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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Die Gefangene im Kirchturm

Ihr könnt euch denken, daß Frau Holles Töchter viet Zwirn und Tuch brauchen. Je hübscher die Mädchen, desto eitler, sagt eine alte Wahrheit; sie gilt auch für manche der unirdischen Schönen. Wenn daher die wilden Schwestern übers Land brausen, kann man im Gefolge oft ein paar Schneidergesellen sehen, die mit Nadeln und Faden und mit wehenden Flattermänteln hinterdreinfahren, was der Wind hält. Einige wollen wissen, daß sie auf Ziegenböcken reiten und daß der Mme Meck für ihresgleichen daher rührt. Andere aber meinen, sie hätten von den schönen Frauen fliegende Mäntel bekommen, die sie hoch durch die Luft trügen.

Einmal waren da nun auch zwei Schneidergesellen bei Frau Holle im Dienst, von denen galt der eine als alter Flicker, der immer vergrämt und verärgert war, weil die himmlischen Fräulein ihm viel Schabernack antaten; der andere aber war ein junger, der nichts wollte, als viel Geld verdienen. Er hatte nämlich eine blutarme Dirn im Braunschweigischen lieb und wollte sich rasch sein Heiratsgut erwerben. Aber so hübsch seine Braut gewesen sein muß, so voller Eifersucht war sie auch, und das macht schwach gegen arge Gedanken und gibt die Menschen in die Gewalt des Bösen.

So hörte also einmal eine alte Zauberin von der lieblichen Magda — so hieß des Schneiders Vertraute. Und weil das schlimme Weib gerade für seinen Sohn, einen stockdummen Fliegenkerl, eine schöne Frau suchte, beschloß es, sich Macht über das Mädchen zu verschaffen und es fortzuführen. Als die junge Dirn eines Abends wieder eifersüchtig scheltend



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vor ihre Tür trat, kam ein greulicher Wirbelwind die Strafe herauf, packte sie und trug sie durch die Luft von dannen. Nach einer alten verlassenen Kirche schleppte er das Mädchen und sperrte es in den Turm. )er war so hoch, daß man das Dorf unten kaum noch unterscheiden konnte; keine Treppe führte hinnieder, und kein Ruf drang von oben zu den Menschen hinab. —-

Da mußte das arme Ding nun in einer kleinen kalten Kammer hausen, und niemand half ihm beim Weinen. Nur die Zauberin erschien zuweilen und brachte Brot und Speise, oder, wenn sie etwas geraubt hatte, wohl auch Silbergeschirr oder feines Linnen für die Aussteuer.

"Zu Ostern soll Hochzeit sein", sagte sie dabei und redete vom Bräutigam der nun bald kommen würde. Aber die schöne Magda weinte nur immerfort, sie dachte an ihren wirklichen Liebsten und wußte nicht ein noch aus, so traurig und verlassen fühlte sie sich. Hätte nicht zuletzt die Glocken frau, die viele Stockwerke tiefer im Gestühl hauste, einen Weg zu ihr gefunden, sie wäre wohl gestorben vor Einsamkeit und Kummer.

Aber die schöne Glockenfrau wußte nicht viel vom Hollenzug und noch weniger vom Braunschweiger Schneidergesell, um den das Mädchen härmte. Auch hatte sie Furcht vor der Hexe und konnte nicht rasch genug niederfahren, wenn die böse Alte sich anmeldete.

So kam der Tag der Hochzeit näher und näher, die arme Gefangene wurde immer trauriger, und niemand hat ihr helfen können, weil sie vor der Welt als verschollen galt.

In der Nacht zum Osterfest aber ist es geschehen, daß ein gewaltiger Frühlingssturm über das Land fuhr. )er hat den Turm so schlimm um braust, daß alles Sparrenwerk seufzte und das Mädchen zur Mitternacht aufwachte.

Um die gleiche Stunde haben nun — das sollte wohl sein — die Holle und viele Schwanfrauen gerade rund um den alten Kirchturm haltgemacht; es hat wie ein Königslager ausgesehen, soviel hohe Herren, soviel reitende Spielleute und, mehr noch, so viele flinke Jägerinnen und schöne Frauen liefen da durcheinander. —



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Zwei Schneider dienten ihnen; ein junger, der vor Arbeit nicht ein noch aus wußte, und ein alter, der auch von einem zum andern Ende des Lagers hüpfte und sein Garn anbot. Er hat dabei so drollig ausgesehen, daß die Fräulein, denen der Frühling im Blut stecken mochte, ihn neckten und hänselten und mit der Arbeit hinhielten. Sie haben es schließlich so arg getrieben, das den Greisbart der Arger gepackt und er sich mit seiner Nadel gewehrt hat. Dabei hat der arme Schelm einer der Frauen, Wälde war ihr Name, in die Fingerspitzen gestochen.

Gleich hat die ein großes Geschrei erhoben; der Alte aber, der merkte, was er angerichtet hatte, bekam eine entsetzliche Furcht und lief blind auf den Kirchturm zu, um sich drin zu verstecken.

Im Augenblick nun, wo er das Mauerwerk mit beiden Hansen erreichte, hob sich vor ihm eine Luke auf. Die schöne Magda wollte eben ausschauen, was die Winde trieben. Da ist ein Fremder leibhaft an ihr vorbei ins Dunkel gesprungen, sie hat sich fürchterlich erschrocken und vermeint, der arge Osterbräutigam sei gekommen.

Aber auch dem alten Schneider ist es nicht besser ergangen. Weil die Luke gleich wieder zuschlug, hat er sie für eine Falle des Bösen ansehen müssen. Jeder der beiden hat sich also vorgenommen, lieber sein Leben zu lassen, als dem andern nachzugeben, und als die zwei nur eben um sich tasteten und den Feind spürten, sind sie in Todesängsten aufeinander losgefahren. Aber die Jungfer, die behender war, ist dem alten Schneider übergekommen und hat ihm beim Fechten Mantel und Hut abgerissen.



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In Hut und Mantel stak ja die Kraft zu fliegen. Als die Dirn noch voll Zorn und Furcht lauerte, daß der Böse zum andernmal gegen sie führe, hat sie gemerkt, daß ihr Kopf, sobald sie die Arme nur ein wenig reckte; schon an das Turmdach rührte. Das war so sonderbar, sie versuchte es wieder und wieder und begriff dabei, welche Macht sie gewonnen hatte.

Da hat die Jungfer sich des Schneiders Sachen fest über den Schopf gezogen, hat sich leise bis zur Dachluke gehoben und nach draußen geschwungen.

Und sie ist wie ein Fisch im Wasser kopfüber, kopfunter durch die Luft gesprungen; herrlich war es, nach der langen Zeit im Turm die Glieder zu recken und zu schweben,

Auf einmal aber ist Magda unter vielen unbekannten Leuten gewesen, und weil sie vor dem kalten Wind den Kragen SESS angezogen und den Hut tief in die Stirn gedrückt hatte, ist es keinem Wächter eingefallen, sie anzuhalten; jeder hat gemeint, es sei der alte Schneidergeselle, der sich da umtat. Und ehe die Dirn recht verstand, was um sie im Gange war, ist Frau Holle auf sie zugekommen und mit ihr eine hübsche Tochter, die hat über ihren blutenden Finger geklagt und das Mädchen im Mantel bezichtigt, sie gestochen zu haben. Da war aber auch ein junger Schneidergesell, der sich einmengte, er hat die schöne Walde besänftigen wollen und gemeint, sein Freund hätte sie doch gewiß nicht mit Willen verletzt.

Frau Holle hat während des Streites von einem zum andern geschaut und heimlich gelacht. Warum er, Bursch, einen alten Schneider in Schutz nähme, hat sie gefragt, er solle sich lieber um seinen Schatz in Braunschweig kümmern.

Ach, hat der Junge geseufzt und hat die Mütze gezogen: wo sie gerade von seiner Braut spreche, wolle er eine Bitte vorbringen, die ihm schon lange auf der Seele läge. Er möchte nämlich gar zu gern auf Urlaub gehen, seine Vertraute sei aus der Stadt verschwunden, und niemand wisse, wo sie sei.

Die Frau Zauberin hat das Mädchen spitzbübisch angesehen, so daß dem sich das Herz im Kreise drehte vor Merwundern und Freude. "Da



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nimm dir doch eine andere Liebste", riet eine Hollin dem Schneidergesellen. Wer weiß, wo deine Braut geblieben ist.

Die schöne Magda hat die Lippen zusammengebissen, so hat es ihr herausfahren wollen. — Aber sie horchte noch lieber auf die Antwort.

"Ach", sagte der Bursch, er könne die seine nicht vergessen, und wenn es auch zehnmal so hübsche Frauen gäbe.

Da hat die Dirn aufgedampft, obwohl sie vor der mächtigen Holle stand. Ob er vielleicht schon eine Feinere gefunden hätte?

Sie hat sich aber gleich über ihre verräterische Stimme erschrocken; Frau Holle hat nämlich silbern zu lachen begonnen, noch ehe die andern Leute von ihrem Erstaunen zu sich gekommen waren. Und sie hat zum Ritt blasen lassen, der Zug ist aufgefahren wie ein Wirbelwind, und die schöne Braunschweigerin hat mitspringen müssen, ob sie wollte oder nicht. Es hat sie aber ein Schneidergeselle ganz fest am Arm gepackt, vielleicht, damit sie sich kein Leid täte bei dem ungewohnten Flug, vielleicht aber auch, damit sie nicht wieder auf und davon ginge. Und sie hat in ihrer Angst wirklich stillgehalten bis zum nächsten Turm und hat sich nicht mehr gewehrt, als der Schneidergeselle mit lauter Stimme Hochzeit angesagt und die gute Frau Holle höflichst um einen Rast- und Feiertag gebeten hat.

Was später aus den beiden geworden ist, habe ich nicht mehr gehört. Sie werden wohl bei den fröhlichen Frauen geblieben sein; nach Braunschweig sind sie noch nicht heimgekehrt.

Desto besser weiß ich über den Flickschneider Bescheid.

Die böse Zauberin hat sich nämlich gewaltig erstaunt, als sie zu Ostern zum Turm kam und den Alten statt der hübschen Magda als Gefangenen fand. Sie hat aber gemeint, daß die Braut sich in ihrem Trotz verwandelt hätte, und hat ein Mittel nach dem anderen versucht, um aus einem greisen Handwerker wieder eine schöne Jungfrau zu machen. Als alles nichts nützte und der Schneidergeselle Schneidergeselle blieb, hat die Zauberin schließlich eingesehen, daß die wirkliche Magda entkommen war. Und einige sagen, daß sie selbst den Graubart auf seine alten Tage genommen habe, andere aber, sie habe den Mann so lange gefangengehalten, bis er ihr alle



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Kleider neu genäht hatte. Und die Schneider hätten es sich seitdem angewöhnt, mit untergeschlagenen Beinen zu sitzen, weil die Turmkammer so klein gewesen wäre.


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