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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Lütte Lünk findet seine Mutter

"Wohin reisen wir heute", fragte Lütte Lünk, als die Ellerfrau ihn am nächsten Abend wieder besuchte.

"Ach klagte sie, "wir sind noch längst nicht bei allen Gevattern rund. Und es kommt doch so sehr darauf an, daß wir überall gute Freunde haben, wenn wir mal verheiratet sind."

Lütte Lünk wußte nicht, ob das richtig war, vielleicht bilden sich Frauen zuviel auf dergleichen ein.

"Die Hauptsache bleibt, daß die schöne Holle mit uns zufrieden ist", meinte er, "danach wird sich alles andere schon finden."

"Gewiß", seufzte die Ellerfrau, und dann schlug sie vor, in der Nacht zu den Windischen zu fliegen, da waren sie ja noch gar nicht gewesen. "Mach



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nur rasch, gleich wird die Mahrfrau zu dem alten Mann kommen und ihm böse Träume eingeben."

Hui, flogen sie auch schon, ich weiß nicht wie flink, in ein Land, das liegt gar nicht weit, ist aber noch schöner als selbst das unsere; die Wipfel der Bäume sind breiter als Buchenkronen, die Büsche blühen immerwährend, und die Wege sind durchsichtig und dennoch fest für die Schuhe der Wanderer.

Lief ein kleiner grauer Mann neben ihnen her.

"Ach", sagte er erfreut, "sind das nicht Lütte Lünk und Ellerfrau, die sich heiraten wollen? Das ist aber gut, daß ich euch treffe, kommt nur einmal zu mir ins Haus! Ich habe nämlich eine geheimnisvolle Spindel für die Braut, da braucht ihr niemals in den Laden zu laufen und Garn zu kaufen.

Aber der Mann hatte ein böses Blinken in den Augen, und alle Bäume rauschten warnend. Da taten die zwei, als hätten sie ihn nicht verstanden, und guckten anderswohin, während sie weiterschritten. Der Graue trottete jedoch vor ihnen her, und auf einmal lag eine herrliche Hahnenfeder am Rain, die glühte und leuchtete so sehr, daß die beiden anhielten, sich bückten und sie beinahe aufgehoben hätten.

Ehe sie dazu kamen, stand glücklicherweise, niemand weiß woher, die wunderschöne Frau Holle mit einer Magd neben ihnen. So lieblich war



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als sei sie eben vom Himmel niedergestiegen. "Nicht daran rühren", riet sie leise und trat mit dem Fuß auf die Feder. Dann fragte sie, wo die Kinder denn schon überall gewesen wären.

"Oh", erzählte die kleine Ellerfrau rasch, "wir sind nun beinah in allen Ländern gewesen, wenn wir auch nicht alle Leute zu Hause getroffen haben. Nun wollen wir noch eben zu den Windischen in den Wolken und denen einen Besuch machen.

"Wenn ihr zu den schönen Schwanfrauen wollt, seid ihr eigentlich nicht auf dem rechten Weg", mahnte Frau Holle. Sie lachte dabei ihre Magd an, und es war, als wüßten die zwei über alles Bescheid und wollten nur erfahren, ob die Kinder wohl die Wahrheit sagten. "Aber geht nur weiter, ihr kommt auch hier zu eurem Ziel!

"Gewiß, das wollen wir", antworteten Lünk und die Ellerfrau tapfer, und die schöne Holle nickte, und ihre Magd küßte den kleinen Waisenjungen und wies den beiden mit der Hand den Weg. "Aber laßt euch von niemandem ablenken", mahnte sie und geleitete sie ein Stück.

Als sie nun fleißig fürbaß schritten und einmal zum Himmel aufschauten, war der wunderseltsam groß, ein Mann ritt darüber hin, aus dessen Mantel viele Sterne in Wipfel und Molken fielen. Sehr feierlich wurde den zweien zu Sinn. "Wo sind wir nur Wer ist das", fragten sie.

"Ja, denkt nur an", sagte Frau Holles Magd, "da gibt es viele Leute, die können in die Bäume hineinsehen und wissen, wie sie sind, und andere gewahren nur das dumme Holz. So ist es auch mit dem blauen Himmel; manche vermögen nur die Sterne zu zählen, und wir drei erkennen schon, daß alles in Gottes Händen rinnt."

"Ganz recht", erklärte der kleine graue Mann und stand wieder am Weg. "Man muß nur alles finden. Blickt doch eben in die Erde, da seht ihr, wie herrlich die Goldadern leuchten. Wollt ihr nicht einmal in meine Höhle kommen? Gewiß wär's klug, wenn ihr ein paar Hände voll Gulden mitnähmt, um euch ein Haus davon zu kaufen."

Aber die gute Magd, die den beiden zur Seite schritt, winkte, und Lütte Lünk sagte: "Frau Holle hat uns geraten, nicht vom Weg abzugehen.



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"Ach", krächzte der kleine graue Mann, "was versteht die davon? Die hat selbst alles, was sie sich wünscht, da kann sie anderen wohl weise Ratschläge geben. Wollt ihr nicht wenigstens ein winziges blitzblankes Wunschkorn mitnehmen? Kostet nicht viel, mao kann sich drüber einigen.

Aber die beiden sahen auf Frau Holles Magd, liefen rasch weiter und wunderten sich, wie freundlich die Fremde sie anschaute.

"Wir wollten jetzt zu den Schwanfrauen", fragten sie die Begleiterin, "sind wir auch auf dem rechten Weg?"

"Ihr seid auf dem rechten Weg", lächelte die Magd sanft und wies wieder mit der Hand voran. Gut und schön war sie, das merkten die Kinder, und wandte den Blick nicht mehr von Lütte Lünk ab. Oft strich sie ihm über das Haar, und es war lieb, wie sie es tat. Viele Vögel flogen währenddeg neugierig an den Wandernden vorüber, andere schauten aus den Bäumen nieder und lachten, und mitunter waren warme weiße Seen zur Seite der Straße; große Schmetterlinge schwebten darüber hin, und viele Nebel und Wesen spielten am Ufer auf Strand und Waldwisen.

Dann stand noch einmal der kleine Graue im Weg. "Geh weiter, wir wollen nichts von dir wissen", rief Lütte Lünk.

"Ach", seufzte der andere, "es gibt noch Sorgen genug, ihr werdet mich schon rufen. Denkt daran, daß ich komme, wann immer ihr wollt, als Fisch und Vogel, als Mann und Maus.

"Geh weg", schrie die Ellerfrau, "wenn wir bei allen Gevattern gewesen sind, brauchen wir dich nicht!

"Oho", sagte der Graue böse, "glaubt das nur nicht. Ich habe euch mehr zu schenken als alle Geister und Riesen und Unterirdischen zusammen. Aber darüber können wir ja noch reden. Grade seid ihr vor meiner Tür, wollt ihr euch nicht ausruhen? Ihr werdet müde sein."

Da stand wirklich ein herrliches Schloß hinterm Wegzaun, viele Gesichter schauten hinaus und winkten und lachten zu den beiden hinüber.

"Alle Nachbarn habt ihr besucht, nur mich noch nicht", klagte der fremde Mann wehleidig. "Und ich meine es doch gut mit euch!"



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Aber die beiden folgten der wartenden Magd, holten sie ein, faßten ihre Hände und sahen sich nicht mehr um. Ja, die kleine Ellerfrau erzählte, während sie weitergingen, die ganze Geschichte mit der Mahrfrau und der Hagemutter und den Plagenächten und noch vieles, was gar nicht dazu gehörte.

Die Fremde nickte zu allem, als wüßte sie es längst.

Dann waren sie auf einmal vor einem großen See, und der Weg, den sie schritten, lief schnurstracks hinein, es war kein anderer zu gewahren. Die Ellerfrau erschrak sehr, sie hielt ratlos mitten in ihren Worten inne, als sie das sah.

"Nun sagt auch mir eure Wünsche", mahnte die Magd.

"Nachts anderes wünsche ich, als daß ich immer bei Lütte Lünk bleiben darf", antwortete die kleine Ellerfrau sehr eilig, damit der Junge ihr nicht mit einem dummen Wort zuvorkäme. Da nickte die Magd und führte die Bittende so weit, bis das Wasser ihre Füße netzte. In dem gleichen Augenblick erkannte sie erstaunt im See eine Menge Wesen, die ihr glichen, und sah, daß mitunter ein langschnäbliger Vogel mit breiten Schwingen kam und eines von ihnen abholte. Ja, als sie es grade Lütte Lünk zeigen wollte, fiel ein mächtiger Adebar steil aus der Luft auf sie nieder, hob die Ellerfrau auf und trug sie windschnell von dannen.

Der Junge erschrak entsetzlich und wollte dem Vogel nach. Aber die Magd griff rasch nach seiner Hand. "Sorg dich nicht", sagte sie, "jetzt wird deiner Freundin Wunsch erfüllt, jetzt wird sie als kleines Mädchen auf Erden geboren und wächst schön und groß heran und wartet auf dich.

Oh, damit war Lütte Lünk wohl zufrieden, das war, was er sich gewünscht hatte. "Dauert es lange, bis ich sie wiedersehe", fragte er ungeduldig. Und als die Frau, die ihn hergeleitet hatte, statt aller Antwort lächelte: "Aber wer bringt mich denn nach Haus", fiel ihm auf einmal ein, "wo soll ich denn bleiben?

Die schöne stille Fremde nahm ihn auf die Arme. "Komm", sagte sie, ich zeige dir den Weg, Frau Holle hat's so befohlen." Und dann küßte sie das Waisenkind. "Komm, in dieser Nacht bringt dich deine Mutter heim.



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Da legte Lütte Lünk gleich den Kopf auf ihren Arm und fand alles richtig und gut. Er schlief schon halb und fuhr wie ein Blasewind in sein Bettchen.

Aber von der fünften Nacht hat er am andern Morgen nichts mehr gewußt, das muß wohl so sein.


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