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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES ELFTEN WACHTHAUPTMANNS

Ich weiß etwas, das noch seltsamer ist, als was wir gehört haben; aber es ist mir nicht selbst begegnet. In früherer Zeit lebte ein alter Wachthauptmann; bei dem kam eines Tags ein Jude vorüber, der in seiner Hand einen Korb trug, und in dem Korb waren fünftausend Dinare. Da sagte jener Hauptmann zu einem seiner Sklaven: ,Bist du imstande, dies Geld aus dem Korbe dieses Juden zu holen?' ,Jawohl', erwiderte der, und es währte nur bis zum nächsten Tage, da trat der Sklave mit dem Korbe zu seinem Herren ein. Nun sagte ich - so erzählte der Hauptmann selbst - zu ihm: ,Geh hin und vergrabe den Korb an derundder Stätte!' Der Sklave führte meinen Befehl aus: dann kehrte er zurück und meldete es mir. Aber kaum hatte er seinen Bericht beendet, da erhob sich ein Höllenlärm: und es kam der Jude, begleitet von einem Manne aus der Umgebung des Königs, und erklärte, daß jenes Gold dem Sultan gehöre und daß er nur uns dafür verantwortlich mache. Wir verlangten drei Tage Frist nach der Sitte; dann sprach ich zu dem,



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der das Geld geholt hatte: ,Geh hin und bringe etwas in das Haus des Juden, das ihn mit sich selber beschäftigt!' Da ging er hin und spielte ihm einen argen Streich: er legte nämlich in einen Korb die Hand einer toten Frau, und diese Hand war mit Henna gefärbt und trug an einem Finger einen goldenen Siegelring. Diesen Korb vergrub er unter einer Platte im Hause des Juden. Darauf begaben wir uns dorthin und suchten überall nach und fanden den Korb; unverzüglich legten wir den Juden in eiserne Fesseln wegen der Ermordung einer Frau. Als unsere Frist von drei Tagen abgelaufen war, kam jener Mann von der Umgebung des Königs und sprach: ,Der Sultan läßt euch sagen: Nagelt den Juden an und bringt das Gold; denn es ist nicht möglich, daß fünftausend Goldstücke verloren gehen sollten!' Da wußten wir, daß die List nicht geglückt war. Ich aber ging aus, und als ich auf der Straße einen Jüngling aus dem Hauran' vorübergehen sah, legte ich sofort Hand an ihn, ließ ihn festnehmen, ausziehen und mit Ruten schlagen. Dann legte ich ihn in eiserne Fesseln und brachte ihn zum Amtshause des Präfekten; dort ließ ich ihn wiederum peitschen und sagte zu den Leuten: ,Dies ist der Dieb, der das Geld gestohlen hat!' Wir versuchten, ihn zum Geständnis zu bringen; aber er gestand nichts. Dann schlugen wir ihn ein drittes und ein viertes Mal, bis wir müde und erschöpft waren und er keine Antwort mehr gab. Als aber das Schlagen und die Folter zu Ende waren, sprach er plötzlich: ,Ich will euch das Geld sofort herbeischaffen.' Wir gingen mit ihm, und er führte uns zu der Stelle, an der mein Sklave das Gold vergraben hatte. Dort grub er nach und holte es heraus, und wir gingen mit ihm zum Hause des Präfekten zurück. Ich war über das Ganze höchlichst erstaunt. Als aber der Präfekt das Geld sah und mit eigenen Augen erl.



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blickte, kam große Freude über ihn, und er gab mir ein Ehrenkleid und sandte das Geld sofort zum Palaste des Sultans. Den Jüngling ließen wir im Kerker liegen. Dann fragte ich meinen Mann, der das Geld entwendet hatte: ,Hat dieser Jüngling dich gesehen, als du das Geld vergrubest?' ,Nein, bei Allah dem Allmächtigen!' antwortete er. Darauf ging ich zu dem gefangenen Jüngling, gab ihm Wein zu trinken, bis er sich erholt hatte, und sprach zu ihm: ,Tu mir kund, wie du das Geld gestohlen hast!' ,Bei Allah,' entgegnete er, ,ich habe das Geld nicht gestohlen, ich habe es auch nie mit Augen gesehen, bis ich es aus der Erde holte!' Als ich dann fragte: ,Wie ist das möglich?' fuhr er fort: ,Wisse, der Grund, weshalb ich in eure Hände fiel, war der Fluch, den meine Mutter gegen mich ausgestoßen hatte. Ich bin nämlich gestern abend schlecht gegen sie gewesen und habe sie geschlagen. Da sprach sie zu mir: ,Bei Allah, mein Sohn, es wird gewißlich geschehen, daß Gott einem Unterdrücker Gewalt über dich gibt.' Und sie ist eine fromme Frau. Ich aber ging sofort hinaus, und da sahet ihr mich auf der Straße; und du tatest an mir, was du getan hast. Als nun die Schläge so lange währten, schwanden mir die Sinne, und ich hörte eine Stimme rufen: ,Hole es!' Da sagte ich euch, was ich gesagt habe; und wir gingen hinaus, während die Stimme mich führte, bis ich zu der Stätte gelangte. So kam, was gekommen ist: ich holte das Geld heraus.' Darob geriet ich in größte Verwunderung; und ich bemühte mich um seine Freilassung und die Heilung seiner Wunden, da ich erkannte, daß er zu den Kindern der Frommen gehörte. So erbat ich denn seine Lösung von den Fesseln und von der Verantwortung.'

Nachdem alle, die zugegen waren, ihre größte Verwunderung ausgesprochen hatten, trat der zwölfte Hauptmann vor und erzählte


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