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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Blutlinde

Nahe bei Wiesbaden liegt ein uralt Gehöft, der Graroder Hof, von dem eine Sage geht.

Ein junger Grafensohn des Lahngaues liebte ein seinem Geschlecht nicht ebenbürtiges Mädchen, deshalb stieß ihn sein Vater im Zorne von sich, daß er nie wieder vor sein Angesicht kommen solle. Das tat denn auch der junge Ritter, er ging und folgte dem Zuge seines Herzens und seiner Neigung. Aber um den alten Grafen her begann ein Sterben — sein Weib starb, seine Töchter starben, dann die vielen blühenden Söhne allzumal, einer nach dem andern; zuletzt hatte er nur noch einen — und auch dieser eine starb. Völlig vereinsamt, völlig kinderlos war der Greis, da gedachte er mit Schmerz seines verstoßenen Sohnes, wenn der bei ihm wäre, er wolle ihn nicht mehr um seiner Liebe willen verstoßen. Und ob er wohl noch lebte?

Der alte Graf machte sich auf und suchte ihn auf und ab am Rheinstrom und in den Flußtälern, die in diesen münden, und in den Seitentälern und auf den Bergen. Da kam er einst ermüdet an ein kleines Winzergehöft und traf ein Winzerpaar, Mann und Frau und wohl auch Kinder. Er sah, wie diese Leute ringsum den Felsboden gerodet hatten und



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hatten Reben gepflanzt und gewannen ihr Brot, das sie mit ihm teilten, denn er war hungrig.

Das junge Weib bot ihm Trauben aus irdener Schüssel, und der Mann trat dazu, auf der Schulter den blinkenden Karst, blinkend von stetem fleißigem Gebrauche. Da erkannte der alte Graf mit einem Male seinen Sohn in dem Häcker, fiel ihm um den Hals und weinte.

Darauf hat der Ritter über sein Weinberggehöft sich eine Burg gebaut und sie mit den Seinen bezogen, denn er wollte nicht mehr hinweg von dem Stück Erde, das er mit seinem Weibe gerodet und bebaut hatte. Das nannte man hernach den Grafenroder oder kurzweg Graroder Hof, weil ein Graf es gerodet hatte.

Der alte Graf lebte noch lange Jahre glücklich bei seinen Kindern und Enkeln, und der junge Graf nahm zum Helmkleinod einen bärtigen Mann im schwarzen, kurzen Rock, auf der Schulter eine silberne Rodhaue tragend, zum Andenken, daß er selbst mit seiner Geliebten den Boden gerodet habe.

In der alten Kirche zu Schierstein am Rhein sind noch Grabmäler des Geschlechts zu sehen.


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