Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Der Gast des Toten

In alten Zeiten war ein Totengräber im Kirchspiel Groß-Berkentime, der mußte eines Abends um neun Uhr noch ein Grab graben, denn der Tote sollte am andern Morgen beigesetzt werden. Als er eine Weile gegraben hatte, stieß er auf einen Sarg mit plattem Deckel, und da dieser ihm im Weg war, holte er ihn heraus, stellte ihn beiseite und machte das Grab so viel tiefer, daß ein Sarg auf dem andern Kaum hatte. Der Sarg war aber so hübsch, fast wie neu, und der Totengräber, neugierig, wer darin liege, schraubte ihn auf. Da hatte der Tote ein schönes Kissen von rotem Samt unter seinem Kopf.

Du scheinst mir ein vornehmer Herr gewesen zu sein, bei dir möcht ich wohl gastieren.

Der Tote antwortete:

Die Ehre kannst du haben.

Darauf der Totengräber:

Komm du erst ala Gast zu mir.

Das kann geschehen!" sprach der Tote.



366 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

"Nun so komme morgen abend an die große Kirchenpforte, da will ich dich empfangen.

Den andern Tag sprach der Totengräber:

"Mutter, ich bringe heute abend einen Gass.

"Was soll das für ein Gass sein?"fragte die Frau.

"Nun, du wirs ibn schon zu sehen bekommen" erwiderte der Mann, war Glock neun an der Kirchentür, holte seinen Gast, brachte ihn ins Haus und ass und trank mit ihm wie mit einem andern. Als der Gast gesättigt war, holte er ihm eine Pfeife und abak, und da rauchte jener auch eine Pfeife, und nach einer Stunde Verweilens sagte der Gast:

"Nun gibst du mir das Geleite bis zur großen Kirchentür, und morgen abend bist du bei mir zu Gast.

Am andern Tage mit dem nämlichen Glockenschlag und an der nämlichen Stelle empfing der Gast den Totengräber und ging mit ihm durch eine Gruft unter die Erde. Da war gar eine schöne Stube, und daran stieß noch eine Stube, darin war prächtige Musik, in die aber hineinzugehen, verwehrte der unterirdische Gastfreund. Es war auch außerhalb schon schön genug, und der Totengräber sagte:

"Ach, hier ist es ja herrlich, da möcht' einer wohl hundert Jahre sein.

Da kamen Leute, die gingen schweigend durch das Vorzimmer in sene Stube hinein, aus der die herrliche Musik tönte, darunter war auch des Totengräbers eigner Vater.

"Ei Vater, wo wollt Ihr denn hin?" rief er ihn an, aber jener antwortete ihm nicht. Es dauerte nicht lange, so kam des Totengräbers Frau, und er rief ihr zu: "Ei Mutter! wo willst du denn hin?

Aber sie hat ihm nicht geantwortet und ist auch dahinein gegangen, wo die wunderschöne Musik war.

Nun kam seine älteste Tochter, wieder rief er, blieb ohne Antwort, schweigend ging sie hinein. Es kamen Vettern, Nachbarn, Bekannte jeden Alters, selbst Kinder, und wen er anrief, antwortete nicht. Endlich kam auch seine jüngste Tochter, sein Liebling, und er rief:

"Meine Dirn', wo willst denn hin?



367 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

Aber auch sie sah ihn nicht an und antwortete ihm nicht, still schritt sie dahin und ging hinein. Nun wurde der Totengräber böse und sagte:

"Ha, was ist das hier für ein Donnerloch, daß alles vom Hause wegläuft nach der schönen Musik?

Er hatte Lust, auch hineinzugehen, aber da kam sein Gastfreund wieder, und er meinte auch, die Stunde sei wohl herum, die er ihm habe schenken wollen, brachte ihn wieder vor die große Kirchentür und verabschiedete ihn. Der Totengräber ging nach Hause und klopfte an, die Uhr schlug gerade zehn. Da rief drinnen eine fremde Stimme: "Wer ist draußen?

"Frag nicht lange, ich bin's! Wo sind meine Frau und meine Töchter?

"Was für eine Frau? Was für Töchter?"fragte es drinnen.

"Meine, zum Kuckuck! ich bin ja der Totengräber.

"Nein"rief der drinnen, das bin ich — du bist wohl wirr im Schädel? Warte, ich will dir gleich Beine machen!

Den Totengräber wunderte die Geschichte, und er rief:

"Schwerenot, dann behalte mich wenigstens über Nacht, morgen früh wollen wir sehen, wer von uns beiden der rechte Totengräber ist.

Er bat so lange, bis jener ihn einließ, blieb die Nacht über auf einem Stuhl sitzen, und am Morgen fragte er, wie der Priester heiße? Jener nannte den Samen.

"Hin!" sagte der Totengräber. "Den Namen kenne ich nicht, geh doch mit mir zu dem Pastor.

Nun gingen die beiden hin, und der Pastor fragte den alten Totengräber nach seinem Samen und schlug im Kirchenbuche nach. Da stand darin aufgezeichnet der richtige Same und war dazu geschrieben: Deeser Kulengraver is in de Gemeen wegkommen, unn kener het wüst wo he blöven is. Und das war geschrieben worden vor hundert Jahren.

Da fragte ihn der Pastor, ob er nicht das Nachtmahl empfangen wolle, und jener sprach ja. Darauf wurde der Küster geholt, die Kirche aufzuschließen, und der Priester reichte ihm das Abendmahl; das empfing der Alte mik gläubiger Seele, und als er den Wein empfangen hatte, sank er leise in sich zusammen und war tot.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt