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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Der Schlossvogt

Auf dem runden Schloßberge über Tilsit, hart am Ufer der Memel, hüteten Hirtenknaben aus dem Kämmereidorfe Alt-Preussen Vieh. Einmal standen sie betrachtend an einer recht in der Mitte des Berges tief in die Erde hinabgebenden Öffnung, erzählten auch einander dies und das, welche Bewandtnis es mit diesem unergründlichen Loche habe. Vor alten Zeiten sei hier oben ein Schloß gestanden voll unermeßlicher Schätze, dessen tiefen Graben und doppelte Wälle man noch erkenne. Dieses Schloß nun sei in einer .Nacht plötzlich versunken, und das Loch sei der big zur Bergeshöhe heraufreichende Schornstein. Bisweilen lasse sich der Schloßvogt sehen, ein altes graues Männchen mit schneeweißen Haaren.



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Da wurden die Hirtenknaben sehr neugierig, wie tief diese Höhle sei und ob sich nichts aus ihr erlangen lasse. Sie schleppten ein Seil herbei und banden den Jüngsten ihrer Schar, sosehr er sich auch sträubte und schrie, daran und ließen ihn hinunter. Das Seil war zweimal so lang wie der Kirchturm in Tilsit und hing immer noch straff, obgleich sie schon längst das Schreien ihres Gefährten nicht mehr hörten. Endlich ward es leicht und krümmte sich, jener hatte also den Grund erreicht. Sie riefen hinunter — alles blieb still; sie warteten lange und bange — endlich zogen sie das Seil herauf — es war leicht und — leer. Voll Angst liefen nun alle vom Berge, und am andern Morgen wagten sie sich nicht wieder zum Schloßberggipfel.

Noch trieben sie unschlüssig auf der Straße, da kam der Knabe, den sie gestern in den Berg hinabgelassen, ihnen munter entgegen. Seine Taschen und seine Mütze waren voll Gold, und er erzählte nun seinen Kameraden, die ihn neugierig umringten, was ihm geschehen war.

"Ich kam" erzählte er, "in eine große Küche, darinnen funkelte es rings von prächtigem Geschirr und Geräte. Und da kam ein altes graues Männchen, das muß wohl der Schloßvogt gewesen sein, das grüsste mich freundlich und sagte: ,Das ist hübsch von dir, daß du mich auch einmal besuchst, sei nur nicht bange.' Er band mich los vom Strick und führte mich durch das Schloß, von einem Zimmer in das andere, da lag alles voll Gold und Schätzen. Hernach wurde ich müde, da führte mich der Schloßvogt zu einem schönen Bette, darin schlief ich prächtig. Heute morgen kam das alte Männlein, als ich gerade ausgeschlafen hatte, an mein Bett, hieß mich aufstehen, füllte mir Mütze, Taschen und Hände voll Gold und sagte: ,Das sollst du vom Schloßvogt verehrt erhalten!' — dann brachte er mich an ein enges Tor, schloß es auf und hieß mich hinausgehen. Wie ich draußen war, war ich im Tale, und wie ich mich umsah, war das Tor mitsamt dem Schloßvogt verschwunden."

Die Hirtenknaben verwunderten sich über diese Erzählung sehr. Sie beneideten ihren Kameraden um sein vieles Geld, dazu sie ihm doch eigentlich wider seinen Willen verholfen, und meinten, einen kürzeren Weg, als



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durch den Schornstein hinab in das Goldschloß und zu Geld zu gelangen, gäbe es auf der Welt nicht. Sie eilten daher auf den Berg, so schnell sie konnten, losten, welcher von ihnen zuerst hinabgelassen werden solle, und den das Los traf, den ließen sie hinunter unter Bedingung der Teilung dessen, was er empfangen würde. Richtig kam das Ende des Seils wieder leer herauf, und am andern Morgen gingen sie erwartungsvoll dein Kameraden entgegen. Aber er kam nicht und soll noch heute wieder-

Seitdem hat es keinen wieder gelüstet, in die Tiefe hinabgelassen zu werden.


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