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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Die roten Schuhe

Da war ein kleines Mädchen, so fein und so niedlich, aber im Sommer mußte sie immer mit bloßen Füßen gehen, denn sie war arm, und im Winter mit großen Holzschuhen, so daß der kleine Spann ganz rot wurde, und das sah so schrecklich aus. Mitten im Dorfe wohnte die alte Mutter Schuhmacher; sie saß und nähte, so gut sie konnte, von alten roten Tuchstrifen ein Paar Seine Schuhe. Sie aren ganz plump, aber es war so gut gemeint; die sollte das kleine Mädchen haben Das kleine Mädchen hieß Karen.

Gerade an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde, erhielt sie die roten Schuhe und hatte sie zum ersten Male an. Freilich war es nichts, um damit zu trauern, aber sie hatte nun keine anderen, und da ging sie mit bloßen Füßen darin hinter dem ärmlichen Strohsarge her.

Da kam auf einmal ein großer alter Wagen, und darin saß eine große alte Dame. Sie betrachtete das kleine Mädchen und fühlte Mitleid mit ihr, und dann sagte sie zum Prediger: "Hört, gebt mir das kleine Mädchen, dann werde ich mich ihrer annehmen!"

Karen glaubte, das geschähe alles nur der roten Schuhe halber; aber die alte Dame meinte, die seien greulich, und sie wurden verbrannt, aber Karen selbst wurde rein und nett angezogen; sie mußte lesen und nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei niedlich, aber der Spiegel sagte: "Du bist weit mehr als niedlich, du bist schön!"

Da reiste die Königin einst durch das Land und hatte ihre kleine Tochter bei sich, das war eine Prinzessin, und die Leute strömten nach dem Schlosse hin, und da war Karen denn auch, und die kle'ne Prinzessin stand in feinen weißen Kleidern auf einem Balkon und ließ sich anstaunen; sie hatte weder Schleppe



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noch Goldkrone, aber herrliche rote Saffianschuhe an; die waren freilich weit schöner alg die, welche die Mutter Schuhmacher der kleinen Karen genäht hatte. nichts in der Welt kann doch mit roten Schuhen verglichen werden!

Nun war Karen so alt, daß sie eingesegnet werden sollte. Sie bekam neue Kleider, und neue Schuhe sollte sie auch haben. Der reiche Schuhmann in der Stadt nahm Maß zu ihrem kleinen Fuße, das geschah zu Hause in seinem eigenen Zimmer, und da standen große Glasschränke mit niedlichen Schuhen und blanken Stiefeln. Das sah allerliebst aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen, und da hatte sie kein Vergnügen daran. Mitten unter den Schuhen stand ein Paar rote, ganz wie die, welche die Prinzessin getragen hatte. Wie schön waren die! Der Schuhmacher sagte auch, daß sie für ein Grafenkind gemacht wären, sie hätten aber nicht gepaßt.

"Das ist wohl Glanzleder?" fragte die alte Dame. "Sie glänzen so!"

"Ja, sie glänzen!" sagte Karen, und sie paßten und wurden gekauft, aber die alte Dame wußte nichts davon, daß sie rot waren, denn sie hätte Karen nie erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das tat sie nun.

Alle Menschen betrachteten ihre Füße, und als sie zur Chortüre über die Kirchendiele hinschritt, kam es ihr vor, alg wenn selbst die alten Bilder auf den Begräbnissen, die Prediger und Predigerfrauen mit steifen Kragen und langen schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schule hefteten, und nur an diese dachte sie, als der Prediger seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe, vom Bunde mit Gott, und daß sie nun eine erwachsene Christin sein solle, sprach. Die Orgel spielte so feierlich, die hübschen Kinderstimmen sangen, und der alte Kantor sang, aber Karen dachte nur an die roten Schuhe.

Am Nachmittage erfuhr die alte Dame von allen Menschen, daß die Schuhe rot gewesen waren, und sie sagte, daß es häßlich sei, daß es sich nicht schicke, und daß Karen später, wenn sie zur Kirche ginge, immer mit schwarzen Schuhen gehen solle, selbst wenn sie alt seien.

Am nächsten Sonntag war Abendmahl, und Karen betrachtete die schwarzen Schuhe, sie besah die roten — und besah sie wieder und zog die roten an. war ein herrlicher Sonnenschein Karen und die alte Dame gingen den Fußsteig durch das Korn entlang, da stäubte es ein wenig.

An der Kirchentür stand ein alter Invalide mit einem Krückstocke und mit einem wunderbar langen Bart, der war mehr rot als weiß, und er neigte sich bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre Schuhe abwischen dürfe. Karen streckte auch ihren kleinen Fuß aus. "Sieh, was für schöne Tanzschuhe! sagte der Soldat, "sitzt fest wenn ihr tanzt!" und dann schlug er mit der Hand gegen die Sohlen.

Die alte Dame gab dem Soldaten ein Almosen, und dann ging sie mit Karen indie Kirche.



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Alle Menschen drinnen sahen nach Karens roten Schuhen, und alle Bilder sahen danach, und als Karen vor dem Altare kniete und den goldenen Kelch an ihren Mund setzte, dachte sie nur an die roten Schuhe, und es war ihr, als ob sie im Kelche herumschwömmen; und sie vergaß ihren Psalm zu singen, sie vergaß ihr Vaterunser zu beten.

Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren Wagen. Karen erhob den Fuß, um nachzusingen, da sagte der alte Soldat: "Sieh, was für schöne Tanzschuhe!" und Karen konnte nicht umhin, sie mußte einige Tanztritte machen, und als sie anfing, fuhren die Beine fort zu tanzen, es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie erhalten. Sie tanzte um die Kirchenecke, sie konnte nicht lassen, der Kutscher mußte hinterher laufen und sie greifen, und er hob sie in den Wagen, aber die Füße fuhren fort zu tanzen, so daß sie die gute alte Dame gewaltig trat. Endlich bekamen sie die Schuhe ab, und die Beine erhielten Ruhe.

Daheim wurden die Schuhe in einen Schrank gestellt; aber Raren konnte nicht unterlassen, sie zu betrachten.

Nun lag die Dame krank darnieder, es hieß, sie würde es nicht überleben. Gepflegt und gewartet mußte sie werden, und keiner war mehr dazu verpflichtet als Karen. Aber in der Stadt war ein großer Ball. Karen eingeladen — sie betrachtete die alte Dame, die doch nicht genesen konnte, sie besah die roten Schuhe, und sie meinte, es sei keine Sünde dabei! Sie zog die roten Schuhe an, das konnte sie ja auch wohl; aber dann ging sie zum Ball und fing an zu tanzen.

Als sie aber zur Rechten wollte, tanzten die Schuhe zur Linken, und als sie die Diele hinauf wollte, tanzten die Schuhe dieselbe hinunter, die Treppe hinab, durch die Straße aus dem Stadttore hinaus. Sie tanzte und mußte tanzen, gerade hinaus in den finstern Wald.

Da leuchtete es zwischen den Bäumen, und sie glaubte, es sei der Mond, denn es war ein Gesicht, aber es war der alte Soldat mit dem roten Bart, er saß und nickte und sagte: "Sieh, was für schöne Tanzschuhe!"

Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe abwerfen, aber die hingen fest; und sie schleuderte ihre Strümpfe ab, aber die Schuhe waren an den Füßen festgewachsen, und sie tanzte und mußte über Feld und Wiese, im Regen und Sonnenschein, bei Nacht und bei Tage tanzen, aber nachts war es am greulichsten.

Sie tanzte auf den offenen Kirchhof hinauf aber die Toten dort tanzten nicht, die hatten etwas viel Besseres zu tun, als zu tanzen. Sie wollte sich auf des Armen Grab setzen, wo das bittere Farnkraut wächst, aber für sie war weder Ruhe noch Rast, und als sie gegen die offene Kirchentür hintanzte; sah sie dort einen Engel in weißen Kleidern, mit Schwingen, die ihm von den Schultern bis zur Erde reichten, sein Antlitz war streng und ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und glänzend.



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"Tanzen sollst du!" sagte er, "tanzen auf deinen roten Schuhen, bis du bleich und kalt wirst, bis deine Haut zu einem Gerippe zusammengeschrumpft ist! Tanzen sollst du von Tür zu Tür, und wo stolze, hochmütige Kinder wohnen, sollst du anklopfen, so daß sie dich hören und fürchten! Tanzen sollst du, tanzen — —!"

"Gnade!" rief Karen. Aber sie hörte nicht, was der Engel erwiderte, denn die Schuhe trugen sie durch die Tür auf das Feld, über Weg und Steg, und immer mußte sie tanzen.

Eines Morgens tanzte sie an einer Tür vorbei, die sie gut kannte. Drinnen tönte Psalmengesang, ein Sarg wurde herausgetragen, der mit Blumen geschmückt war. Da wußte sie, daß die alte Dame gestorben war, und nun fühlte sie; daß sie von allen verlassen und von Gottes Engel verdammt sei.

Sie tanzte, und sie mußte tanzen, tanzen in der finsteren Nacht. Die Schuhe trugen sie über Dom und Stumpf davon, sie riß sich blutig, sie tanzte über die Heide dahin nach einem Keinen einsamen Hause. Hier, wußte sie, wohnte der Scharfrichter, und sie klopfte mit den Fingern an die Scheiben und sagte: "Komm heraus! — komm heraus! — Ich kann nicht hineinkommen, denn ich muß tanzen!"

Und der Scharfrichter sagte: "Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich schlage den bösen Menschen die Köpfe ab, und ich merke, daß meine Axt klingt!"

"Schlage mir nicht den Kopf ab," sagte Karen, "denn dann kann ich meine Sünde nicht hernien! Aber schlage meine Füße mit den roten Schuhen abl"

Und dann bekannte sie ihre ganze Sünde, und der Scharfrichter hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab, aber die Schuhe tanzten mit den kleinen Füßen über das Feld dahin in den tiefen Wald hinein.

Und er schnitzte ihr Holzfüße und Krücken, lehrte sie einen Psalm, den die Sünder immer singen, und sie küßte die Hand, die das Beil geführt batte, und ging über die Heide fort.

"Nun habe ich genug für die roten Schulg gelitten!" sagte sie, "nun will ich in die Kirche gehen, damit sie mich sehen können!" Und sie ging rasch gegen die Kirchentür; als sie aber dahin kam, tanzten die roten Schuhe vor ihr her, und sie erschrak und wendete um.

Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und weinte viele bittere Tränen, aber als es Sonntag wurde, sagte sie: "Sieh so! Nun habe ich genug gelitten und gestritten! Ich glaube wohl, daß ich ebenso gut bin als manche von denen, die da in der Kirche sitzen und sich brüsten!" Und dann ging sie mutig hin; aber sie kam nicht weiter als bis zur Kirchhofstür, da sah sie die roten Schuhe vor sich hertanzen, und sie erschrak und wendete um und bereute recht von Herzen ihre Sünde.

Und sie ging zur Pfarrwohnung und bat, daß man sie dort in Dienst nehmen



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möge, fleißig wollte sie sein und alles tun, was sie könnte, auf den Lohn sähe sie nicht, nur daß sie unter Dach käme und bei guten Menschen wäre. Die Predigerfrau hatte Mitleid mit ihr und nahm sie in ihren Dienst. Karen war fleißig und nachdenkend. Stille saß sie und horchte auf, wenn der Prediger des Abends aus der Bibel laut vorlas. Alle die Kleinen hielten viel von ihr, wenn sie aber von Putz und Staat und von Schönheit sprachen, dann schüttelte sie mit dem Kopfe.

Am nächsten Sonntage gingen alle zur Kirche, und sie fragten sie, ob sie mit wolle, aber sie blickte betrübt, mit Tränen in den Augen, auf ihre Krücken, und dann gingen die anderen hin, Gottes Wort zu hören, sie aber ging allein in ihre kleine Kammer. Die war nicht größer, als daß das Bett und ein Stuhl darin stehen konnten, und hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuche hin; und als sie mit frommem Sinn darin lao, trug der Wind die Orgeltöne von der Kirche zu ihr herüber, und sie erhob ihr Antlitz mit Tränen und sagte: "O Von, hilf mir!"

Da schien die Sonne so klar, und gerade vor ihr stand Gottes Engel in den weißen Kleidern, derselbe, den sie in jener Nacht in der Kirchentür erblickt hatte, aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen saß, und er berührte damit die Decke, und die erhob sich so hoch, und wo er sie berührt hatte, glänzte ein goldener Stern, und er berührte



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die Wände, und die erweiterten sich, und sie erblickte die Orgel, welche spielte, sie sah die alten Bilder mit Predigern und Predigerfrauen, die Gemeinde saß in den geputzten Stühlen und sang aus ihren Gesangbüchern. — Denn die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in der engen Stube hingekommen, oder auch war sie dahingekommen. Sie saß im Stuhle bei den übrigen Leuten des Predigers, und als sie den Psalm geendet hatten und aufblickten, nickten sie und sagten: "Das war recht, daß du kamst, Karen!"

"Das war Gnade!" sagte sic.

Und die Orgel Klang, und die Kinderstimmen im Chor tönten so sanft und lieblich! Der nare Sonnensein strömte so warm durch das Fenster in den Krchensthl, wo Karen saß, hinein; ihr Herz wurde so voller Sonnenschein, Frieden und Freude, daß es brach; ihre Seele flog auf Sonnenschein zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.


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