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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES FÜNFZEHNTEN WACHTHAUPTMANNS

Es wird von einem verwegenen Räuber berichtet, daß er allein auf Raub auszugehen und den Karawanen den Weg zu verlegen pflegte; und immer, wenn die Präfekten und die Machthaber ihn zu fassen suchten, floh er vor ihnen und verschanzte sich in den Bergen. Einst begab es sich, daß ein Mann die Straße zog, an der jener Räuber lauerte; und dieser Mann war allein, und er wußte nicht, welche Pein ihm dort bevorstand. Der Räuber aber überfiel ihn und rief: ,Gib heraus, was du bei dir hast; ich kann dich töten, da gibt es kein Entrinnen!' Da sprach der Mann: ,Töte mich nicht! Nimm diese Satteltaschen, teile, was darin ist, und behalte ein Viertel!' Doch der Räuber rief: ,Ich will nur das Ganze haben!' ,Nimm die Hälfte und laß mich frei', sprach der Reisende; aber der Räuber bestand darauf: ,Ich will nur das Ganze haben; und ich will dich obendrein töten.' Nun sagte der Mann: ,So nimm es denn!' Der Räuber nahm die Satteltaschen und schickte sich an. den Mann zu töten. Da rief jener: ,Was ist das? Du hast keine



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Blutfehde wider mich, so daß du mich töten müßtest!' Aber der Räuber entgegnete ihm: ,Ich muß dich dennoch umbringen.' Der Reisende sprang von seinem Pferde und wand sich vor dem Räuber und fichte ihn an und suchte ihn zu erweichen; doch der hörte nicht auf ihn, sondern warf ihn zu Boden. In seiner Todesangst rief der Mann: ,O Feldhuhn, leg Zeugnis ab, daß dieser Mann mich ungerecht und grausam tötet, obgleich ich ihm all mein Gut gegeben und ihn gebeten habe, mich um meiner Kinder willen freizulassen; das hat er nicht tun wollen. Sei du mein Zeuge wider ihn; und Allah übersieht nicht die Missetat der Frevler!' Aber auch um diese Worte kümmerte der Räuber sich nicht; sondern er hieb auf ihn ein und schlug ihm den Kopf ab. Danach geschah es, daß die Machthaber sich mit ihm über seine Unterwerfung einigten; und als er zu ihnen kam, machten sie ihn reich, und der Statthalter des Sultans nahm sich seiner so an, daß er mit ihm zu essen und zu trinken pflegte. Lange währte die Freundschaft zwischen ihnen bei gemeinsamen Mahlen und Gelagen. Doch dann geschah es wundersamerweise, daß eines Tages, als der Statthalter des Sultans ein Gastmahl gab, auf dem Tische ein geröstetes Feldhuhn war. Wie der Räuber das sah, begann er laut zu lachen; der Statthalter ward ärgerlich darüber und sprach zu ihm: ,Warum lachst du? Siehst du irgendeinen Fehler, oder machst du dich lustig über uns in deinem Mangel an guter Erziehung?' ,Nein, bei Allah, mein Gebieter,' antwortete der Räuber. ,ich sah nur das Feldhuhn dort, und es erinnerte mich an ein wunderbares Abenteuer. Ich pflegte nämlich in der Zeit meiner Jugend Wegelagerei zu treiben, und da begab es sich, daß ich einen Mann überfiel, der ein Paar Satteltaschen mit Geld bei sich hatte. Ich rief ihm zu: ,Gib mir die Satteltaschen; ich will dich umbringen!' Doch er sprach:



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,Nimm ein Viertel von ihrem Inhalt und laß mir das übrige!' Ich entgegnete: ,Ich muß alles haben und dich noch obendrein töten.' Da rief er: ,Nimm die Satteltaschen und laß mich meiner Wege ziehen!' Dennoch sprach ich zu ihm: ,Ich muß dich unweigerlich töten.' Während wir so miteinander redeten, sah er plötzlich einen Vogel, und dem wandte er sich zu und sprach zu ihm: ,Leg Zeugnis ab wider ihn, o Feldhuhn, daß er mich ungerecht tötet und mich nicht zu meinen Kindern ziehen läßt, obgleich er all mein Gut genommen hat!' Doch ich hatte kein Mitleid mit ihm und hörte nicht auf das, was er sagte, sondern ich schlug ihn tot und kümmerte mich nicht um das Zeugnis des Feldhuhns.' Darüber war der Statthalter des Sultans empört, mächtiger Zorn erfüllte ihn, und er zückte das Schwert, und er hieb ein auf den Räuber und schlug ihm die Kehle durch, daß sein Kopf zu Boden rollte, während er bei Tische saß. Und siehe da, plötzlich sprach eine Stimme diese Verse:

Wenn du kein Übel willst, so tu nichts Übles:
Tu Gutes, laß bei Gott Vergeltung ruhn!
Was dir geschieht, ist dir von Gott beschieden;
Doch deines Schicksals Wurzel ist dein Tun.

Diese Stimme war die des Feldhuhns, das Zeugnis wider ihn ablegte."

Die Gesellschaft, die zugegen war, verwunderte sich, und alle riefen: ,Weh dem Ungerechten!' Und zuletzt trat der sechzehnte Hauptmann vor und erzählte


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