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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


asie heilige Genoveva

Zu Pfalzel an der Mosel steht ein getürmtes Haus, das Genovevenhaus geheißen, da lebte ein Pfalzgraf Siegfried, der hatte eine treue und fromme Gemahlin, eines Herzogs Tochter aus Brabant. Aber es geschah, daß Siegfried in das Heilige Land ziehen mußte, ließ daher sein Weib in seiner Pfalz am Moselstrome zurück und übergab sie in die Obhut eines vertrauten Dienstmannes, des Samens Golo.

Golo aber war ein schlimmer Hüter, er entbrannte in Liebe zu der schönen Herrin und begann Ränke zu schmieden, schrieb falsche Briefe, als sei Siegfried mit all den Seinen im Meere ertrunken, und las sie der Pfalzgräfin vor, gestand ihr seine Liebe und wollte sie umarmen, sie wehrte ihn aber mit einem Faustschlag ing Geticht ab. Nun verwandelte sich seine Liebe in bittern Haß; er entzog der Pfalzgräfin alle Bedienung, und als ihre Stunde nahte, wo sie eines Söhnleins entbunden werden sollte, hatte sie niemand zum Beistand als eine alte Waschfrau.

Da kam Botschaft in ihr Haus, daß ihr Herr lebe und heimkehre, des erschrak Golo, der Verräter, bis zum Tode und suchte Kat bei einem alten Hexenweibe. Das riet ihm teuflisch: Golo solle dem Pfalzgrafen einreden, der schöne Sohn Genovevas sei mitnichten der seine, sondern Dracos, des Kochs. Das tat Golo, indem er seinem Herrn entgegenreiste; da ward Siegfried sehr betrübt und wußte nicht, wie er sich des Weibes, das ihn nach des Lügners treulosem Bericht geschändet hatte, abtun solle. Da riet Golo, daß er Genoveva samt ihrem Kinde an ein Wasser führen und sie beide ersäufen wolle, und Siegfried willigte ein.



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Darauf bestellte Golo zwei Knechte, die mußten Genoveva und ihren Sohn hinwegführen und sollten sie umbringen, so oder so. Unterwegs tat den Knechten die schöne Frau und das schöne Kind leid, und sie sprachen untereinander:

"Was kann diese Frau verbrochen haben? Und was hat sie uns getan? Sollte ihr zu sterben bestimmt sein, brauchen wir ihr doch nicht das Leben zu nehmen. Wir wollen dem Hund, der da mit uns läuft, die Zunge ausschneiden und Golo zeigen zum Wahrzeichen, daß wir die Frau getötet, und sie gehen lassen.

So taten die .Knechte und ließen die arme Genoveva mit ihrem Kinde trostlos und weinend und betend in öder Wildnis zurück. Das Kind nannte Genoveva Schmerzenreich, es zählte noch keine dreißig Tage, und der Schmerz vertrocknete alle Milch in seiner Mutter Brust. Da trat aus dem Waldesdickicht eine Hindin, die lagerte sich vor Genoveva hin, und Genoveva legte ihr Söhnlein an die Zitzen des Tieres, sich selbst aber nährte sie mit dein, was der Wald bot, und baute auch für sich und ihren Sohn eine Hütte aus Holzstämmen, Reisig, Dornen und Moos. Darin blieb sie sechs Jahre und drei Monate und sah kein anderes Wesen ala die treue Hindin.

Nun geschah es, daß der Pfalzgraf Siegfried einmal in dieser Gegend des Waldes jagte, und da trieben die Hunde die Hirschkuh auf, die mit ihrer Milch Genoveva und ihren Knaben ernähren half. Jäger und Hunde folgten dem Wild, die Hinde floh zur Hütte Genovevas und kniete zu dem Knaben hin, und Genoveva wehrte mit einem Stock die nachhetzenden Hunde ab. Jetzt kam der Pfalzgraf, mit Staunen sah er das Weib im Walde, fast aller Kleidung entblößt durch die lange Zeit. Der Pfalzgraf meinte, es sei etwa ein verlaufenes heidnisches Weib oder eine Zigeunerin, und rief sie an:

"Bist du eine Christin?

Sie antwortete:

"Ich bin eine Christin — aber gib mir deinen Mantel, daß ich mich bedecke.



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Das tat Siegfried und fragte sie, warum sie keine Kleider habe und so einsam im wilden Walde hause?

"Meine .Kleider sind vor Alter zerschlissen", sagte

"Wie lange wohnst du in diesem Walde? Und wes ist dieser Knabe? Wer ist sein Vater? Und wie heißest du? Auf diese Fragen antwortete Genoveva:

"Sechs Jahre und drei Monate wohne ich einsam in diesem Walde! Der Knabe ist mein Sohn, und seinen Vater kennt Gott so gewiß, als ich ihn kenne. Und Genoveva ist mein Name!"

Bei diesem letzten Wort erschrak der Pfalzgraf, und ein Kämmerling trat zu ihm und sprach:

"Herr, trügt mich nicht die Erinnerung, so ist das wahrhaftig unsere Frau, die schon so lange gestorben sein soll —schaut doch nach dem Muttermal an ihrem Halse.

Und siehe-— sie hatte das Mal. Der Pfalzgraf war abseit getreten und wußte nicht, was er beginnen solle, und sprach:

"Sehet doch, ob sie auch den Trauring noch trägt.

Und sie trug ihn noch. Und es kam über den Pfalzgrafen ein unsäglicher Schmerz und eine tiefe Reue, er eilte zu Genoveva hin und schlang die Arme um sie und küßte sie und herzte den Knaben und rief:

"Ja, das ist mein Weib, das ist mein Sohn!

Genoveva erzählte, wie es ihr ergangen durch Golos Teufelstücke und Verrat, und eben kain er, sich nichts von diesem Ereignisse versehend. Da zürnten ihm die Sannen des Pfalzgrafen und wollten ihn niederstoßen Aber der Pfalzgraf gebot ihnen Einhalt und sagte, daß dieser Verräter des Todes von Ritterhand nicht wert sei. Vier Ochsen, die noch an keinem Pfluge gezogen, wurden genommen, an jeden Fuß und an jede Hand des Missetäters wurden Seile gelegt und an die Ochsen gespannt und diese dann nach vier Seiten getrieben. So ward Golo lebendigen Leibes in vier Teile zerrieben.

Nun wollte Siegfried seine Gemahlin auf sein Schloß führen und aller Ehren teilhaft werden lassen, allein sie sprach:



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Hier dieser Ort hat mich beschirmt und behütet, die wilden Tiere abgewehrt, die Hinde hat mein Kind erhalten, dieser Ort soll meine Stätte bleiben.

Dem willfahrte der Pfalzgraf Siegfried, sandte zu Hildulf, dem Bischof, und ließ durch ihn die Stätte weihen, und ordnete auf Genovevaa Bitten den Bau einer Kirche an. Die Pfalzgräfin wohnte nun unter besserm Dach, allein sie konnte keine künstliche Speise mehr vertragen, sondern nur die gewohnte Waldkost, und lebte nach dem Wiederfinden nur noch wenige Tage. Sie starb froh und selig und ruhte in der neu erbauten Waldkapelle ohnweit Mayen. Es sind allda manche Wunder geschehen, und die Geschichte von der frommen Genoveva ist durch alle Lande gegangen.


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