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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Nachwort

Hans Christian Andersen, der Dichter unserer Märchen, wurde im Jahre 1805 zu Odense auf der dänischen Insel Fünen geboren. Sein Vater war ein armer Flickschuster und seine Mutter eine noch ärmere Wäscherin, die zu den Leuten ing Hans waschen ging. Da war es denn für den kleinen Hano Christian nichts mit einer "sonnigen Kindheit", und als gar der Vater, der als Soldat weggewesen und krank wiedergekommen war, starb, da war die Not groß. Als der Knabe vierzehn Jahre alt war, faßte er darum den Entschluss, auf gut Glück nach Kopenhagen zu reisen. Er versuchte dort mit vielem, aber auch jetzt wollte ihm nichts recht gelingen, bis ihn endlich gute Menschen, die erkannt hatten, daß in dem Knaben große Anlagen steckten, auf die Lateinschule und später auf die Universität schickten. Aber einen festen Beruf hat er sich auch dort nicht erarbeitet. Schon früh wurde er Sichter, er schrieb Romane; Gedichte und Dramen in reicher Fülle; und mit dem Gelde, das er mit ihnen verdiente, konnte er recht gut auskommen, ja sogar zahlreiche Reisen unternehmen, die ihn bis nach Afrika und Kleinasien führten — das war damals schon etwas! Nachdem er so lange Jahre fast immer unterwegs gewesen war, bekam er aber doch Lust, sich in einem Zuhause auszuruhen — und wenn's auch nur ein Junggesellenzuhause war —, und das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte er dauernd in seinem lieben Kopenhagen, wo er 1875 im August starb.

Von seinen Werken ist heute das meiste wieder vergessen. Was aber ewig jung und schön bleiben wird, das sind seine Märchen. Die ersten vier "Eventyr, fortalte for Barn" erschienen 1835, und von da an schenkte Hans Christian Andersen fast jedes Jahr seinen Landsleuten und der ganzen Welt eine Sammlung, denn sie wurden in viele Sprachen übersetzt, und vor allem in Deutschland gibt es wohl kein Haus — die abgerechnet, wo das ganze Jahr kein Sonnenstrahl hineinfällt —, in dem man nicht die Märchen Andersens wenigstens dem Namen nach kennt.

Mit diesen Märchen hat nun eine eigene Bewandtnis. Sie sind nicht wie die Grimms und Bechsteins Bearbeitungen alter volkseigener Stoffe, sondern eben richtige neue Dichtungen, wenngleich auch viele dänische und überhaupt germanische Volksvorstellungen aus längstvergangenen Zeiten mit in sie aufgenommen



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worden sind. Die meisten spielen auch nicht in einer raum- und zeitlosen Märchenwelt, wo es nur ein "Vor vielen Jahren war einmal" und ein "Weit, weit von hier" gibt, sondern sie sind mit den wirklichen Verhältnissen aufs engste verbunden; der eine von den Hunden in der Geschichte vom Feuerzeug hat ein paar Augen so groß wie der astronomische Turm in Kopenhagen, der Schreiber kommt als Vogel verwandelt zu der vornehmen Familie in der Gothersstraße, und die Geschichte vom Fliedermütterchen spielt in Nyboder, einer Vorstadt .Kopenhagens: überall ist Gegenwart und örtliche Bestimmtheit. Und das ist gerade das Schöne an diesen Märchen; gerade dadurch bekommen sie so etwas Heimeliges; es ist so, als wenn man den Märchenerzähler vor seinen Zuhörern sitzen sähe, der ihnen alles recht klar und deutlich machen will. Erdnähe und Märchenferne: die Vereinigung dieser beiden ist das große Wunderbare, das sich in diesen Erzählungen offenbart, und der seltsame Reiz, der uns immer wieder zu ihnen hinzieht: derselbe seltsame Reiz, den eine Kopenhagener Julinacht auf den Fremden ausübt, die mit ihrem Blau und ihren vielen Sternen zugleich so unwirklich himmlisch und so gegenständlich wie auf Kopenhagener Porzellan gemalt erscheint.

Es ist ein weites Reich, das sich in Andersens Märchen auftun Blumen, Tiere und Menschen reden miteinander, lieben miteinander, leiden miteinander. Immer wieder staunt man über den herrlichen Erfindungsgeist des Dichters, der Brücken von einem Ende der Welt zum andern schlägt. Aber ebenso prächtig wie das Erfinden großer Zusammenhänge gelingt ihm das Ausmalen des Kleinen, und etwa die Stelle am Anfange des Märchens von den Nachbarfamilien, die schildert, wie der Ententeich in Bewegung gerät, ist ganz herrlich und beinahe ein Seitenstück zu dem Schönsten der Art, der Schilderung des einsetzenden Regenz in "Mogens", einer Novelle von einem anderen dänischen Dichter, Jens Peter Jacobsen. Andersen besaß eben den Sinn eines echten Dichters, eine Seele voll Poesie und vor allem ein Herz volk Liebe.

Mannigfach sind die Märchen ihrer Art nach; da gibt es welche, das sind feine, hauchzarte Gebilde, so schön wie der Schleier einer Elfe, auf den der Mondschein fällt, andere dagegen sind derb, kräftig, schwankartig, wie die vom Feuerzeug und vom großen und kleinen Klaus — aber immer ist der Dichter mit seinem Herzen dabei. Daß er sich jedoch nicht ino Sentimentale verliere, dazu hat ihm die Natur ein anderes geschenkt: seinen Humor. Mit fröhlicher Überlegenheit trägt der Dichter seine Märchen vor, man sieht ihn richtig verschmitzt dabei lächeln, und manchmal gibt er sogar recht deutlich zu verstehen, daß es in Wirklichkeit doch etwas anders ist, als er erzählt: dann wird sein liebenswürdiger Humor zuweilen sogar zu der leisen, ein wenig traurigen Ironie eines Mannes, der die Welt kennt und nun dasitzt und Märchen erzählt —, Märchen vom Glück und von der Liebe.

Darum sind Andersens Märchen ja auch gar nicht bloß Kindergeschichten, sondern noch viel mehr und viel Tieferes können sie den Erwachsenen geben. Oft



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tut sich hinter ihnen das ganze Menschenleben auf, der Sinn oder der Unsinn des Daseins wird plötzlich im Hintergrunde der Geschichte sichtbar, und die einfache kleine Handlung erhebt sich zum Symbol alles Irdischen: und so gibt es wohl wenige Bücher, die so wie dieses allen, Großen wie Kleinen, das gibt, was sie gern haben, und was ihnen not tut.

Alles das, was die Eigenart dieser Märchen ausmacht, muß sich nun auch in ihrer Übersetzung vorfinden. Am besten hat den Ton der ursprünglichen Geschichten die alte Übersetzung Neuzchers getroffen. Sie ist mehrfach überarbeitet worden, aber dabei il fast durchweg das Beste verloren gegangen. Der Herausgeber hat nun die alte Übersetzung Julius Neuschers wieder hergestellt und nur dort, wo wirkliche Fehler vorlagen, geändert. Vor allem wurden alle Ortshinweise wieder aufgenommen, um dem vorhin bezeichneten Charakter der Märchen genugzutun, ebenso auch die dänischen Namen wieder benutzt, da die deutschen, die manche Herausgeber eingesetzt haben, einen ganz fremden mang hineinbringen. Ebenso hat der Herausgeber die Fremdwörter da stehen lassen, wo sie um der Situation willen notwendig sind.

Wie der Herausgeber den Ton der Märchen auf die schöne alte Original ausgabe zurückgestimmt hat, so sind auch die Bilder aus ihr übernommen worden. Sie übertreffen allesamt die neuerer Ausgaben an märchenhafter Einfalt und köstlicher Feinheit der Ausführung bei gleichwohl großzügiger Auffassung ihres Stoffes. Die Künstler, die sie geschaffen haben, gehörten aber auch zu den besten Illustratoren ihrer Zeit. Obenan steht Ludwig Richter, der eine ganze Anzahl von Bildern zu diesem Buche beigesteuert hat, die sich alle durch ihre familienhaftgemütliche Art auszeichnen. Etwas herber stellen sich die Bilder Theodor Hosemanns dar, des berühmten Berliner Malers und Zeichners, der noch viele andere Kinderbücher illustriert hat. In liebevoller Versenkung und zugleich mit feiner Überlegenheit hat er seine Zeichnungen ausgeführt, die neben denen Richters leicht zu erkennen sind. Ein anderer Teil der Bilder stammt von dem Münchener Grafen Pocci, der auch als Dichter und Komponist bekannt ist und sich besonders in seinen Dichtungen immer wieder als der Kinderfreund gezeigt hat, als der er auch aus den einfachen, naiven, ganz und gar kindlichen Bildern entgegentritt. Raymond de Baux' Vignetten endlich zeichnen sich durch eine merkwürdige Ornamentik aus, die das Bild eigenartig beleben, freilich mehr von außen als von innen her, wie es bei denen Hosemanns der Fall

Diese Bilder machen die alte Ausgabe zu einer kleinen Kostbarkeit, so daß diese heute mit mehreren hundert Mark bezahlt wird. Der F. W. Hendel Verlag hat bei dieser neuen Ausgabe versucht, sie so treu wiederzugeben, als es möglich ist. Darüber hinaus aber hat er die Ausgabe mit elf in anderen Andersenausgaben erschienenen wertvollen Ganzbildern von Otto Speckter und einem in einer englischen Ausgabe aufgefundenen von Franz Pocci (Der Mann mit dem Schatten)



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ausgestattet, die die innige und zugleich humorvolle Art der Andersenschen Märchen aufs allerreizendste wiedergeben. Für ihre Aufnahme besonders, dann aber die würdig: Ausstattung der Ausgabe überhaupt kann der Herausgeber seinen Dank zum Ausdruck zu bringen nicht unterlassen.

Möge diese neue alte Ausgabe der Märchen Andersens in Herz und Haus die besinnliche Freude bringen, die zu allem Guten nötig ist!

Leipzig, im November 1927.

Dr. Karl Martin Schiller.


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