Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Das blaue Flämmchen

Einst lebte ein einzelner alter Herr in einem uralten Hause; bei dem blieb selten ein Gesinde lange, und alle die Dienstboten, die er gehabt, erzählten, es sei nicht recht geheuer in dem Hause; man höre Gespenster rumoren,
sehe Flämmchen an dunklen Orten und werde auch auf sonstige Weise von Spukdingern geschrei. Nun geschah es, daß bei diesem Herrn abermals eine neue Magd einzog, die Anna hieß, und nach der ersten Nacht fragte der Herr die Dienerin, wie sie geschlafen habe, denn er besorgte, schon wieder Klage über Geisterspuk im Hause zu vernehmen. Die muntere Dirne antwortete ihm, sie habe ganz gut geschlafen. Eine gleiche Antwort auf die gleiche Frage erfolgte auch am zweiten Morgen. Am dritten Morgen



138 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

verschlief sich die Magd, war dann verlegen und sagte: "Mir war die ganze Nacht, als tanze um mein Bett herum ein bläuliches Lichtlein, und das flüsterte fort und fort: ,Geh, Ann', geh, Ann'!', so daß ich nicht eher einschlafen konnte als gegen Morgen beim ersten Hahnschrei."

Als nun einige Nächte hintereinander diese Beunruhigung fortdauerte, zeigte das Mädchen Neigung, den neu angetretenen Dienst wieder zu verlassen. Das war dem Herrn leid, und er sagte zu der Anna: "Weißt du was, Anna, sprich doch einmal mit dem Herrn Pfarrer darüber, vielleicht kann dieser dir einen guten Rat geben!" —

Der Geistliche sagte nun zur Anna, als diese ihn fragte: Wenn das blaue icht ein Geist ist und dich ruft, so ziehe dich schnell an und folge ihm; sei aber dabei sorglich auf deiner Hut, daß du nichts von ihm annimmst, nichts ergreifst, was er dir bietet, nichts tus, was er dir heißt, und daß er dir stets vorangehe. Tust du genau nach diesem Kate, so kann es dein Glück sein.

Abends war die Dirne kaum im Bett, so tanzte das blaue Flämmchen wieder herum und flüsterte: "Geh, Ann', geh, Ann

"Wenn es denn sein muß" sagte Anna, indem sie aus dem Bett und rasch in die Kleider fuhr,"so gehen wir.

"Geh, Ann'!"flüsterte das Flämmchen. "Geh du voran!"sprach Anna, und da flackerte das Flämmchen vor ihr her, über einen Gang, die Treppe hinunter, bis vor die Kellertür. Dort flüsterte das Flämmchen wieder: Schließ auf, Ann'!" —

"Schließ du auf!" sagte Anna; "ich habe keinen Schlüssel.

Da schien das Flämmchen die Gestalt eines kleinen weißen Weibleins zu gewinnen, das hauchte gegen das Schlüsselloch, und da ging die Kellertür auf. Jetzt schwebte die bläulich schimmernde Gestalt die Kellertreppe hinunter vor Anna her, nach des Kellers hinterher Ecke. Dort lehnte eine Hacke an der Mauer, und das Weibchen, dessen bläulicher Lichtschimmer den Keller leidlich hell machte, deutete auf das Werkzeug und flüsterte: "Hacke hier ein Loch, Ann'!" —"Hacke du ein Loch!" sprach Anna, "ich brauche keins." Da ergriff das Weiblein wirklich die Hacke und arbeitete



139 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

tüchtig darauflos. Nach kurzer Weile kam ein Kesselchen zum Vorschein, darinnen lagen allerhand schöne Sachen, alte Goldmünzen und Schmuck von guten Perlen und Edelsteinen. "Heb, Ann'! Heb heraus, Ann flüsterte der Geist, aber Anna sprach ganz ruhig: "Hebe du heraus, ich könnte mir Schaden tun." Da hob das Weiblein das Kesselchen aus dem Boden und setzte es vor Anna hin, daß es klang und klirrte, das viele Gold und Silber, welches darinnen lag.

"Trag 's h'nauf, Ann', in deine Kammer!"flüsterte das Frauchen; doch Anna sagte: "Trag 's selber h'nauf. Mir 's zu schwer." Da hob das Weib das Kesselchen und flüsterte wieder: "Geh, Arin geh, Ann — und Anna erwiderte: "Geht nicht an! Der Leuchter geht voran!"So ging denn auch das Weiblein wieder aufwärts voran, aber langsam, denn es trug schwer an dem Kesselchen und ächzte und stöhnte alle die Treppen hinauf bis in Annas Bettkammer. Da setzte es das Kesselchen hin, und Anna legte sich wieder in ihr Bett, und um das Bett tanzte wieder das bläuliche Licht. Da schlug Anna ein Kreuz und sprach: "Hast du mir geholfen, so helfe dir Gott in das ewige Himmelreich, Amen!

Da stand noch einmal das weiße Weiblein in klarer Gesait vor Anna, und sein Gesicht leuchtete im Schimmer reinster Freude; dann verschwand es plötzlich. Anna schlief ruhig ein, und ala sie am Morgen erwachte, glaubte sie, es habe ihr das alles nur geträumt. Aber siehe da das Kesselchen war noch vorhanden, und ein ansehnlicher Schatz war ihr beschert. Nie spukte wieder ein Geist im Hause des alten Herrn.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt