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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Zum Stehen verwünscht

Zu Freiberg im Meißner Lande wohnte ein Weber des Namens Lorenz Richter, der hatte einen Sohn von vierzehn Jahren, dem die Untugend des Ungehorsams in hohem Grade eigen war. Der Vater mochte dem verstockten Jungen heißen, was er wollte, so tat er's nicht oder tat das Gegenteil und hatte seine Lust daran, stöckisch zu sein und seinen Vater zu ärgern.

Da geschah es eines Tages, daß der Vater dem Knaben, der bei ihm in der Stube war, gebot, eilend etwas zu tun, jener aber blieb ruhig flehen, wo er stand, und fiel ihm gar nicht ein, des Vaters Befehl nachzukommen. Der Vater wiederholte sein Gebot, aber der Junge kat, als höre er es gar



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nicht, er blieb stehen wie ein Stock. Da geriet der Vater vor Zorn außer sich und schrie:

"Ei, so stehe in aller Teufel Namen, du versuchter ungeratener Bube, und daß du nimmermehr dich vom Flecke regen könntest!

Da zuckte ein jäher Schreck durch den Knaben, er ward starr und stand — und stand. Er wollte nun folgen, aber er stand. Der Vater stürzte jetzt auf ihn, ihn von der Stelle wegzureißen oder hinweg zu treten, aber er vermochte es nicht — der Knabe stand, festgebannt und festgezaubert auf die Diele und völlig machtlos. Vergebens suchte man ihn wegzuheben, wegzutragen, seine Füße wurzelten am Boden.

Und so stand er drei Jahre an einer Stelle, nahe dem Ofen und der Tür, hinderlich den Leuten, die aus und ein gingen, an einem Pult, darauf er Haupt und Arme Stützen konnte; so stand und so schlief er, den Eltern zum quälenden Anblick, der Stadt zum Wunder. Die Geistlichen beteten über ihn und für ihn und versuchten endlich ihre Kräfte, ihn aufzuheben und in einen andern Stubenwinkel zu tragen, wo er weniger hinderlich war; dies gelang, aber dann blieb er an jener Stelle stehen. Tief waren der Diele die Spuren seiner Füße eingeprägt. Wollte man an einen andern Ort ihn bringen, da schrie er laut und schmerzvoll auf und gebärdete sich wie rasend. So stand er wie die Büßer Indiens, ein Büßer seines Ungehorsams, hinter einem Vorhang und war voll Traurigkeit, elenden Aussehens, und endlich gab Gott zu, daß er auf ein neben ihm gestelltes Bett sich legen konnte — und das währte wieder nahe an oier Jahre. Und dann ist er in Demut und Ergebung und gläubig eines sanften, natürlichen Todes gestorben.

Die Fußtapfen wurden lange Jahre gezeigt, in der Stube und dann in der Kammer, und wenn die Eltern ihre Kinder vor Ungehorsam warnen wollten, brauchten sie nicht weit zu deuten.


Copyright: arpa, 2015.

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