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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Des Königs Abenteuer

An der St. Georgenkirche zu Mühlhausen erblickt man noch manch altertümliches steinernes Bildwerk, das wird gedeutet auf der Stadt Mühlhausen Ursprung, und sie haben dort darüber eine gar verwunderliche Sage.

Vorzeiten war ein König in Thüringen gesessen, der fuhr einstmals auf die Jagd. Da sprangen seine Windhunde im Dickicht um einen Baumstrunk herum und wollten sich davon nicht wegbringen lassen. Endlich musste einer von des Königs Dienern auf den Baumstrunk klettern, der von oben hinein hohl war, und sehen, was darinnen siecke, dieweil die Rüden also bellten.



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Da fand sich ein kleiner wilder Mann darinnen, den holten sie heraus, und der König freute sich seines Abenteuers, ließ den wilden Mann zu sich in den Wagen sitzen und Jagd Jagd sein. Er nannte seinen ein: gefangenen wilden Mann Noah, tat ihn in ein Gewölbe und wartete und pflegte sein selbst.

Einst aber, da der König hat verreisen müssen, spielte sein Sohn Georg Ball im Schlosse, und der Ball fiel durch ein Loch in das Gewölbe hinab. Da rief der kleine Königssohn hinunter:

"Wilder Mann Noah, gib mir mein Bällchen heraus!

Darauf antwortete der wilde Mann:

"Dein Bällchen kann ich dir nicht herausgeben, denn würfe ich 's hinauf, so würde es so weit fliegen, daß du es nimmer wiederfanden. Gehe aber hin in deines Vaters Gemach, hole den Schlüssel und öffne mir, so will ich es dir herausgeben.

Da holte der Prinz im Gemach seines Vaters den Schlüssel, denn niemand konnte sonst das Gewölbe öffnen. Er öffnete es, und der wilde Mann kam heraus, gab ihm das Bällchen und sprach:

"Du hast mir aus meiner Not geholfen, und wenn du einmal in Not kommst, so komme in den Wald und rufe mich, so will ich dir auch heraushelfen."

Bald darauf kam der König nach Hause, und sein erster Gang war, sein Abenteuer zu besuchen. Aber wie erschrak er, da er das Gewölbe leer fand, und sein Verdacht, den wilden Mann herausgelassen zu haben, fiel sogleich auf seinen Prinzen. Er ließ ihn vor sich rufen und fragte:

"Georg, du hast wohl den Schlüssel genommen, das Gewölbe eröffnet und den wilden Mann Noah herausgelassen?"

Der kleine Prinz gestand offenherzig, daß er solches getan. Da verstieß der König im Zorn seinen Prinzen, denn sein Abenteuer war ihm lieber als alles.

Traurig schied der Prinz aus seines Vaters Hause und irrte als ein armer Knabe umher, bis ihn endlich ein Schäfer zu sich nahm. Dieser Schäfer vermutete bald, daß der Knabe aus keinem geringen Stande sei,



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und behielt ihn bei sich. Er erzog ihn so weit, daß er ihn bei der Herde brauchen konnte.

Da nun der Schäferknecht Georg die Jünglingsjahre erreicht hatte, fügte es sich, daß er bekannt wurde mit einem hübschen Mädchen, das er zu seiner Braut machte.

Damals hauste in der Gegend ein ungeheuerliches Tier, das man den Lindwurm nannte, und diesem Lindwurm mußte alle Jahre ein Mensch geopfert werden. Nach alter Meinung war dies Tier eine Verwünschung. Wenn es sein Opfer nicht auf den Tag empfing, brüllte es gleich einem Donnerwetter, welches dem Lande Verderben drohte. Nun kam wieder die Zeit, daß das Volk zusammengerufen ward und das Los geworfen; wen es traf, mußte das Opfer des Lindwurms werden. Das Los traf gerade die Braut des Schäfers Georg.

Da fiel ihm ein, was ihm der wilde Mann versprochen hatte. Er trat vor und bat um Aufschub der Opferung, er wolle den Lindwurm töten oder sich für seine Braut dem Ungeheuer opfern —lief eilend in den Wald und rief den wilden Mann oah um Hilfe und Beistand an.

Da kam der wilde Mann und gab ihm ein Schimmelpferd und ein Schwert und sagte ihm, er solle ein weißes Gewand anziehen, sich auf das weiße Pferd setzen, das Schwert an dem Kopfe des Pferdes herabführen und gerade auf das Ungeheuer losreiten. Dieses würde begierig seinen Rachen weit aufsperren; dann solle Georg das Schwert dem Tier gerade zum Rachen hineinrennen.

Dieses alles geschah, und so wurde die Braut Georgs wie auch das ganze Land von dem Ungeheuer befreit. Großer Jubel entstand unter dem Volke, und Freude vernahm man überall, so daß Georg zum Ritter geschlagen wurde. Als man nun nach Georgs Herkunft forschte, gestand er, daß er des Königs Prinz sei, und erzählte sein Schicksal. Da wurde ihm gesagt, sein Vater sei gestorben, und er könne sicher nach Hause gehen und das Reich übernehmen. So war aus des Königs Sohn ein Schäferknecht geworden, aus dem Schäferknecht ein Ritter und aus diesem wieder ein König.



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Als nun Georg das Königreich übernommen, reiste er im Lande umher, sein Reich zu besehen und kennenzulernen, auch selbst Abenteuer zu bestehen. Da kain ihm ein Örtchen zu Gesicht, das war eine Ansiedlung um ein Mühlhaus, und das Örtchen hatte noch keine Kirche. Da nun der junge König gern dem lieben Gott seinen Dank abstatten wollte, so erbaute er dieser angesiedelten Gemeinde ein Gotteshaus, das seinen Namen als des Stifters Georg erhielt, und der Baumeister mußte seine ganze Geschichte in Stein bilden. Das ist der Anfang der Stadt Mühlhausen geworden.


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