber bei sich und eine vom Wasservolk als Helferin.


Copyright: arpa, 2015.

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