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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Das Weidwiesenweiblein

Mag das Weidwiesenweiblein nun ein verwunschenes Fräulein sein, wie einige sagen, oder auch nicht, so viel steht aber baumfest, daß selbiges Weiblein gehörig spukt. An der Wegscheid sitzt es und winselt zum Steinerbarmen, aber die Steine sind dort gar zu groß. Als Baumstamm saust es die steilen Bergwände prasselnd nieder und rollt hinter den Pferden des Reiters her bis nahe an den Kaitl, dann ist 's weg. Auf dem Felsen hört man es herzzerschneidend schreien und wimmern; am schlimmsten hat sich 's im Jahre 1831 aufgeführt, nachdem es auch in den Jahren 1782 und 1783 gar arg gespukt und viel Redens von sich gemacht.

Seine Gestalt war klein, sein Gewand schwarz, in der Hand trug es einen Tiegel und im Tiegel ein brennend Lämpchen. Ein großer Hut barg das spinnewebig runzelvolle Gesicht. Mit dem Lämpchen leuchtete es den Leuten ganz getreulich durch die dunkle Nacht, und kein Wind mochte das verlöschen, bisweilen aber hat es manche auch ganz ungetreulich irregeführt, besonders wenn sie sich im Kaitl recht bezecht hatten.

Im letzterwähnten Jahre machte sich im Spätherbst der Brunnenwärter vom Nesselgraben auf und ging dem Winseln nach, das sich stark hören ließ. Er verstieg sich hoch hinauf bis auf den Grat des Bergstocks,



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da hörte er das Gewinsel wieder tief unter sich, und unter ihm klaffte steilab die schüssige Wand. Als er mit Not wieder heruntergestiegen war, kam ein Bekannter zu ihm, das war der Kreiser von Helmbach, der stieg kecklich und mit Gefahr seines Lebens durch die Schrunden der Stimme nach und fand endlich ein uralt hockeruckerigeg Weiblein, das saß in einer Felsenspalte wie eine Unke und greinte gottserbärmlich. Es gab auf keine Frage eine Antwort, und wie der Bub sich zu ihm bog, krallte es ihm nach dem Gesicht. Der aber, nicht furchtsam und nicht faul, erwischt das Weiblein beim Schlaffittich und zieht es nach sich bis auf die Matte, wo er vorher seine Joppen ausgezogen. Da läßt er's fahren und bückt sich und zieht die Joppe an, und wie er umschaut, ist's Weiblein weg wie weggeblasen. Da kommt ihm aber ein gewaltig's Grauen an, er macht, daß er heimkommt, und wird acht Tage lang krank vor Schrecken.

Nicht lange darauf ist das Weiblein auch auf den Kaitl gekommen, hat Gaben empfangen, aber nie dafür gedankt. Einige sagen, daß das Weidwiesenweiblein mit seinem Lämpchen einem Fuhrmann geleuchtet, dem in finsterer Nacht beim Kalköfen ein Rad zerbrochen; dem sei das Leuchten ein großer Trost gewesen und er habe gesagt, als er das Hilfsrad angelegt:

"Tausend Dank!"

Da hätte das Weiblein voller Freuden gesagt:

"Hab' genug an einem Dank! Jetzt sieht mich niemand mehr!" Darauf sei es hinweggeschwunden und erlöse gewesen.


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