Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Hirsedieb

In einer Stadt wohnte ein sehr reicher Kaufmann, der hatte am Haus einen großen und prächtigen Garten, in dem auch ein Stück Land mit Hirse besät war. Da nun dieser Kaufmann einmal in seinem Garten herumspazierte — es war zur Frühjahrazeit, und die Hirse stand frisch und kräftig —, sah er zu seinem größten Ärger und Verdruß, daß verwichene Nacht von frecher Diebeshand ein Teil abgegrast worden war; und gerade dieses Gartenäckerlein war ihm ganz besonders lieb. Er beschloß, den Dieb zu fangen und dem Gerichte zu übergeben. Daher er seine drei Söhne Michel, Georg und Johannes zu sich rief und sprach: "Heute nacht war ein Dieb in unserm Garten und hat mir einen Teil Hirse abgegrast, was mich höchlich ärgert. Der Frevler muß gefangen werden und soll mir büßen! Ihr, meine Söhne, mögt nun wachen die Nächte hindurch, einer um den andern und wer den Dieb fängt, soll von mir eine stattliche Belohnung bekommen.

Der älteste, Michel, wachte die erste Nacht; er nahm sich etliche geladene Pistolen und einen scharfen Säbel, auch zu essen und zu trinken mit, hüllte sich in einen warmen Mantel und setzte sich hinter einen blühenden Holunderbusch, hinter dem er bald fest einschlief. Wie er am hellen Morgen erwachte, war ein noch größeres Stück abgegrast



008 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

als in voriger Nacht. Und als nun der Kaufmann in den Garten kam und das sah und merkte, ward er noch ärgerlicher und schalt und höhnte ihn als einen braven Wächter, der ihm samt seinen Pistolen und Säbel selbst gestohlen werden könne!

Die andere Nacht wachte Georg; der nahm sich nebst den Waffen auch noch einen Knittel und starke Stricke mit. Aber der gute Wächter Georg schlief ebenfalls ein und fand am Morgen, daß der Hirsedieb wieder tüchtig gegraset hatte. Der Vater ward ganz wild und sagte: "Wenn der dritte Wächter ausgeschlafen hat, wird die Hirsesaat vollends zum Kuckuck sein und dann keines Wächters mehr bedürfen!

Die dritte Nacht kam nun an Johannes die Reihe. Er nahm trotz alles Zuredens keine Waffen mit; doch hatte er sich im geheimen mit recht bewährten Waffen gegen den Schlaf versehen: er hatte sich Disteln und Dornen gesucht und die an seinem Wächterplatz vor sich aufgebaut. Wenn er nun einnicken wollte, stieß er allemal mit der Nase an die Stacheln und wurde gleich wieder munter. Als die Mitternacht herbeikam, hörte er ein Getrappel; es kam näher und näher, machte sich in die Hirse, und da hörte Johannes ein recht fleißiges Abraufen. Halt, dachte er, da hab' ich dich! und er zog einen Strick ans der Tasche, schob leise die Dornen zurück und schlich dem Dieb vorsichtig näher, Ala er hinzukam — wer hätte das vermutet? — war der Dieb — ein allerliebstes kleines Pferdchen. Johannes war innerlich erfreut, hatte auch mit dem Einfangen gar keine Mühe; das Tierchen folgte ihm willig zum Stall, den Johannes fest verschloß. Und nun konnte er noch ganz gemach in seinem Bette ausschlafen.

Früh, als seine Brüder aufstiegen und in den Garten gehen wollten, sahen sie mit Staunen, daß Johannes in seinem Bette lag und schlief. Da weckten sie ihn und höhnten ihn mit allerlei Neckreden, daß er der beste Wächter sei, da er sogar nicht einmal die Nacht ausgehalten habe auf seiner Wache. Aber Johannes sagte: "Seid ihr nur ganz stille, ich will euch den Hirsedieb schon zeigen." Und sein Vater und seine Brüder mußten ihm zum Stalle folgen, wo das wunderseltsame Pferdlein stand, von dem niemand zu sagen wußte, woher es gekommen und wem es zugehörte.



009 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

Es war von zartem und schlankem Bau und ganz silberweiß. Da hatte der Kaufmann eine große Freude und schenkte seinem wackern Johannes das Pferdchen als Belohnung; der nahm es freudig an und nannte es Hirsedieb.

Bald vernahmen die Brüder, daß eine schöne Prinzessin verzaubert wäre im Schloß, das auf dem gläsernen Berge stehe, zu dem niemand wegen der großen Glätte emporklimmen könne. Wer aber glücklich hinauf und dreimal um das Schloß herum reite, der erlöse die schöne Prinzessin und bekomme sie zur Gemahlin. Unendlich viele hätten schon den Bergring probiert, wären aber alle wieder herabgestürzt und lägen tot umher.

Diese Wundermär erscholl durchs ganze Land, und auch die drei Brüder bekamen Lust, ihr Glück zu versuchen, nach dem gläsernen Berg zureiten und — die schöne Prinzessin zu gewinnen. Michel und Georg kauften sich junge, starke Pferde, deren Hufeisen sie tüchtig schärfen ließen, und Johannes sattelte seinen kleinen Hirsedieb, und so ging es fort zum Glücksritt. Bald erreichten sie den gläsernen Berg, der älteste ritt zuerst, aber ach — sein Roß glitt aus stürzte mit ihm nieder, und beide, Roß und Mann, vergaßen das Wiederaufgehen. Der zweite ritt, aber auch sein Roß glitt ab, stürzte mit ihm nieder, und beide, Mann und Roß, vergaßen auch das Aufstehen. Nun ritt Johannes, und es ging trapp trapp trapp trapp — droben waren sie, und wieder trapp trapp trapp trapp — und sie waren dreimal ums Schloß herum, als wenn Hirsedieb schon hundertmal diesen gefährlichen Weg gelaufen wäre. Nun ging die Schloßrür auf, und es trat die schöne Prinzessin heraus; sie war ganz in Seide und Gold gekleidet und breitete freudig die Arme gegen Johannes aus. Und er stieg schnell vom Pferdlein und eilte, die holde Prinzessin zu umfangen.

Und die Prinzessin wandte sich zum Pferdlein, liebkosete es und sprach: "Ei, du kleiner Schelm, warum warst du mir denn entlaufen, daß ich nicht mehr die einzige Nachstunde, die mir vergönnet war, unten auf der grünen Erde zu weilen, genießen konnte? Nun darfst du uns nimmermehr verlassen." — Und da ward Johannes gewahr, daß sein Hirsediebchen das Zauberpferdlein seiner himmelschönen Prinzessin war. Seine Brüder



010 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

kamen wieder auf von ihrem Fall, Johannes aber sahen sie nicht wieder, denn der lebte glücklich mit seinem Engel im Zauberschloß auf dem gläsernen Berge. Zu diesem Berge fand kein Menschenkind mehr den Weg, weil der Zauber gelöst und die Prinzessin von ihrem Bann befreit worden war, durch ihr kluges Rößlein, das den rechten Befreier und Gemahl ihr zugetragen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt