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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Lurlei

Wo das Stromtal des Rheins unterhalb Kaub am engsten sich zusammendrängt, starren hoch und schroff zu beiden Seiten echoreiche Felsenwände von Schiefergestein schwarz und unheimlich empor. Schneller schießt dort die Stromflut, lauter brausen die Wogen, prallen ab am Fels und bilden schäumende Wirbel. Nicht geheuer ist es in dieser Schlucht, über diesen Stromschnellen; die schöne Nixe des Rheins, die gefährliche Lurlei oder Lorelei, ist in den Felsen gebannt, doch erscheint sie oft den Schiffern, strahlt mit goldenem Kamme ihr langes flachsenes Haar und singt dazu ein süß betörendes Lied. Mancher, der davon sich locken ließ, der den Fels erklimmen wollte, fand seinen Tod in den Wellenwirbeln. Rheinab und auf ist keine Sage so in aller Mund als die von der Lurlei, aber sie gleicht dem Echo der Uferfelsen, das sich mannigfach rollend bricht und wiederholt.

Lurlei ist die Khein-undine. Wer sie sieht, wer ihr Lied hört, dem wird das Herz aus dem Busen gezogen, Hoch oben auf ihres Felsens höchster



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Spitze steht sie, im weißen Kleide, mit fliegendem Schleier, mit wehendem Haar, mit winkenden Armen. Keiner aber kommt ihr nahe, wenn auch einer den Felsgipfel erstiege, sie weicht vor ihm — sie Schwebt zurück, sie lockt ihn durch ihre zaubervolle Schönheit bis an des Abgrunds jähen Rand, er sieht nur sie, er glaubt sie vor sich auf festem Boden, schreitet vor und stutzt zerschmetternd in die Tiefe.

Einst schiffte auch der Teufel auf dem Rhein und kam zwischen die Lurleifelsen; der Paß schien ihm zu enge, er wollte ihn weit haben und den gegenüberliegenden Felsenkoloß entweder von der Stelle rücken oder in solche Brocken brechen, daß sie den Strom ganz sperren und unschiffbar machen sollten. Da stemmte er nun seinen Rücken an den Lurleifels und



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hob und schob und rüttelte am Berge gegenüber. Schon begann dieser zu wanken, da sang die Lurlei. Der Teufel hörte den Gesang, und es wurde ihm seltsam zumute. Er hielt inne mit seiner Arbeit und hielt es fast nicht länger aus. Gern hätte er sich selbst die Lurlei zum Liebchen erkoren und geholt, aber er hatte keine Macht über sie, und wurde doch von Liebe so heiß, daß er dampfte. Als der Lurlei Lied schwieg, eilte der Teufel von dannen; er hatte schon gedacht, an dem Fels gebannt bleiben zu müssen.

Aber als er hinweg war, da zeigte sich, o Wunder, seine ganze Gestalt, den Schwanz nicht ausgenommen, in die Felswand schwarz eingebrannt, womit er sein Andenken bei der Lurlei verewigte. Nachher hat der Teufel sehr gehütet, der Sirene des Rheins wieder nahezukommen, und hat gefürchtet, wenn er von ihr abermals gefesselt werde, in seinen Geschäften große Unordnung und Unterbrechung zu erleiden.

Die Lurlei aber singt noch immer in stillen ruhigen Mondnächten, erscheint noch immer auf dem Felsengipfel, harrt immer noch auf Erlösung. Aber die Liebenden, die sich von ihr betören ließen, sind ausgestorben; die heutige Welt hat keine Zeit, ihren Fels zu besteigen oder im Nachen sich in Mondnächten diesem zu nahen. Der Räderumschwung des raschen Dampfschiffes braust ohne Aufenthalt vorüber, und durch sein Rauschen dringt keine Sang- und Sagenstimme mehr.


Copyright: arpa, 2015.

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