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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES SCHNEIDERS

'Wisse, o größter König unserer Zeit, am wunderbarsten ist, was mir begegnet und zugestoßen ist. Gestern morgen, bevor ich den Buckligen traf, war ich bei der Hochzeitsfeier eines meiner Genossen, der in seinem Hause an die zwanzig Leute dieser Stadt versammelt hatte; wir waren alle Handwerker, unter anderen Schneider, Seidenspinner und Zimmerleute und mehr noch vom gleichen Schlag. Als die Sonne aufgegangen war, setzte man uns Speisen vor, damit wir äßen; und siehe, der Herr des Hauses trat zu uns ein, und mit ihm ein fremder und anmutiger Jüngling aus dem Volk von Baghdad. Dieser Jüngling trug wunderschöne Kleider; und er war selbst so schön, wie er nur sein konnte, aber er war lahm. Er trat zu uns und grüßte uns, und wir standen auf, ihm zu Ehren; doch als er sich gerade setzen wollte, erblickte er unter uns einen, der Barbier war. Da lehnte er es ab, sich zu setzen, und wollte uns verlassen. Aber wir hielten ihn fest; auch unser Wirt suchte ihn zu halten und beschwor ihn und fragte ihn: ,Was ist der Grund, daß du eintrittst und sofort wieder gehen willst? 'Jener erwiderte: ,Bei Allah, mein Herr, tritt mir nicht in den Weg! Der Grund, weshalb ich zurückkehren will, ist jener Barbier arger Vorbedeutung, der dort sitzt.' Als der Hausherr diese Worte von ihm hörte, da geriet er in höchstes Erstaunen und sagte:



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,Wie kann dieser Jüngling aus Baghdad so in Verlegenheit wegen dieses Barbiers sein?' Dann sahen wir den Fremden an und sprachen: ,Erkläre uns den Grund deines Zornes gegen diesen Barbier.' ,Ihr edlen Herren,' sprach der Jüngling, ,mir ist in Baghdad, meiner Heimatstadt, mit diesem Barbier ein Abenteuer begegnet; er war schuld, daß ich mein Bein brach und lahm wurde, und ich habe geschworen, nie wieder im gleichen Raum mit ihm zu sitzen, noch auch in einer Stadt zu bleiben, in der er weilt. Ich habe Baghdad verlassen und bin von dort fortgereist, um hier in eurer Stadt zu wohnen. Aber ich werde keine Nacht mehr hier zubringen, sondern weiterreisen.' Da baten wir ihn: ,üm Allahs willen, erzähle uns deine Geschichte.' Der Jüngling also begann, während der Barbier erbleichte: ,Ihr edlen Herren, wisset, mein Vater war einer der ersten Kaufleute der Stadt Baghdad, und Allah der Erhabene hatte ihm kein anderes Kind beschert als mich. Als ich nun aufwuchs und zum Manne herangereift war, ging mein Vater zur Gnade Allahs des Erhabenen ein und hinterließ mir Geld, Eunuchen und Diener; und ich pflegte mich gut zu kleiden und gut zu essen. Allah aber hatte mich zu einem Hasser der Frauen gemacht; und eines Tages, als ich durch die Straßen von Baghdad dahinging, kam mir eine Schar Frauen auf dem Weg entgegen. Ich floh und trat in eine Gasse, die keinen Ausgang hatte, und setzte mich am oberen Ende auf eine steinerne Bank. Kaum hatte ich eine Weile gesessen, so tat sich gegenüber der Stelle, an der ich war, ein Fenster auf, und aus ihm schaute eine junge Dame, schön wie der volle Mond, wenn er am schönsten ist; nie noch in meinem Leben sah ich ihresgleichen. Sie hatte Blumen auf dem Fensterbrett und die begoß sie; dann wandte sie sich nach rechts und nach links, schloß das Fenster und ging hinweg. In meinem Herzen aber brannte plötzliches Feuer;



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meine Seele war von ihr gefangen, und der Haß verwandelte sich in Liebe. Ich blieb dort sitzen, der Welt verloren, bis zum Sonnenuntergang; und siehe, da kam der Kadi der Stadt vorbeigeritten, und ihm vorauf seine Sklaven und hinter ihm Eunuchen. Er stieg ab und trat in das Haus, aus dem das Mädchen herausgeschaut hatte. Da wußte ich, daß er ihr Vater war; dann ging ich traurig nach Hause und warf mich im Gram auf mein Lager. Meine Sklavinnen kamen herein und setzten sich um mich und wußten nicht, was mich bedrückte; ich aber sprach auch nicht zu ihnen, und sie weinten und klagten über mich. Da plötzlich trat eine alte Frau herein; die sah mich an, und mein Zustand blieb ihr nicht verborgen. Sie setzte sich mir zu Häupten und suchte mich zu beruhigen, indem sie sprach: ,Mein Sohn, erzähle mir alles, und ich will dich mit ihr vereinigen.' So erzählte ich ihr mein Erlebnis; und sie fuhr fort: ,Mein lieber Sohn, sie ist die Tochter des Kadis von Baghdad, der sie in strenger Abgeschlossenheit hält; und die Stelle, an der du sie sahest, liegt in ihrem Stockwerk, während ihr Vater einen großen Saal zu ebener Erde innehat. Sie sitzt dort oben allein, und ich komme viel in das Haus; also kannst du sie nur durch mich gewinnen. Drum sei guten Mutes!' So ward ich denn froh, als ich ihre Worte vernommen hatte, und die Meinen freuten sich darüber, daß ich an jenem Tage gesund wurde. Die Alte ging und kam wieder, doch mit betrübtem Antlitz; und sie sprach: ,Mein Sohn, frage nicht, was mir von ihr widerfahren ist! Als ich es ihr sagte, rief sie: ,Wenn du nicht mit solchen Reden still bist, du Unglücksalte, so werde ich dich behandeln, wie du es verdienst.' Aber ich will unbedingt noch einmal zu ihr zurückkehren.' Als ich das von ihr hörte, fügte es Leiden zu meinem Leiden; doch nach abermals einigen Tagen kam die Alte wieder und sagte: ,Mein Sohn, ich fordere



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von dir den Lohn für gute Botschaft.' Als ich das von ihr vernahm, kehrte mein Leben zu mir zurück, und ich sprach zu ihr: ,Du sollst alles Beste erhalten.' Nun begann sie: ,Gestern ging ich zu der Dame; und als sie sah, daß ich gebrochenen Herzens war und daß mir die Tränen aus den Augen stürzten, fragte sie: ,Liebe Muhme, warum muß ich deine Brust so beklommen sehen?', und ich antwortete weinend: ,O Herrin, ich komme gerade vom Hause eines Jünglings, der dich liebt und der um deinetwillen dem Tode nahe ist.' Da sprach sie, während ihr Herz weich wurde: ,Woher ist dieser Jüngling, von dem du redest?', und ich erwiderte: ,Er ist für mich wie ein Sohn und die Frucht meines Herzens. Er sah dich vor einigen Tagen am Fenster, als du deine Blumen begossest, und da er dein Antlitz erblickte, begann er dich leidenschaftlich zu lieben. Ich ließ ihn wissen, wie es mir das erste Mal mit dir erging, und da verschlimmerte sich sein Leiden; er liegt im Bett und istdes Todes, daran ist nicht zu zweifeln.' Erblassend fragte sie: ,All das um meinetwillen?' Ich antwortete: Ja, bei Gott! Was willst du, daß ich tue?' Sie sprach: ,Geh hin zu ihm und grüße ihn von mir und sage ihm, ich sei zweimal so krank als er. Am Freitag, vor dem Gebete, soll er hier zum Hause kommen; und wenn er kommt, werde ich selber hinabsteigen und die Tür öffnen. Ich will ihn in meine Kammer führen und eine Weile bei ihm bleiben und ihn von dannen schicken, ehe mein Vater vom Gebete zurückkehrt.' Als ich die Worte der Alten vernahm, hörten die Schmerzen, an denen ich litt, auf, und frohen Herzens nahm ich alle Kleider, die ich trug, und gab sie ihr. Dann ging sie mit den Worten: ,Sei guten Mutes!' Ich erwiderte: ,Keine Spur von Schmerzen ist mir geblieben.' Und meine Angehörigen und meine Freunde freuten sich meiner Genesung, und so wartete ich bis zum Freitag; siehe, da trat die Alte zu



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mir ein und fragte mich, wie es mir ginge, und ich antwortete ihr, ich sei gesund und wohl. Dann zog ich meine Kleider an und besprengte mich mit Wohlgerüchen und wartete nun, bis die andern zum Gebete gehen würden, damit ich zu ihr eilen könnte. Aber die Alte sagte: ,Du hast reichlich Zeit; und also tätest du gut daran, ins Bad zu gehen und dir die Haare scheren zu lassen, besonders nach deiner schweren Krankheit.' ,Das ist recht,' erwiderte ich; ,aber ich will mir erst den Kopf scheren lassen und dann ins Bad sehen.' Darauf schickte ich nach dem Barbier, der mich scheren sollte, indem ich zu dem Diener sagte: ,Geh in den Basar und hole mir einen Barbier, einen verständigen Burschen, der sich nicht in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen, und der mir den Kopf nicht spaltet mit seinem übermäßigen Schwätzen.' Der Diener ging und kehrte alsbald mit diesem elenden Alten zurück. Als er eintrat, grüßte er mich, und ich erwiderte seinen Gruß; und er sprach: ,Fürwahr, ich sehe dich mageren Leibes'; und ich: ,Ich war krank.' Da fuhr er fort: ,Allah vertreibe deine Sorge und deinen Gram, Not und Trauer sollen von dir weichen!' ,Allah erhöre dein Gebet!' versetzte ich; und er: ,Freue dich, o Herr, denn die Genesung ist schon zu dir gekommen. Wünschest du geschoren zu werden, oder soll ich dich zur Ader lassen? Wird doch durch Ibn 'Abbâs -Allah habe ihn selig! —berichtet, daß der Prophet gesagt hat: Wer sich sein Haar am Freitag schneiden läßt, von dem wendet Gott siebzig Krankheiten. Und berichtet wird auch, daß er sagte: Wer sich am Freitag schröpfen läßt, der ist sicher vor dem Verlust des Gesichts und vor vielen Krankheiten.' ,Laß dies Gerede,' rief ich aus; ,komm jetzt und seher mir den Kopf; ich bin ein kranker Mann.' Da streckte er seine Hand aus, holte ein Tuch hervor und entfaltete es, und siehe, es enthielt ein Astrolabium mit sieben Scheiben, das mit Silber



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überzogen war. Und er nahm es, ging in die Mitte des Hofes, hob den Kopf zu den Strahlen der Sonne und blickte eine lange Zeit hindurch. Dann sagte er zu mir: ,Wisse, von diesem unserem Tage, der da ist ein Freitag, und zwar Freitag der zehnte Safar im sechshundertdreiundfünfzigsten Jahre seit der Hidschra des Propheten -über ihm sei herrlicher Segen und alles Heil! — und im siebentausenddreihundertundzwanzigsten Jahre der alexandrinischen Zeitrechnung, dessen Tagesgestirn nach den Regeln der Wissenschaft der Berechnung der Mars ist, sind verstrichen acht Grade und sechs Minuten. Nun aber trifft es sich so, daß in Konjunktion mit dem Mars Merkur steht, und das ergibt einen günstigen Augenblick für das Schneiden der Haare; mir ist aber auch offenbar, daß du mit jemandem vereint zu sein wünschest, der dadurch beglückt ist. Aber danach kommt ein Streit, der sich zutragen wird, und eine Sache, die ich dir nicht nennen will.' Ich aber rief: ,üm Gottes willen, du ermüdest mich und verkürzest mir mein Leben und weissagst mir noch dazu Unglück. Ich habe dich holen lassen, damit du mir den Kopf scherst, und zu keinem Zwecke sonst; also auf, scher mir den Kopf und rede nicht länger!' Er darauf: ,Bei Allah, wenn du nur wüßtest, was dir widerfahren wird, so würdest du heute nichts unternehmen, und ich rate dir, tu, wie ich dir nach der Berechnung der Konstellationen sage.' Ich sagte: ,Bei Allah, nie noch sah ich einen Barbier, gelehrt in der Astrologie, wie dich; aber ich weiß sicher, daß du viel scherzest. Ich habe dich nur gerufen, damit du mir den Kopf scherst, aber du kommst zu mir mit diesem traurigen Geschwätz.' Da erwiderte der Barbier: ,Und was willst du mehr? Allah gewährte dir in seiner Güte einen Barbier, der Astrolog ist, gelehrt in der Alchimie und der Chiromantie, in der Syntax, Grammatik und Lexikologie; in der Bedeutungslehre, Rhetorik und Logik; in



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der Arithmetik, Astronomie und Geometrie; in der Theologie, den Traditionen des Propheten und der Auslegung des Korans. Ich habe die Bücher gelesen und studiert und mich in den Dingen geübt und sie kapiert; ich habedie Wissenschaften behalten und gründlich bewältigt und habe die Praxis gelernt und mich so vervielfältigt; kurz, ich habe alle Dinge begriffen und in mir vereint. Dein Vater liebte mich ob meines Mangels an Aufdringlichkeit, und darum ist es mir eine religiöse Pflicht', dir zu dienen. Ich bin gar nicht aufdringlich, wie du wohl annimmst, und aus diesem Grunde bin ich sogar bekannt unter dem Namen: der würdevolle Schweiger. Und es geziemt sich also für dich, daß du Allah preisest und mich nicht hinderst; denn ich rate dir gut, und ich habe Mitleid mit dir. Ich wollte, ich stände ein volles Jahr in deinen Diensten, auf daß du mir mein Recht zuteil werden ließest; und ich würde dann keinen Lohn von dir verlangen.' Als ich das alles von ihm hatte anhören müssen, sprach ich: ,Fürwahr, du bringst mich heute sicher noch um.' — — «

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 30. Nacht anbrach, fuhr sie fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß, als der Jüngling sagte: ,Fürwahr, du bringst mich heute noch um!', der Barbier antwortete: ,Junger Herr, mich nennen die Leute den Schweiger, dieweil ich so wenig Worte mache im Gegensatz zu meinen sechs Brüdern. Denn der älteste heißt el-Bakbûk, der Schwätzer; der zweite aber el-Haddâr, der Schreihals ;und der dritte el-Fakîk, der Plapperer; doch des vierten Namen ist el-Kûz al-Uswâni, der Assuaner Krug mit dem ewig offenen Mund; der fünfte heißt el-Faschschâr, der Bramarbas; der sechste heißt Schakâschik, das Gefasel; doch der siebente heißt es-Sâmit, der Schweiger, und das



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bin ich selber!' Während der Barbier da noch immer mehr auf mich losschwatzte, glaubte ich, mir sei die Galle geplatzt. Ich sagte deshalb zudem Sklaven: ,Gib ihm einen Vierteldinar und laß ihn in Gottes Namen weggehen; ich will mir heute den Kopf nicht mehr scheren lassen.' Da sagte dieser Barbier, als er meinen Befehl an den Sklaven hörte: ,Was für Worte, o mein Gebieter! Bei Allah, ich nehme keinen Lohn von dir, bevor ich dich nicht bedient habe. Ich muß dich doch bedienen; ja, es ist meine Pflicht, dich zubedienen und deine Wünsche zu erfüllen; und ich frage auch nichts danach, wenn ich niemals Geld von dir erhalte. Wenn du auch meinen Wert nicht kennst, so kenne ich doch deinen Wert; und ich verdanke deinem seligen Vater —Allah der Erhabene erbarme sich seiner! —gar manche Wohltat, denn er war ein freigebiger Mann. Bei Allah, dein Vater ließ mich eines Tages holen, und es war ein Tag wie dieser gesegnete Tag, und ich kam zu ihm und fand Gesellschaft von Freunden bei ihm. Da sprach er zu mir: ,Laß mich zur Ader!' Ich aber zog mein Astrolabium hervor, nahm die Sonnenhöhe für ihn auf und stellte fest, daß das Gestirn ungünstig und daß ein Aderlaß zu der Zeit ungelegen war. Und ich tat ihm das kund, und er folgte meinem Rat und wartete. Da dichtete ich ihm zu Ehren diese Verse:

Ich ging zudem edlen Herrn, das Blut ihm abzuzapfen,
Und fand, daß die Zeit dem Heile des Leibes nicht günstig war.
Ich setzte mich hin und erzählte ihm mancherlei Wunderdinge;
Das Wissen aus meinem Verstande legte ich vor ihm dar.
Und es gefiel ihm, auf mich zu hören, und er sagte:
Du hast die Höhe des Wissens erklommen, o Weisheitsquell!
Doch ich sprach: Hättest du nicht, o du Gebieter der Menschen,
Mir den Verstand geliehen, der meine versagte mir schnell.
Du bist der Herr der Gnade, der Güte und Freigebigkeit,
Der Menschen Hort und Wissen, Verstand und Entschlossenheit.



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Dein Vater war ganz entzückt und rief dem Sklaven zu, indem er sprach: ,Gib ihm einhundertunddrei Dinare und ein Ehrengewand!' Da gab der Diener mir das alles, und ich wartete, bis der günstige Augenblick kam, und dann ließ ich ihn zur Ader. Er widersprach mir nicht, nein, er dankte mir vielmehr; und alle Freunde, die zugegen waren, dankten mir auch und priesen mich. Doch als der Aderlaß vorüber war, konnte ich nicht mehr schweigen, sondern ich fragte ihn: ,Bei Allah, mein Gebieter, was veranlaßt dich, zu dem Sklaven zu sagen: ,Gib ihm einhundertunddrei Dinare?' Da erwiderte er: ,Ein Dinar war für die astrologische Beobachtung, der zweite für deine Unterhaltung, der dritte für den Aderlaß, und die übrigen hundert und das Ehrengewand für deine Verse zu meinem Lobe.' ,Möge Allah sich meines Vaters nicht erbarmen!' rief ich aus, ,dieweil er deinesgleichen kannte!' Dieser Barbier aber lächelte und sprach: ,Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Prophet Allahs! Preis sei Ihm, der wandelt, doch nicht verwandelt wird! Ich hatte dich für einen Mann von Verstand gehalten, aber du faselst jetzt in deiner Krankheit. Allah sprach in seinem hochheiligen Buch: Die da ihren Zorn im Zaume halten und den Menschen vergeben'; und auf jeden Fall bist du entschuldigt. Aber ich kann mir nicht denken, weshalb du so drängst; und du mußt wissen, dein Vater und dein Großvater taten nichts, ohne mich zuvor um Rat zu fragen; und es heißt im Spruche: Wer Rat erteilt, verdient Vertrauen; wer Rat sich holt, wird nicht enttäuscht, und ferner heißt es im Sprichworte: Wer das Alter nicht ehrt, ist des Alters nicht wert. Auch hat der Dichter gesagt:

Hast du eine Sache beschlossen, so frag
Um Rat den Erfahrnen, und folge ihm stets.



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Du wirst nie einen finden, der erfahrener ist in den Dingen der Welt als ich, und hier stehe ich auf meinen Füßen, um dir zu dienen. Ich bin nicht böse auf dich; weshalb solltest du also böse auf mich sein? Ich werde Geduld mit dir haben, um der Güte willen, die mir dein Vater erwiesen hat.' ,Bei Allah,' rief ich, ,o du Eselsschwanz, du quälst mich immer noch mit deinem Schwätzen, und übergießest mich immer mehr mit deinem Gewäsch, und dabei will ich nur von dir, daß du mir den Kopf scherst und deiner Wege gehst!' Darauf seifte er mir den Kopf und sagte: ,Ich sehe, du bist böse auf mich. Doch will ich es dir nicht übelnehmen; denn dein Verstand ist schwach, und du bist fast noch ein Kind; noch gestern nahm ich dich auf die Schulter und trug dich in die Schule.' ,Bruder,' rief ich, ,um Gottes willen, bleib nur, um deine Arbeit an mir zu verrichten, und geh deines Weges!' Und ich zerriß mir das Kleid. Als er sah, was ich getan hatte, nahm er das Messer und zog es ab, und er hörte nicht auf, es zu schärfen, bis mich beinah die Besinnung verließ; schließlich aber kam er herbei und rasierte mir einen Teil des Kopfes; dann hielt er inne und sprach: ,Mein Gebieter: Die Eile fliegt uns vom Satan zu, doch vom Barmherzigen kommt die Ruh.' Dann sprach er diese Verse:

Besinn dich und baste nie mit irgendeinem Plane;
Hab Mitleid mit den Menschen, so wirst du durch Mitleid beglückt.
Es gibt keine Macht der Welt, über der nicht Gottes Macht stände;
Und jeder Tyrann wird noch durch einen Tyrannen bedruckt.

Darauf fuhr er fort: ,Mein Gebieter, ich glaube gar, du kennst meinen Rang nicht; denn wahrlich, meine Hand ruht auf den Häuptern der Könige und Emire und Wesire und der Weisen und Gelehrten; und der Dichter sagt von einem meinesgleichen:

Ein jedes Gewerbe ist gleichwie ein Schmuckstück;
Doch dieser Barbier ist die Perle am Band.



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Er steht über jedem, der Weisheit besitzet;
Der Könige Häupter sind unter seiner Hand.'

Da sagte ich: ,Laß das, was dich nichts angeht! Du machst mir die Brust beklommen und erregst mein Gemüt.' Er aber sprach: ,Mir scheint, du bist ein eiliger Mensch'; und ich rief: ,Ja! ja! ja!' Er fuhr fort: ,Gedulde dich, denn die Eile ist des Teufels Sach, sie bringt uns Reue und Ungemach. Und der Prophet - auf ihm ruhe Segen und Heil! —hat gesagt: Das beste der Werke ist das, darinnen Überlegung liegt. Ich aber, bei Allah, hege Zweifel über dein Vorhaben, und so wollte ich, du ließest mich wissen, was du beabsichtigst; denn ich fürchte, es ist nichts weniger als gut.' Es waren nun noch drei Stunden bis zum Gebete übrig. Doch er sprach: ,Ich wünsche nicht, im Zweifel darüber zu sein; ja, ich muß die Zeit ganz genau wissen, denn wahrlich: Wer nur in Vermutungen spricht, entgehet dem Tadel nicht, —besonders ein Mensch wie ich, dessen Vorzüge bei den Menschen bekannt und berühmt sind; und so ziemt es mir nicht, aufs Geratewohl zu reden, wie es so die gewöhnlichen Astrologen tun.' Dann warf er das Messer aus der Hand und nahm das Astrolabium; und er ging hinaus unter die Sonne und blieb eine lange Weile dort stehen; und schließlich kehrte er zu mir zurück und sagte: ,Es bleiben bis zur Zeit des Gebets noch drei Stunden, nicht mehr und nicht weniger.' Da rief ich: ,üm Gottes willen, halt den Mund, du zerreißest mir das Herz.' Und er nahm das Messer wieder auf, schärfte es, wie er vorher getan hatte, und rasierte mir wieder an meinem Kopfe und sprach: ,Ich bin in Sorge wegen deiner Eile, und wirklich, du tätest gut daran, mich ihren Grund wissen zu lassen, da du ja weißt, daß weder dein Vater noch auch dein Großvater je das geringste unternahmen, ohne mich vorher um Rat zu fragen.' Als ich sah, daß es kein Entkommen gab, da sagte ich bei mir



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selber: ,Die Zeit des Gebetes naht, und ich möchte zu ihr gehen, ehe die Leute vom Gebet zurückkommen. Wenn ich noch länger aufgehalten werde, so weiß ich nicht mehr, wie ich zu ihr hineinkommen soll.' Und ich sprach laut: ,Mach schnell und laß ab von deinem Geschwätz und deiner Aufdringlichkeit; ich will zu einer Gesellschaft im Hause eines meiner Freunde gehen.' Als er mich von einer Gesellschaft reden hörte, rief er aus: ,Dieser dein Tag ist ein gesegneter Tag für mich! Eben gestern lud ich mir eine Gesellschaft von Freunden ein, und ich habe vergessen, Speise für sie zu besorgen; jetzt denke ich wieder daran: o weh, die Schmach!' ,Darüber mache dir keine Sorge', erwiderte ich; ,sagte ich dir nicht, daß ich heute bei einer Gesellschaft bin? Also soll alles Trinkbare und Eßbare in meinem Hause dein sein, wenn du deine Arbeit beenden willst und dich beeilst, mir meinen Kopf zu rasieren.' Da sprach er: ,Allah vergelte dir mit Gutem! Beschreibe mir doch, was du für meine Gäste hast, damit ich es weiß!' Ich erwiderte: ,Fünf Arten von Fleisch, zehn gebratene Küken und ein geröstetes Lamm.' ,Laß sie mir bringen', sprach er, ,damit ich sie sehe.' Da ließ ich ihm das alles bringen. Und als er es sah, da rief er: ,Aber noch fehlt der Wein'; und ich: ,Den habe ich auch!' Er darauf: ,Laß ihn bringen!' Ich ließ ihn holen, und er rief aus: ,Allah segne dich für deine Freigebigkeit! Doch es fehlt noch an Räucherwerk und Essenzen.' Da ließ ich ihm eine Schachtel bringen mit Nadd, Abc, Amber und Moschus, das Ganze im Wert von fünfzig Dinaren. Jetzt aber drängte die Zeit, und auch ich selbst fühlte mich bedrängt, und so sagte ich zu ihm: ,Nimm alles und rasiere mir den Kopf zu Ende, beim Leben Mohammeds -Allah segne ihn und gebe ihm Heil!' Der Barbier jedoch sprach: ,Bei Allah, ich will es nicht nehmen, bis ich alles sehe, was darin ist.' So befahl ich dem Sklaven, den



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Kasten zu öffnen; der Barbier legte das Astrolabium aus der Hand, hockte sich nieder auf den Boden und drehte die Essenzen und das Räucherwerk und das Aloeholz in der Schachtel hin und her, bis ich ganz beklommen wurde. Schließlich trat er zu mir her, griff wieder zum Messer, rasierte meinen Kopf ein wenig und sprach die Verse:

Es wächst der Sohn heran, gleichwie sein Vater war;
Denn siehe, aus den Wurzeln sproßt der Baum empor.

Und er fuhr fort: ,Bei Allah, mein Sohn, ich weiß nicht, ob ich dir danken soll oder deinem Vater; denn heute kommt alles, womit ich meine Gäste bewirte, nur von deiner Güte und Wohltat; und wenn auch keiner meiner Gäste es Wert ist, so habe ich doch eine Reihe ehrenwerter Männer zu Gaste: zum Beispiel Zaitûn, den Badbesitzer, und Sah', den Kornhändler, und Sîlat, den Bohnenverkäufer, und 'Ikrischa, den Grünkrämer, und Humaid, den Straßenkehrer, und Sa'îd, den Kameltreiber, und Suwaid, den Lastträger, und Abu Makârisch, den Badediener, und Kasîm, den Wächter, und Karîm, den Stallknecht. Und unter ihnen ist keiner, der stumpfsinnig wäre oder ein Schreihals, vom Trunk betört, noch auch ein Händelsucher oder jemand, der die Freude stört; und ein jeder von ihnen hat einen eigenen Tanz, den er tanzt, und ein paar Verse, die er singt; und was das beste an ihnen ist, sie sind, genau wie dein Diener, dein Sklave hier und verstehen nicht viel zu reden noch auch aufdringlich zu sein. Der Badbesitzer singt zum Tamburin ein bezauberndes Lied; ersteht auf und tanzt und singt:

Ich geh zu meiner Mutter und Julie meinen Krug.

Der Kornhändler steht höher in der Kunst als irgend sonst einer; er tanzt und singt:

O Heulweib, o Herrin, du kannst es so gut.



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Er läßt niemandem die Eingeweide heil, so muß man über ihn lachen. Aber der Straßenkehrer singt, daß die Vögel haltmachen; und er tanzt und singt:

Was meine Frau weiß, steckt in einer Kiste!

Und er genießt Achtung, denn er ist ein netter Kerl; und von seinen Vorzügen sage ich immer:

Mein Leben geb ich für den Kehrer, zu dem ich in Liebe mich neige;
In seiner saßen Gestalt gleicht er dem schwankenden Zweige.
Das Schicksal schenkte ihn mir eines Abends, da sagte ich -
Und die immer wachsende Sehnsucht fraß und zermürbte mich -:
Du legtest dein Feuer ins Herz mir! Drauf sprach zu mir der Mann:
Kein Wunder ist's, zündet der Kehrer mal auch die Öfen an!

,Ein jeder von ihnen ist vollkommen in allem, was den Verstand mit Freude und Heiterkeit bezaubern kann'; und er fügte hinzu: ,Aber Hören ist noch nicht Sehen; wenn du dich entschlossest, zu uns zu kommen, das wäre erwünschter für dich und für uns; drum unterlaß es, zu deinen Freunden zu gehen, mit denen du dich verabredet hast. Die Spuren der Krankheit liegen noch auf dir, und vielleicht gehst du gar unter Leute, die große Schwätzer sind und die von Dingen reden, die sie nichts angehn; oder vielleicht ist unter ihnen ein aufdringlicher Kerl, der dir ein Loch in den Kopf redet, und dabei bist du erst halb von der Krankheit genesen!' ,Ein andermal soll es geschehen', sagte ich und lachte aus zornigem Herzen; ,tu deine Arbeit an mir! Dann will ich im Schutze Allahs des Erhabenen fortgehen, und du kannst dich zu deinen Freunden begeben; denn sie werden schon auf dich warten.' ,O mein Herr', erwiderte er, ,ich möchte dich nur mit diesen Burschen bekanntmachen, diesen grundgescheuten, den Söhnen von vornehmen Leuten, unter denen es keinen aufdringlichen Schwätzer gibt. Denn nie, seit ich herangewachsen bin, habe ich es ertragen können, mit



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einem Menschen zu verkehren, der nach dem fragt, was ihn nichts angeht, und ich habe mich nie mit andern befreundet als mit Leuten, die wie ich Menschen von wenig Worten sind. Wahrlich, wenn du mit ihnen verkehrtest oder sie auch nur einmal sähest, du würdest alle deine Freunde verlassen.' Ich sprach zu ihm: ,Allah mache dein Vergnügen mit ihnen vollkommen! Ich muß wirklich mal eines Tages zu ihnen gehen.' Aber er sagte: ,Ich wünschte, es wäre heute! Wenn du dich entschließen könntest, mit mir zu meinen Freunden zugehen, so laß uns mit deinen Gaben zu ihnen gehen! Doch wenn du durchaus heute zu deinen Freunden gehen willst, so will ich diese guten Dinge, mit denen du mich beehrt hast, zu meinen Gästen bringen und ihnen sagen, daß sie essen sollen und trinken und nicht auf mich warten. Dann will ich zu dir zurückkehren und dich zu deinen Freunden begleiten; denn zwischen mir und meinen Freunden gibt es keine Förmlichkeiten, die mich hinderten, sie zu verlassen. Ich werde bald zurück sein und mit dir gehen, wohin du auch gehest.' Da schrie ich: ,Es gibt keine Majestät und es gibt keine Macht außer bei Allah, dem Erhabenen und Allmächtigen! Geh du zu deinen Freunden und vergnüge dich mit ihnen; und, bitte, laß mich zu meinen Freunden gehen und heute bei ihnen bleiben, denn sie erwarten mich.' Der Barbier aber rief: ,Allein laß ich dich nicht gehen!' Und ich: ,An dem Ort, zu dem ich gehe, darf niemand eintreten außer mir.' Er darauf: ,Ich glaube, du hast heute ein Stelldichein mit einer Frau; sonst würdest du mich mit dir nehmen. Und doch verdiente ich es am ehesten unter allen Menschen, und ich könnte dir zu dem Ziel verhelfen, das du erstrebst. Doch ich fürchte, du willst zu einer fremden Frau gehen und dein Leben verscherzen; denn in dieser Stadt Baghdad kann man nichts von solchen Dingen tun, besonders nicht



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an einem Tage wie diesem; dieser Wali von Baghdad ist ein sehr strenger Mann.' ,Holla', rief ich, ,du schäbiger Scheich! Scher dich weg! Was sind das für Worte, mit denen du mir kommst?' ,O du Tor', tiefer, ,du sagst etwas, dessen man sich schämen sollte, und du verbirgst deine Absicht vor mir; aber ich habe es gemerkt, und ich weiß genau Bescheid. Was ich will, ist doch nur, daß ich dir heute nach Kräften helfe.' Nun fürchtete ich, meine Angehörigen und meine Nachbarn könnten das Gerede des Barbiers belauschen, und so schwieg ich lange. Inzwischen war die Zeit des Gebets gekommen, und die Predigt mußte schon folgen. Als er meinen Kopf zu Ende rasiert hatte, sprach ich zu ihm: ,Geh mit Speise und Trank zu deinen Freunden; und ich will warten, bis du zurückkommst. Dann sollst du mit mir gehen.' So bemühte ich mich krampfhaft, den verdammten Kerl da zu beschwichtigen und zu überlisten, damit er mich bloß verließe; doch er sagte: ,Du willst mich überlisten und allein zu deinem Stelldichein gehen; und du willst dich in eine Gefahr begeben, aus der es keine Rettung für dich gibt. Doch bei Allah, bei Allah! Geh nicht, bis ich bei dir zurück bin, daß ich dich begleiten kann und sehe, wie deine Sache ausläuft!' ,Sei es so', versetzte ich, ,und bleibe mir nicht zu lange aus!' Da nahm er alles, was ich ihm gegeben hatte, Speisen und Getränke und die anderen Dinge, und ging aus meinem Hause davon; aber der verdammte Kerl übergab es einem Träger, um es in sein Haus zu tragen, und er selbst versteckte sich in einer der Gassen. Ich aber sprang sofort auf; denn die Gebetsrufer hatten schon den Salâm des Freitags ausgerufen, das ist den Segen über den Propheten.' Und ich zog mich in Eile an, ging allein hinaus, kam zu der Straße und



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stellte mich neben das Haus, darin ich das Mädchen gesehen hatte. Da sah ich die Alte an der Tür stehen und auf mich warten, und ich ging mit ihr hinauf ins obere Stockwerk, in dem das Mädchen wohnte. Aber kaum war ich dort eingetreten, da kehrte plötzlich der Herr des Hauses vom Gebet in seine Wohnung zurück, trat in den großen Saal und schloß die Tür. Und ich blickte vom Fenster hinunter, sah diesen gottverfluchten Barbier an der Tür sitzen und dachte bei mir: ,Wie hat dieser Satan mich hier ausfindig gemacht?' Und in ebendiesem Augenblick geschah es, nach dem Willen Allahs, der beschlossen hatte, den Schleier meines Geheimnisses zu zerreißen, daß die Sklavin des Hausherrn einen Verstoß gegen ihn beging, für den er sie schlug. Sie schrie laut auf; da lief sein Sklave ins Zimmer, um ihr zu helfen, und der Kadi schlug auch ihn, und er schrie ebenfalls. Der verdammte Barbier aber vermeinte, ich würde geschlagen, und er schrie, zerriß sich die Kleider und streute sich Staub auf den Kopf und heulte immerfort und schrie um Hilfe, bis sich viel Volks um ihn gesammelt hatte; und dabei schrie er: ,Mein Herr ist ermordet im Hause des Kadi!' Dann lief er schreiend davon zu meinem Hause, und all das Volk hinter ihm her, und er sagte es meinen Angehörigen und Sklaven, und ehe ich noch wußte, was geschah, kamen sie daher mit zerrissenen Gewändern und gelöstem Haar und klagten: ,Wehe, unser Herr!' Und dieser Barbier lief ihnen voran in zerrissenen Kleidern, und er und das Volk schrie; meine Angehörigen schrien immerfort, und er ihnen voran, und sie heulten, indem sie riefen: ,Wehe um den Ermordeten! Wehe um den Ermordeten!' Und sie alle liefen auf das Haus zu, in dem ich war. Als der Hausherr den Aufruhr und das Geschrei an seiner Tür hörte, sagte er zu einem seiner Diener: ,Sieh nach, was es gibt!'; und der Diener ging und kehrte zu



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seinem Herrn zurück und sagte: ,O mein Herr, am Tore drängen sich mehr als zehntausend Seelen, Männer und Weiber, und schreien: Wehe um den Ermordeten! Und sie zeigen dabei auf unser Haus.' Wie der Kadi das hörte, da schien ihm die Sache ernst, und er ergrimmte; so machte er sich auf, öffnete die Tür und sah eine große Menge; und er staunte und sprach: ,Ihr Leute, was gibt est' ,Verfluchter! Hund! Schwein!' riefen meine Diener; ,du hast unseren Herrn ermordet!' Er fragte: ,Ihr Leute, was hat denn euer Herr getan, daß ich ihn töten sollte?' ——«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die Einunddreißigste 31. anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß, als der Kadi zu den Dienern sagte: ,Was hat euer Herr getan, daß ich ihn töten sollte? Mein Haus hier steht euch offen!', der Barbier rief: ,Du hast ihn in diesem Augenblick mit Geißeln geschlagen, und ich hörte ihn schreien!' Der Kadi wiederholte: ,Was hat er denn getan, daß ich ihn schlagen sollte? Und wer hat ihn in mein Haus geführt? Woher kam er, und wohin ging er?' ,Sei kein alter Bösewicht!' rief der Barbier; ,ich kenne die Geschichte; und die ganze Sache ist die, daß deine Tochter ihn liebt und er sie; und als du erfuhrst, daß er in deinem Hause war, da hießest du deine Sklaven ihn schlagen, und sie taten es; bei Allah, zwischen uns und dir soll niemand richten als der Kalif; oder aber führe du unsern Herrn heraus, damit seine Leute ihn in Empfang nehmen, ehe ich mit Gewalt eindringe und ihn aus deinem Hause reiße und du der Schande verfällst!' Da sprach der Kadi, indem er seine Zunge voller Scheu vor dem Volke im Zaume hielt: ,Wenn du die Wahrheit redest, so komm herein und hole ihn!' Nun drängte der Barbier vorwärts und trat in das Haus; und als ich den Barbier



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eintreten sah, da spähte ich aus nach einem Mittel zu Flucht und Entrinnen, doch ich fand nichts, außer einer großen Kiste in dem oberen Zimmer, in dem ich war. In die sprang ich hinein und zog den Deckel herunter und hielt meinen Atem an. Jener kam in das Haus, aber kaum war er darin, so lief er nach mir, schaute sich in dem Zimmer um, in dem ich war, wandte sich nach rechts und nach links, trat an die Kiste heran, in der ich mich befand, und hob sie sich auf den Kopf; da verlor ich fast die Besinnung. Dann rannte er spornstreichs davon. Weil ich nun wußte, daß er nicht von mir lassen würde, faßte ich mir ein Herz, öffnete die Kiste und sprang hinaus auf die Erde. Dabei brach ich mir ein Bein; und da die Tür offen war, sah ich einen großen Volksschwarm draußen. Nun trug ich im Ärmel viel Gold bei mir, das ich für einen solchen Tag wie diesen und eine solche Gelegenheit vorgesehen hatte; das warf ich unter das Volk, um seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken, und während sie danach griffen und sich damit beschäftigten, hinkte ich, so schnell ich konnte, durch die Gassen von Baghdad dahin und bog bald rechts ab und bald links ein. Aber dieser verdammte Barbier war hinter mir; und wohin ich nur ging, dieser Barbier lief mir nach und schrie laut: ,Sie wollten mir meinen Herrn rauben! Preis sei Allah, der mir den Sieg verlieh wider sie und meinen Herrn aus ihren Händen befreit hat!' Und zu mir: ,Du hast mich andauernd durch dein Tun betrübt, bis du schließlich dies über dich selbst gebracht hast! Hätte dir Allah nicht mich geschenkt, so wärst du nie aus dieser Not entkommen, in die du geraten warst, denn sie hätten dich so ins Unglück gestürzt, daß du dich niemals hättest befreien können. Wie lange verlangst du denn, daß ich noch für dich leben soll, um dich zu retten? Bei Allah, du hast mich durch dein törichtes Tun beinahe umgebracht,



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wie du allein dorthin gehen wolltest. Aber ich nehme dir deine Unwissenheit nicht übel; denn du bist so arm an Verstand und neigst so zur Überstürzung!' Ich fuhr ihn an: ,Genügt dir noch nicht, was mir schon von dir widerfahren ist, daß du mir noch nachlaufen mußt und in den Straßen des Basars solche Reden gegen mich führen?' Und ich gab fast den Geist auf vor Wut gegen ihn. Dann flüchtete ich mich in den Laden eines Webers, inmitten des Basars, und suchte Schutz bei dem Eigentümer; der hielt den Barbier von mir fern. Als ich dort in einer Vorratskammer saß, da sagte ich zu mir selber: ,Ich werde diesen verfluchten Barbier nie wieder loswerden, da er mich Tag und Nacht belagern wird; und ich kann doch seinen Anblick nicht mehr einen Atemzug lang ertragen.' Deshalb schickte ich sogleich nach Zeugen und schrieb meinen letzten Willen für meine Angehörigen; ich verteilte meine Habe und ernannte einen Aufseher über meine Leute, dem ich den Auftrag gab, mein Haus und meine Ländereien zu verkaufen; und ich übertrug ihm die Fürsorge für jung und alt. Dann machte ich mich alsbald auf und reiste, um von diesem Kuppler befreit zu werden; und ich ließ mich schließlich nieder in eurer Stadt, wo ich seit einiger Zeit schon lebe. Als ihr mich nun eingeladen hattet und ich hierhergekommen war, da sah ich diesen verfluchten Kuppler bei euch, der auf dem Ehrenplatz saß. Wie sollte denn mein Herz froh sein und heiter mein Aufenthalt in der Gesellschaft dieses Burschen, der all das über mich gebracht hat und die Ursache war, daß ich mir das Bein brach?'

Darauf lehnte der Jüngling es nochmals ab, sich zu setzen. Und als wir seine Erlebnisse mit dem Barbier gehört hatten - so fuhr der Schneider fort -, da sagten wir zu dem Barbier: ,Ist das wahr, was dieser Jüngling von dir erzählt?' ,Bei Allah', erwiderte er, ,ich handelte so an ihm dank meiner Erfahrung



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und meinem Verstand und meiner Großmut. Wäre ich nicht gewesen, er wäre umgekommen, und niemand war die Ursache seiner Rettung als ich allein. Es war doch gut, daß er nur am Bein litt und nicht am Leben! Wäre ich ein Mensch der vielen Worte gewesen, ich hätte nicht so gut an ihm gehandelt. Doch seht, jetzt will ich euch eine Geschichte erzählen, die mir widerfahren ist, damit ihr ganz sicher seid, daß ich ein Mensch bin, der wenig Worte macht, daß ich nicht aufdringlich bin, sondern ganz anders als meine sechs Brüder; und die Geschichte ist diese.


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