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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Bei den Wichtelmännern

Am folgenden Abend haben die alten Leute Lütte ünk früh zu Bett gebracht. Sie hätten in der letzten Nacht so schlecht geschlafen, hörte er, und müßten's einholen.

Lütte Lünk hat auch die Augen geschlossen, hat durch die Nase geblasen und getan, als wenn er schon eingeschlummert sei. Auf einmal aber, als er vorsichtig den Kopf hob, um zu sehen, ob die Alten schliefen, ist das Erlfräulein bei ihm gewesen und hat ihm einen Kuß gegeben: "Heute gehen wir zu den Gevattern unter der Erde, hörst du?

Da nahm Lütte uni allen Mut zusammen, dachte an das, was die schöne Frau Holle ihm auferlegt hatte, und sagte der Nachbarin gleich, er sei auch gewiß nicht bange.

Ich weiß nun im Augenblick nicht mehr, wie sie es angefangen haben. Wahrscheinlich sind die zwei von Lütte Lünks Bett geradeswegs unter den Segeberger Kalkberg gefahren, da wohnte in der Höhle ein Sols Unterirdischer, das die tiefen Gänge bis an den großen See gebaut hat. Ihr König hieß Pottjemann, der war ein berühmter Herr und wurde von vielen Bäumen zum Gevatter geboten. Aber als das kleine Erlfräulein und Lütte Lünk diesmal in sein Tor traten, um ihn zu besuchen und sich vorzustellen, hatte Pottjemann grade sehr wenig Zeit. Er war dabei, mit den Kagelsberger Nachbarn Krieg zu führen, und zog sich eine mächtige braune Rüstung an, wie ein großer Maikäferrock sah die aus



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Als Lütte Stink nun den herrlichen Saal des Königs und all die Hofleute und vornehmen kleinen Wichtelfrauen erblickte und von dem Gevatter so zwischen Tür und Angel empfangen wurde, wollte er ja zeigen, daß er ein achtbarer Besuch sei, bei dem man nicht mit einer kurzen Entschuldigung vorbeiläuft. "Wenn du in den Krieg willst, kann ich dir helfen", sagte er hochfahrend zu Pottjemann.

Das gefiel dem Zwergkönig nicht schlecht. "Gut", schrie er, "ein Mann, ein Wort", und schlug Lütte ünk auf die Schulter, daß der "s bis in die Knie spürte. Im nächsten Augenblick erhielt der Junge auch schon eine entsetzlich harte braune Rüstung, trug zwei Hörner, wo großen Leuten die Augenbrauen wachsen, und stieg, mit einem Spieß bewaffnet, wie ein Hauptmann vor einem Haufen Kriegsvolk her, um den Kagelsberger Unterirdischen und Erzfeinden zu Leibe zu rücken. — Einmal konnte er sich noch nach dem Erlfräulein umsehen, es rang beide Hände über sein Abenteuer. Aber wenn man schon Könige zu Wettern oder Gevattern hat, muß man zeigen, was für ein Kerl man

Um es gleich zu sagen, der Feldzug der Segeberger ist nicht glücklich verlaufen. So mutig Lütte Lünk in die Schlacht ging, so mächtig er in der heißen Rüstung um sich geschlagen hat, die Feinde haben sich nicht von der Stelle gerührt. Auch hatte dem armen Jungen niemand verraten, daß der König der Kagelsberger nicht etwa ein Knirps von Unterirdischen, sondern ein strubbeliger brauner Drullekerl war, groß wie ein ausgewachsener Mann. Was hat Lütte Lünk für einen Schrecken gekriegt, als er den haarigen Feind auf einmal erblickte — er war ja erst ein kleiner Junge und noch kein Soldat und Held. Wie ist er gelaufen, als der wilde Geselle sein Auge grade auf ihn richtete! Über Stock und Stein, über Gräben und Salzlöcher, durch Knicks und Stubbenbusch ist er davongesprungen, alles hat er von sich geworfen, nur um rascher zu entwischen. Aber als er schon in die Segeberger Höhle hineinschlüpfen wollte, hat der Drullekerl noch einmal den Arm ausgestreckt, hat Lütte Lünk am Kragen gepackt und ihn durch den See und dann klitschnaß in das Kagelsberger Reich gezogen.

Da saß er jetzt als Gefangener gleich neben dem Thronsessel seines



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Feindes, und mit ihm der arme alte Herr Pottjemann, dem es auch nicht besser ergangen war. Und alle Zwerge unterm Kagelsberg tanzten voller Freude über den Sieg und bedienten ihren wilden König Drullekerl und schleppten die herrlichsten Leckerbissen heran. Aber die beiden Gefangenen kriegten nur böse Blicke und ab und zu etwas Wasser und hatten entsetzliche Angst, was mit ihnen geschehen würde.

Alls Lütte Lünk nun aus der Schlacht nicht heimkam, wurde die kleine Ellerfrau, die auf ihn wartete, sehr traurig. Sie ließ jedoch die Hoffnung nicht sinken und nahm sich vor, zu erfahren, ob ihr Schatz vielleicht zwischen den Gefangenen sei. Sie verkleidete sich also, stieg unter den Kagelsberg und verdang sich bei den Feinden als Dienstmagd ohne Namen. Da sah sie auch bald Gevatter Pottjemann und Lütte Lünk rechts und links vom Thronsessel des furchtbaren Drullekerls. Ach, es stand elend um die beiden; König Pottjemann starrte zwar noch ingrimmig vor sich hin, aber der Junge schluchzte erbärmlich. Gewiß sehnte er sich nach seiner Ellerfrau. Und die zergrübelte sich den Kopf, wie sie die Gefangenen wohl wieder freibekommen könnte.

Nun begann sich der alte Drullekerl um die Stunde gewaltig zu langweilen. Der Krieg war vorbei, er wußte mit seiner Zeit nichts anzufangen. Vielleicht waren ihm auch die Kochtöpfe seines kleinen Volkes nicht groß genug? Schließlich ließ er ausschellen, wer ihm die beste Suppe koche, der könne sich etwas von ihm erbitten.

Da brodelte es bald auf allen Herden in den Zwerghöhlen, jedes der unterirdischen Fräulein wollte am allerbesten kochen und hoffte vielleicht gar, sich zur Königin wünschen zu können. Die Ellerfrau aber, die auch davon hörte, lief heimlich zu ihrer Base im Holunderbusch, bat sie, ihr bei einer List zu helfen, und die ließ flugs die allersüßesten schwarzen Beeren treiben. Rasch fuhr das Erlfräulein damit zurück, kochte sie im Kagelsberg mit Mehlklößen und setzte dem Drullekerl einen Riesentopf vor.

Nun, der Alte schmeckte ein Gericht nach dem anderen, die halbe Nacht ass und fraß er, Und zuletzt bekam wirklich das Erlfräulein den ersten reis,



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"Was wünschst du dir dafür?" brummte der Hofmarschall.

Aber die kleine Ellerfrau durfte sich nicht gleich Lutte Lünk erbitten, wie sie wohl gemocht hätte. Es muß bei ihrem Volk streng nach Alter und

"Heute wünsche ich mir, daß ihr den armen Herrn Pottjemann freiläßt", verlangte sie und machte einen tiefen Knicks.

Nun, Zwergkönige konnte er sich mehr fangen, aber solche Fliederbeersuppe war neu zu jener Zeit. Der Drullemann nahm dem Alten deshalb die Kette ab und gab ihm einen Stoß, daß er sich gleich vor der Segeberger Kirchentür niedersetzte. Aber seine Freiheit hatte er ja gewonnen.

Mach einiger Zeit nun langweilte sich der Kagelsberger König wieder fürchterlich, man kann nicht immer Fliederbeersuppe essen. Er dachte deshalb über eine andere Zerstreuung nach. Endlich glaubte er, das Rechte gefunden zu haben.

"Wer mir das längste Pusterohr schenkt, kann sich etwas wünschen", ließ er ausschellen. Es brachte ihm Spaß, den Segeberger Bürgern heimlich die Scheiben einzuschießen.

Da gaben sich viele seiner Untertanen Mühe, schnitten das schönste Ried im See, und die reichen Leute schmiedeten gar goldene Pusterohre, so lang, wie sie selbst waren, für ihren König. Die kleine Ellerfrau aber stahl sich wieder zu ihrer Vase Holunderbusch zurück, erzählte ihr, was sie brauchte, und die ließ flugs einen Ast so lang werden, wie noch nie einer gewachsen war. Damit eilte die Freundin zum Kagelsberg zurück, höhlte ihn aus und war ja mit ihrem Geschenk allen Unterirdischen weit über.

"Was wünschest du dir diesmal?" brummte der Drullemann schon ein wenig gnädiger, ihm gefiel das Ellerweib.

"Daß du den andern Gefangenen freigibst!

"Na", knurrte der böse Alte und merkte wohl, uni was es ging. "Wenn der Junge will, kann er laufen. Aber du bleibst hier, verstehst du? Glaub nicht, daß du mir nichts, dir nichts in Dienst treten und dann wieder nach Haus darfst.



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Die kleine Ellerfrau erschrak sehr über die Worte. "Einen Vertrag haben wir noch gar nicht", wandte sie ein, der Herr weiß ja nicht ein- mal meinen Namen.

"Natürlich wissen wir deinen Namen", murrte der Drullekerl und sah seine Hofleute und Ratgeber und Sterndeuter der Reihe nach durchdringend an. Aber alle senkten die Augen und taten, als dächten sie grade angestrengt nach und hätten es nur eben vergessen.

"Eine Ellerfrau bist du", sagte der Drullemann, "meinst du, ich kenne dich nicht?"

"Ist das vielleicht ein Name?" kam es spitz zur Antwort. "Erlfräulein gibt's zwanzig an jeder Straße, das weiß der hohe Herr auch!

Da stemmte ein alter Sterndeuter die Fäuste gegen die Schläfen. "Ellerbusch im Wind", fiel ihm grade ein.

So fängt es an", lachte die Kleine und wartete, wie es weiterging; die Ellerfrauen haben nämlich Namen, die sind drei Reime lang.

Der Hofweise wühlte voll Grimm durch den Bart: "Reddermanns Kind", schrie er.

Aber nun weiter", verlangte das Fräulein und tat sehr zuversichtlich.
Da ließ der Drullekerl voll Wut seine Hofleute hintereinander rasch alle Sprüche hersagen, die sie wußten, aber zu jedem schüttelte die Ellerfrau den Kopf. Nein, die Kagelaberger fanden den dritten Reim nicht; sie rieten hin, sie rieten her, aber sie bekamen



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während der langen Nacht keine Macht über das Ellerfräulein, und der Drullekerl schäumte vor Zorn. Schließlich mußte er die Jungfer wohl oder übel gehen lassen, Könige müssen das Recht wahren.

Im Augenblick aber, wo die beiden vor dem Tor im Mondlicht standen und ime Lünk sich lang und breit mit Entschuldigungen aufhalten wollte, tanzte die Dirn schon über die Wiesen mit ihm, und ganz leise flüsterte sie ihm ins Ohr:

Ellerbusch in'n Wind,
Reddermanng Kind,
Lütte Lünks Fründ,
Dreemal datsülwige sünd.

"Das ist aber ein schöner Name", wollte der Junge sagen, da kam ein Sausewind und führte ihn kopfüber und im Wirbel über Feld und Wald dahin. Mitten in sein Bettlein plumpste er und wußte nicht einmal, ob er selbst oder nur seine kleine Seele zur Nacht unterwegs gewesen war.


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