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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Schwan, kleb an

Es waren einmal drei Brüder, von denen hieß der älteste Jakob, der zweite Friedrich und der dritte und jüngste Gottfried, Der jüngste mußte sich von seinen Brüdern alle Neckereien gefallen lassen, weil er schwächlich war und sich nicht wehren konnte. Dadurch wurde ihm das Leben sauer gemacht, und er sann Tag und Nacht darauf, wie er sich helfen könnte.

Als er einst im Walde Holz sammeln mußte und bitterlich weinte, trat ein altes Weiblein zu ihm, das fragte ihn um seine Not, und er vertraute ihr all seinen Kummer. "Ei, mein Junge", sagte das Weiblein darauf, ist die Welk nicht groß ': Warum versuchst du nicht anderswo dein Glück?" Das nahm sich Gottfried zu Herzen und verließ eines Morgens frühe das väterliche Haus und machte sich auf den Weg in die weite Welt, sein Glück zu suchen. Aber der Abschied ging ihm doch nahe, und er setzte sich auf einen Hügel nieder, um noch einmal recht das heimatliche Dorf zu betrachten. Siehe, da stand das Weiblein hinter ihm, schlug ihn auf die Schulter und sprach: "Das hast du einmal gut gemacht, mein Junge! Aber was willst du nun anfangen?" Gottfried dachte jetzt erst daran,



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was er beginnen solle. Er hatte geglaubt, das Glück müsse ihm wie eine gebratene Taube in den Mund fliegen. Das Weiblein mochte seine Gedanken erraten, lächelte und sagte: "Ich will dir sagen, was du anfangen sollst. Heute abend, wenn die Sonne untergeht, gehe an den großen Birnbaum, der dort am Kreuzweg steht. Darunter wird ein, Mann liegen und schlafen, an den Baum aber wird ein großer, schöner Schwan angebunden sein; den Mann hütest du dich aufzuwecken, den Schwan aber knüpfst du los und führst ihn mit dir fort. Die Leute werden in seine schönen Federn vernarrt sein, und du magst ihnen erlauben, davon eine herauszurupfen. Wenn aber der Schwan berührt wird, so wird er schreien, und wenn du dann sagst: Schwan, kleb an!, so wird die Hand fest ankleben und nicht wieder loswerden, bis du sie mit diesem Stöcklein antippst, das ich dir hiermit zum Geschenk mache. Wenn du nun so einen weidlichen Zug Menschenvögel gefangen hast, so führe sie nur immer geradeaus. Da wirst du an eine große Stadt kommen, da wohnt eine Königstochter, die noch nie gelacht hat. Bringst du sie zum Lachen, so ist dein Glück gemacht; aber dann vergiß auch mich nicht, mein Junge!

Gottfried gab das Versprechen und war mit Sonnenuntergang richtig an dem bezeichneten Baume. Der Mann lag da und schlief, und ein großer schöner Schwan war mit einem Bande an den Baum gebunden. Gottfried knüpfte den Vogel beherzt los und führte ihn davon, ohne daß der Mann erwachte.

Nun traf es sich, daß Gottfried mit seinem Schwan an einer Baustätte vorüber kam, wo einige Männer mit aufgeftreiften Beinkleidern Lehm kneteten; die bewunderten die schönen Federn des Vogels, und ein vorwitziger Junge, der über und über voll Lehm war, sagte laut: "Ach, wenn ich doch nur eine solche Feder hätte!" Gottfried sprach freundlich: Zieh dir eine aus!"Der Junge griff nach dem Schweife des Vogels, der Schwan schrie; "Schwan, kleb an!" sprach Gottfried, und der Junge konnte nicht wieder loskommen, er mochte anfangen, was er wollte. Die andern lachten, je mehr der Junge schrie, bis vom nahen Bache eine Magd herzugelaufen kam, die mit hochaufgeschürztem Rocke dort gewaschen hatte.



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Die fühlte Mitleid mit dem Jungen und reichte ihm die Hand, um ihn loszumachen. Der Schwan schrie. "Schwan, kleb an!" sprach Gottfried, und die Magd war ebenfalls gefangen. Als Gottfried mit seiner Beute eine Strecke gegangen war, begegnete ihm ein Schornsteinfeger; der lachte über das sonderbare Gespann und fragte die Magd, was sie denn da treibe? "Ach, herzliebster Hans", antwortete die Magd kläglich, "gib mir doch deine Hand und mach mich doch von dem verteufelten Jungen los." — Wenn 'a weiter nichts lachte der Schornsteinfeger und gab der Magd die Hand. Der Vogel schrie. "Schwan, kleb an!" sprach Gottfried, und der schwarze Mensch war ebenfalls behext. Sie kamen nun in ein Dorf, wo eben Kirchweih war; eine Seiltänzergesellschaft gab dort Vorstellungen, und der Bajazzo machte eben seine Narreteidinge. Der riß Mund und Nase auf, als er das seltsame Kleeblatt sah, das an dem Schweife des Schwans festhing. "Bist ein Narr geworden, Schwarzer?" lachte er. "Da ist gar nichts zu lachen!" antwortete der Schornsteinfeger. Das Weibsbild hält mich so sess, daß meine Hand wie angenagelt ist. Mach mich los Bajazzo! Ich tu' dir einmal einen andern Liebesdienst! Der Bajazzo faßte die ausgegorene Hand des Schwarzen. Der Vogel schrie. "Schwan, kleb an!' sprach Gottfried, und der Bajazzo war der vierte im Bunde. Nun Sand in der vordersten Reihe der Zuschauer der stattliche wohlbeleibte Amtmann des Dorfes, der machte ein gar ernsthaftes Gesicht dazu, und er ärgerte sich höchlich über das Blendwerk, das nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Sein Eifer ging so weit, daß er den Bajazzo an der ledigen Hand faßte und ihn losreißen wollte, um ihn dem Büttel zu übergeben; da schrie der Vogel, und "Schwan, kleb an!" sprach Gottfried, und der Amtmann teilte das Schicksal der Vorgänger. Die Frau Amtmännin, eine lange dürre Spindel, entsetzte sich über das Mißgeschick ihres Eheherrn und riß mit Leibeskräften an seinem freien Arm. Der Vogel schrie. "Schwan, kleb an!" sprach Gottfried, und die arme Frau Amtmännin mußte trotz ihres Geschreies folgen. Hinfort hatte niemand mehr Luft, die Gesellschaft zu vergrößern.

Gottfried sah schon die Türme der Hauptstadt vor sich; da kam ihm



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eine wunderschöne Kutsche entgegen, in der eine schöne junge, aber ernste Dame saß. Als die den bunten Zug erblickte, brach sie in lautes Gelächter aus, und ihre Dienerschaft lachte mit. "Die Königstochter hat gelacht! rief alles vor Freuden. Sie stieg aus betrachtete sich die Sache noch genauer und lachte immer mehr bei den Kapriolen der Festgebannten. Der Wagen mußte umwenden und fuhr langsam neben Gottfried zur Stadt zurück. Als der König die Kunde vernahm, daß
seine Tochter gelacht habe, war er voll Entzücken und nahm selbst Gottfried, seinen Schwan und dessen wunderliches Gefolge in Augenschein, wobei er selbst lachen mußte, daß ihm die Tränen in den Augen standen.

"Du närrischer Gesell", sprach er zu Gottfried,



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weißt du, was ich dem versprochen habe, der meine Tochter zum Lachen bringt?"

"Nein" sagte Gottfried.

"So will ich dir's sagen", antwortete der König. "Tausend Goldgulden oder ein schönes Gut. Wähle dir zwischen den beiden.

Gottfried entschied sich für das Gut. Sann berührte er den Buben, die Magd, den Schornsteinfeger, den Bajazzo, den Amtmann und die Amtmännin mit seinem Stäbchen, und alle fühlten sich frei und liefen davon, als brenne die Hölle hinter ihnen, was neues, unauslöschliches Gelächter verursachte.

Da wurde die Königstochter bewegt, den schönen Schwan zu streicheln und sein Gefieder zu bewundern. Der Vogel schrie. "Schwan, kleb an! sprach Gottfried, und so gewann er die Königstochter. Er machte sie wieder los, der Schwan aber erhob sich jetzt in die Lüfte und verschwand am blauen Horizont. Gottfried erhielt nun ein Herzogtum zum Geschenk; er erinnerte sich aber auch des alten Weibleins, dem er sein Glück verdankte, und berief es als seine und seiner auserwählten Braut Haushofmeisterin in sein stattliches Residenzschloß.


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