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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Die getreue Alte

Zu Husum sollte einst ein Winterfest gefeiert werden auf dem Eise, denn das Eis war fest. Zelte wurden aufgeschlagen auf der herrlichen blanken Fläche zwischen dem Ufer und der Insel Nordstrand, Schlittschuh lief, was laufen konnte, Stuhlschlitten flogen dahin, Musik und Tanz, Lied und Becherklang verherrlichten den schönen Tag und die nahe lichthelle Mondnacht, die den Jubel noch vermehren sollte, denn schou ging der Mond auf.

Alles und alles war hinaus aufg Eis und machte sich lustig, nur ein steinaltes Mütterchen war zurückgeblieben, hatte die Weltlust hinter sich, und wenn sie ja wollte, konnte sie hinaus und hinab aufs Eig sehen, denn ihr Häuslein stand auf dem Damme. Und sie tat's, sah gegen Abend hinaus und sah im Westen ein Wölkchen über die Kimmung heraufziehen Da befiel sie große Angst, denn war eines Schiffers Witwe und kannte die See und die Zeichen von Wetter und Wind.

Sie rief, sie winkte — niemand vernahm sie, niemand blickte nach ihr — aber das Wölkchen wuchs zusehends und war ein Bote der Flut und schnell umspringenden Windes von Nord nach West. Und wenn die auf dem Eise nur noch eine halbe — eine Viertelstunde zögerten, so war es um sie getan, so stand Husum menschenleer. Wie die Wolke wuchs, zusehends, riesengroß, schwarz- wie schon den lauen Windhauch spürte, wuchs auch der Alten unsägliche Angst — und sie war allein, krank, halb gelähmt, machtlos. Dennoch ermannte sie sich, kroch auf Händen und Füßen zum Ofen, nahm einen Brand, zündete das Stroh ihres eigenen Bettes an und kroch zur Tür des Häuschens hinaus.

Bald schlug die Flamme aus dem Fenster, hinauf zum Dach, des Sturmes Odem fachte hellodernde Glut an, und "Feuer! Feuer!"schrie es auf dem Eise, und die Zelte wurden verlassen, die Schlittschuhläufer flogen



406 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

dem Strande zu, die Schlitten lenkten sich heimwärts. Und da fauchte schon der Wind über die Eisfläche, da pochte es schon drunten und polierte, und wie Kanonendenner krachte das Eig in der Ferne. Die schwarze Wolke überzog den Mond und den ganzen Himmel, wie ein Leuchtturm stammte das Haus der Witwe und zeigte den Heimwärtseilenden die sichere Bahn. Als die letzten am Strande waren, rollte die Flut ihre Wogen über das Eig und riß Zelte und Tonnen, Wagen und Zechgeräte in ihre rauschenden Wirbel.

Die arme Alte hatte ihr Häuschen geopfert, die Bewohner ihrer Stadt jenen. Es wirs ihr ja wohl nicht unvergolten geblieben sein.


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