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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES NEUNTEN WACHTHAUPTMANNS

Ich will euch das Schönste erzählen, was ich bei einem Hochzeitsfeste gehört habe. Da war einmal eine Sängerin, die schön von Angesicht und weithin berühmt war. Und es begab sich eines Tages, daß sie ausging, um sich in einem Garten zu erquicken. Während sie dort saß, stand plötzlich ein Mann vor ihr, dem eine Hand abgeschlagen war, und bat sie um eine Gabe. Er war durch die Tür hereingekommen und berührte sie mit seinem Armstumpfe und sprach: ,Ein Almosen, um Allahs willen!' Doch sie sprach: ,Allah gebe dir!' und scheuchte ihn fort. Viele Tage darauf kam zu ihr ein Bote' und gab ihr den Lohn für einen Abend. Sie nahm eine Dienerin' und eine Begleiterin' mit; und nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatte und zu der Stätte kam, führte der Bote sie durch einen langen Gang, an dessen Ende ein Saal war. Dort traten wir ein — so erzählte die Sängerin selbst -, fanden aber keinen Menschen; dagegen fand ich das Fest vorbereitet mit Kerzen, Zukost und Wein, ferner sah ich in einem anderen Raume die



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Speisen, und in einem dritten die Betten. Nachdem wir uns gesetzt hatten, schaute ich mir den Mann an, der die Tür geöffnet hatte, und siehe, ihm war eine Hand abgeschlagen. Das mißfiel mir sehr an ihm. Nachdem ich eine Weile gesessen hatte, kam ein Mann herein, der die Lampen im Saale füllte und die Kerzen entzündete; auch dem war eine Hand abgehauen. Dann kamen die Gäste herbei, aber kein einziger trat ein, dem nicht eine Hand fehlte; und das Haus füllte sich mit einer solchen Gesellschaft.' Als nun alle Gäste vollzählig beieinander waren, trat der Gastgeber herein, gekleidet in prächtige Gewänder; und man erhob sich vor ihm und ließ ihn an dem Ehrenplatz sitzen. Er hatte aber seine Hände in den Ärmeln, so daß ich nicht erkennen konnte, wie es darum stand. Dann wurde das Essen aufgetragen, und er und alle Gäste aßen; darauf wuschen sie ihre Hände, und der Gastgeber begann verstohlene Blicke auf mich zu werfen. Und nun trank die ganze Gesellschaft, bis alle trunken und ohne Besinnung waren. Da wandte sich der Gastgeber, und das war derselbe Mann, der uns geholt hatte, zu mir und sprach: ,Willst du nicht freundlich sein zu einem Manne, der dich um eine Gabe bittet und zu dem du sprichst: ,Wie häßlich bist du!' Ich schaute ihn an. und siehe da. er war der Verstümmelte, der zu mir in den Lustgarten gekommen war. Darauf erwiderte ich: ,Mein Gebieter, was sagst du da?' Er aber fuhr fort: ,Warte nur, du wirst dich seiner schon entsinnen.' Dabei schüttelte er den Kopf und strich sich den Bart, während ich voll Furcht dasaß. Dann streckte er die Hand aus nach meinem Schleier und nach meinen Stiefeln, nahm sie und legte sie neben sich, und rief: ,Singe, du Verfluchte!' Da sang ich, bis ich müde



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war. Die Gäste aber kümmerten sich nur um sich selbst und berauschten sich; und groß war die Hitze ihrer Trunkenheit. Nun kam der Türhüter an mich heran und flüsterte mir zu: ,Meine Herrin, fürchte dich nicht, aber wenn du gehen willst, so laß es mich wissen.' Ich fragte ihn: ,Willst du meiner spotten?' ,Nein, bei Allah,' erwiderte er, ,ich habe nur Mitleid mit dir. Unser Hauptmann und Meister plant nichts Gutes mit dir, ich glaube gar, er will dich heute nacht umbringen.' Da sagte ich zu dem Türhüter: ,Wenn du etwas Gutes tun willst, so ist jetzt die Zeit dazu.' Doch er antwortete: ,Wenn der Hauptmann aufsteht, um ein Bedürfnis zu verrichten, und zum Aborte geht, so will ich ihm mit dem Lichte vorausgehen und die Haustür offen lassen. Dann geh du, wohin du willst!' Darauf sang ich wieder, und der Hauptmann rief: ,Gut!' Ich sagte zu ihm: ,Bist du aber häßlich!' Da sah er mich an und sprach: ,Bei Allah, du sollst den Duft dieser Welt nicht mehr einatmen!' Doch seine Gefährten riefen: ,Tu es nicht!' und beruhigten ihn, bis er sagte: ,Wenn es denn nicht anders möglich ist, so soll sie ein volles Jahr lang hier bleiben, ohne je hinauszugehen!' Ich sagte darauf: ,Was dir nur immer zu tun beliebt, darein will ich mich fügen. Wenn ich einen Fehler begangen habe, so bist du der Mann, ihn zu verzeihen.' Er schüttelte wiederum den Kopf und trank. Als er aber aufstand, um ein Bedürfnis zu verrichten, während seine Gefährten sich ganz ihrem Treiben hingaben, dem Scherzen, Trinken und Spielen, gab ich meinen Begleiterinnen einen Wink, und wir eilten in die Vorhalle. Wir fanden die Tür offen und liefen hinaus. unverschleiert, ohne zu wissen, wohin wir uns wenden sollten, bis wir weit vom Hause einen Garkoch trafen, der gerade kochte. Zu dem sprach ich: ,Willst du Tote lebendig machen?' ,Kommt herauf!' antwortete er; und wir traten in seinen Laden



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hinauf. Dann sprach er: ,Legt euch nieder!' Und als wir uns niedergelegt hatten, bedeckte er uns mit dem Halfagras, mit dem er unter den Speisen Feuer zu machen pflegte. Kaum aber lagen wir sicher an jener Stätte, da hörten wir schon das Getrappel von Menschen, die nach rechts und links liefen, und wir hörten, wie sie den Koch fragten: ,Ist jemand bei dir vorübergekommen?' ,Bei mir ist kein Mensch vorbeigekommen', gab er zur Antwort. Aber jene Leute liefen noch die ganze Nacht hindurch um den Laden herum, bis es heller Tag ward; dann kehrten sie enttäuscht zurück. Der Koch aber nahm das Halfagras fort und sprach: ,Steht auf; ihr seid dem Tode entronnen!' Wir erhoben uns, doch wir waren unbedeckt, ohne Mantel und ohne Schleier. Da führte uns der Koch in sein Haus. und wir schickten von dort in unser Haus und ließen uns die Mäntel holen. Darauf entsagten wir dem Gesang, indem wir vor Allah dem Erhabenen bereuten; und dies war eine wunderbare Errettung aus der Not.'

Die Anwesenden hatten der Erzählung mit Staunen zugehört. Dann trat der zehnte Hauptmann vor und hub an: ,Mir ist etwas widerfahren, das noch wunderbarer ist als alles, was ihr bisher vernommen habt.' ,Was war das?' fragte el-Malik ez-Zâhir; und er begann


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