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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES DRITTEN WACHTHAUPTMANNS

Höret von mir, was ich erlebt habe; denn das ist noch seltsamer und wunderbarer! Als ich eines Tages mit meinen Freunden zusammen war und wir zu unserer Arbeit gingen, da begegneten uns Frauen, wie Monde anzuschauen; unter ihnen war eine, die war die größte und schönste von allen. Wie ich sie



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anschaute und sie mich sah, blieb sie hinter den anderen zurück und wartete auf mich, bis ich in ihrer Nähe war und sie anredete; dann sprach sie: ,Mein Gebieter - Allah der Erhabene gebe dir Erfolg! —, ich sehe, du lässest deinen Blick auf mir verweilen, und so vermute ich, daß du mich kennst. Wenn dem so ist, so laß mich mehr von dir erfahren!' Darauf sagte ich: ,Bei Allah, ich kenne dich nicht. Aber schon hat Allah der Erhabene die Liebe zu dir in mein Herz gesenkt, und dein holdes Wesen hat mich bezaubert; und diese Augen, die Gott dir gegeben hat, die wie mit Pfeilen schießen, haben mich gefangen genommen.' ,Bei Allah,' erwiderte sie, ,ich fühle das gleiche, was du fühlst, ja, noch mehr, so daß mir ist, als hätte ich dich schon seit meiner Kindheit gekannt.' Ich sagte darauf: ,Der Mann kann nicht alles, was er braucht, auf dem Markte kaufen.' Dann fragte sie: ,Hast du ein Haus?' ,Nein, bei Allah,' antwortete ich, ,noch auch ist diese Stadt mein Wohnort.' Und sie fuhr fort: ,Bei Allah, ich habe auch kein Haus; aber ich werde dich schon richtig führen.' Mit diesen Worten ging sie mir vorauf, und ich folgte ihr, bis sie zu einer Herberge kam. Dort fragte sie die Wirtin: ,Habt ihr ein leeres Zimmer?' ,Jawohl', erwiderte jene; und die Dame sprach zu ihr: ,So gib uns den Schlüssel!' Wir nahmen also den Schlüssel, gingen hinauf, um das Zimmer anzusehen, und traten ein. Dann ging sie wieder zu der Wirtin hinaus und sprach: ,Hier hast du eine kleine Gabe für den Schlüssel; denn das Zimmer gefällt uns. Und hier ist noch ein Dirhem für deine Mühe; geh, hol uns einen Krug Wasser, damit wir uns erfrischen können; wenn dann die Mittagszeit vorbei ist und die Hitze nachläßt, wird der Mann gehen und das Gepäck holen.' Die Wirtin freute sich darüber, und sie brachte uns alsbald eine Matte, zwei Krüge Wassers auf einer Platte, einen Fächer und eine Lederdecke.



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Wir blieben dort, bis es Zeit ward zum Nachmittagsgebet. Da sagte sie: ,Ich muß die religiöse Waschung vornehmen, ehe ich gehe.' Ich erwiderte ihr: ,Nimm Wasser und wasche dich' damit!' Und ich holte etwa zwanzig Dirhems aus meiner Tasche, um sie ihr zugeben. Doch sie rief: ,Das sei ferne!' und holte aus ihrer eigenen Tasche eine Handvoll Silber hervor und sprach: ,Bei Allah, wäre nicht das Schicksal, und hätte Gott nicht die Liebe zu dir in mein Herz gesenkt, so wäre nicht geschehen, was geschehen ist.' Da sagte ich: ,So nimm dies für das, was du schon ausgegeben hast!' Sie entgegnete: ,Lieber Herr, später, wenn wir erst länger zusammen sind, so wirst du sehen, ob eine Frau wie ich auf Geld und Gut sieht oder nicht.' Mit diesen Worten ging sie zum Brunnen und holte einen Krug Wassers; und nachdem sie sich damit gewaschen hatte, kam sie zurück, sprach das Gebet und bat Allah den Erhabenen um Verzeihung für das, was sie getan hatte. Vorher hatte ich sie schon nach ihrem Namen gefragt; und sie hatte gesagt:, Raihâna', und hatte mir ihre Wohnung beschrieben. Und als ich nun sah, daß sie die Waschung vorgenommen hatte, sagte ich mir: ,Diese Frau tut also; soll ich nicht dasselbe tun wie sie?' Darauf sprach ich zu ihr: ,Willst du vielleicht noch einen Krug Wassers für uns verlangen?' Sie ging zur Wirtin und bat sie: ,Schwester, nimm hin und hole uns für diesen halben Dirhem Wasser, auf das wir die Fliesen damit waschen können!' Die Wirtin brachte zwei Krüge Wassers, und ich nahm den einen davon, ging ins Brunnenhaus und wusch mich, nachdem ich ihr meine Kleider gegeben hatte. Als ich mit der Waschung fertig war, rief ich: ,Meine Herrin Raihâna!' Aber niemand antwortete mir. Dann trat ich hinaus; doch ich fand sie nicht. Wohl aber entdeckte ich, daß sie meine Kleider samt allem,



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was an Geld darinnen war, weggenommen hatte; ich hatte nämlich in meinem Zeug vierhundert Dirhems. Auch meinen Turban und mein Tuch hatte sie mitgenommen; und so hatte ich nichts, um meine Blöße zu bedecken. Da litt ich Qualen, die noch schlimmer sind als der Tod; und ich wandte mich nach allen Seiten um, ob ich nicht vielleicht einen Lumpen fände, um meine Blöße zu verhüllen. Eine Weile blieb ich sitzen; dann aber ging ich hin und schlug an die Tür. Und als die Wirtin zu mir heraufkam, sprach ich zu ihr: ,Schwester, was hat Allah mit dieser Frau getan, die noch soeben hier warm' Sie gab mir zur Antwort: ,Die ist in diesem Augenblick heruntergekommen und hat gesagt, sie wolle hingehen, um die Kinder mit dem Zeug zu bekleiden, und sie fügte noch hinzu: ,Ich habe ihn schlafen lassen; wenn er aufwacht, so sag ihm, er solle nicht eher fortgehen, als bis die Sachen zu ihm kämen!' Da sagte ich zu ihr: ,Schwester, das Geheimnis ruht bei dem, der gut und von edlem Blut! Bei Allah, diese Frau ist nicht meine Gattin; ich habe sie in meinem ganzen Leben heute zum ersten Male gesehen!' Und ich erzählte der Wirtin die ganze Geschichte und bat sie, mich zu verhüllen, indem ich sie wissen ließ, daß sogar meine Scham unbedeckt war. Sie aber fing an zu lachen und rief die Frauen der Herberge mit den Worten: ,He, Fâtima! He, Chadîdscha! He, Harîfa! He, Sanîna!' Und alle Frauen und Nachbarinnen, die in der Herberge waren, versammelten sich bei mir und begannen mich zu verspotten und riefen: ,Du Kuppler, was hast du mit Liebesabenteuern zu tutu' Eine von ihnen kam heran, sah mir ins Gesicht und lachte; eine andere rief: ,Bei Allah, du hättest doch wissen können. daß sie log, als sie sagte, daß sie dich liebe und verehre! Was wäre an dir zu lieben?' Und eine dritte sprach: ,Das ist ein alter Kerl ohne Verstand!' So verhöhnten sie mich, während ich



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schweren Kummer litt. Doch eine Frau unter ihnen, die mich sah, hatte Mitleid mit mir, und sic warf mir einen Lappen aus dünnem Stoffe zu, mit dem ich meine Scham bedecken konnte. mehr nicht. Dann wartete ich noch eine Weile; als ich mir aber sagte: ,Gleich werden die Männer dieser Frauen sich bei mir versammeln, und ich gerate in Schimpf und Schande, lief ich eilends aus der Tür der Herberge hinaus. Da drängten sich groß und klein um mich, liefen mir nach und riefen: ,Das ist ein Verrückter, ein Verrückter!' bis ich zu meinem Hause kam und an die Tür pochte. Da kam meine Frau zu mir heraus, und als sie mich in meiner ganzen Länge nackt und barhaupt sah, schrie sie auf und lief wieder hinein und rief: ,Da ist ein Verrückter, ein Satan!' Sobald aber meine Schwieger und meine Frau mich erkannten, freuten sie sich und sprachen: ,Was ist mit dir?' Ich erzählte ihnen, die Räuber hätten mir meine Kleider genommen, mich entblößt und mich beinahe getötet. Wie sie von mir hörten, daß die mich töten wollten, priesen sie Allah den Erhabenen für meine Rettung und beglückwünschten mich. Seht, was war das für eine List, wo ich doch selber Anspruch auf Schlauheit mache!'

Alle, die zugegen waren, dachten mit Staunen über diese Geschichte nach und über das, was die Frauen vollbringen. Dann trat der vierte Hauptmann vor und erzählte


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