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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Der Tannenbaum

Draußen im Walde stand so ein niedlicher kleiner Tannenbaum; er hatte einen guten Platz, Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsumher wuchsen viele größere Kameraden, sowohl msn wie Fichten. Aber dem kleinen Tannenbaum schien nichts so wichtig als das Wachsen; er dachte nicht an die warme Sonne und die frische Luft; er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die da gingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einer ganzen Kruke voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen zogen, dann setzten sie sich neben den kleinen Tannenbaum und sagten: "Nein! wie niedlich Kein ist der!" Das mochte der Baum gar nicht hören.

Im folgenden Jahre war er ein langes Glied größer, und das Jahr darauf war er um noch eines länger, denn anden Tannenbäumen kann man immer nach den vielen Gliedern, die sie haben, sehen, wie viele Jahre sie gewachsen sind.

"Oh, wäre ich doch so ein großer Baum wie die anderen!" seufzte das kleine Bäumchen, "dann könnte ich meine Zweige so weit umher ausbreiten und mit der Krone in die weite Welt hinausblicken! Die Vögel würden dann Nester zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn der Wind wehte, könnte ich so vornehm nicken, gerade wie die anderm dort!"

Er hatte gar keine Freude am Sonnenschein, an den Vögeln und den roten Wolken, die morgens und abends über ihn hinsegelten.

War es nun Winter und der Schnee lag ringsumher funkelnd weiß, so kam häufig ein Hase angesprungen und setzte gerade über den kleinen Baum weg. Oh, das war so ärgerlich! Aber zwei Winter vergingen; und im dritten war das Bäumchen so groß, daß der Hase darum herumlaufen mußte. "Oh, wachsen;



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wachsen, groß und alt werden das ist doch das einzig Schöne in dieser Welt", dachte der Baum.

Im Herbst kamen immer Holzhauer und fällten einige der größten Bäume; das geschah jedes Jahr, und dem jungen Tannenbaum, der nun ganz gut gewachsen war, schauderte dabei; denn die großen prächtigen Bäume fielen mit Knacken und Krachen zur Erde, die Zweige wurden abgehauen, die Bäume sahen ganz nackt, lang und schmal aus; sie waren fast nicht zu erkennen. Aber dann wurden sie auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie davon, aus dem Walde hinaus.

Wo sollten sie hin? Was stand ihnen bevor?

Im Frühjahr, als die Schwalben und Störche kamen, fragte der Baum sie: "Wißt ihr nicht, wo sie hingeführt wurden? Seid ihr ihnen begegnete"

Die Schwalben wußten nichts, aber der Storch sah nachdenklich aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: "Ja, ich glaube wohl; mir begegneten viele neue Schiffe, als ich aus Ägypten flog; auf den Schiffen waren prächtige Mastbäume; ich darf annehmen, daß sie es waren, sie hatten Tannengeruch; ich kann vielmals grüßen, sie prangen, sie prangen!"

"Oh, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfahren zu können! Was ist das eigentlich, dieses Meer, und wie sieht es aus?"

"Ja, das ist so weitläufig zu erklären!" sagte der Storch, und dann ging er.

"Freue dich deiner Jugend!" sagten die Sonnenstrahlen; "freue dich deines frischen Wachstums, des jungen Lebens, das in dir ist!"

Und der Wind küßte den Baum, und der Tau weinte Tränen über denselben, aber das verstand der Tannenbaum nicht.

Wenn es gegen die Weihnachtszeit war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die oft nicht einmal so groß oder gleichen Alters mit diesem Tannenbaume waren, der weder Rast noch Ruhe hatte, sondern immer davon wollte; diese jungen Bäume, und waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige; sie wurden auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie von dannen zum Walde hinaus.

"Wohin sollen die?" fragte der Tannenbaum. "Sie sind nicht größer als ich, vielmehr war da einer, der war viel Keiner. Weshalb behalten sie alle ihre Zweiges Wo fahren sie hin?"

"Das wissen wirt Das wissen wir!" zwitscherten die Sperlinge. "Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen! Wir wissen, wohin sie fahren! Oh, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die man sich denken kann! Wir haben in die Fenster gesehen und erblickt, daß sie mitten in der warmen Stube aufgepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und vielen Hunderten von Lichtern, geschmückt werden."



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"Und dann?" fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. "Und dann? Was geschieht daas"

"Ja, mehr haben wir nicht gesehen! Das war unvergleichlich schön."

"Ob ich wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu betreten?" jubelte der Tannenbaum. "Das ist noch besser, als über das Meer zu ziehen! Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten! Nun bin ich hoch und entfaltet wie die anderen, die im vorigen Jahre davongeführt wurdent Oh, wäre ich erst auf dem Wagen! Wäre ich doch inder warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! und dann, ja dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöners, weshalb würden sie mich sonst so schmückens Es muß noch etwas Größeres, noch Herrlicheres kommen! Aber was? Oh, ich leide; ich sehne mich, ich weiß selbst nicht, wie es mir ist!"

"Freue dich unsert" sagten die Lust und das Sonnenlicht; "freue dich deiner frischen Jugend im Freien!"

Aber erfreute sich durchaus nicht; er wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand er grün; dunkelgrün stand er da, die Leute, die ihn sahen, sagten: "Das ist ein schöner Baum!" und zur Weihnachtszeit wurde er von allen zuerst gefällt! Die Axt hieb tief durch das Mark, der Baum fiel mit einem Seufzer zu Boden, er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er konnte gar nicht an irgendein Glück denken, er war betrübt, von der Heimat scheiden zu müssen, von dem Flecke; auf dem er emporgeschossen war; er wußte ja, daß er die lieben alten Kameraden, die kleinen Büsche und Blumen ringsumher nie mehr sehen würde, ja vielleicht nicht einmal die Vögel. Die Abreise war durchaus nichts Behagliches.

Der Baum kam erst wieder zu sich selbst, als er im Hofe, mit anderen Bäumen abgepackt, einen Mann sagen hörte: "Dieser hier ist prächtig! Wir brauchen nur diesen!"

Nun kamen zwei Diener im vollen Staat und trugen den Tannenbaum in einen großen schönen Saal. Ringsherum an den Wänden hingen Bilder, und bei dem großen Kachelofen standen große chinesische Vasen mit Löwen auf den Deckeln da waren Wiegestühle, seidene Sofas, große Tische voll von Bilderbüchern und Spielzeug für hundertmal hundert Reichstaler — wenigstens sagten das die Kinder. Und der Tannenbaum wurde in ein großes mit Sand gefülltes Faß gestellt, aber niemand konnte sehen, daß es ein Faß war, denn es wurde rundherum mit grünem Zeug behängt stand auf einem großen bunten Teppich. Oh, wie der Baum bebte! Was wird da doch vorgehen? Sowohl die Diener als die Fräuleins schmückten ihn. Auf einen Zweig hängten sie Keine Netze, aus farbigem Papier ausgeschnitten; jedes Netz war mit Zuckerwerk gefüllt; vergoldete Apfel und Walnüsse hingen herab, als wären sie festgewachsen, und über hundert rote, blaue und weiße Keine Lichter wurden in den Zweigen festgesteckt. Puppen, die leibhaftig wie die Menschen aussahen — der Baum



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hatte früher nie solche gesehen — schwebten im Grünen, und hoch oben in der Spitze wurde ein Stern von Flittergold befestigt. Das war prächtig, ganz außerordentlich prächtig.

"Heut abend", sagten alle, "heut abend wird er strahlen!"

"Oh!" dachte der Baum, "wäre es doch Abend! Würden nur die Lichter bald angezündet! Und was dann wohl geschieht? Ob da wohl Bäume aus dem Walde kommen, mich zu sehen? Ob die Sperlinge gegen die Fensterscheibe fliegen? Ob ich hier festwachse und Winter und Sommer geschmückt stehen werde?"

Ja, er wußte gut Bescheid; aber er hatte ordentlich Borkenschmerzen vor lauter Sehnsucht, und Borkenschmerzen sind für einen Baum ebenso schlimm, wie Kopfschmerzen für uns andere.

Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz, welche Pracht! Der Baum bebte in allen Zweigen dabei, so daß eins der Lichter das Grüne brannte; es sengte ordentlich.

"Gott bewahre uns!" schrieen die Fräuleins und löschten es hastig aus.

Nun durfte der Baum nicht einmal beben. Oh, das war ein Grauen! Ihm war so bange, etwas von seinem Staate zu verlieren; er war ganz betäubt von all dem Glanze. Und nun gingen beide Flügeltüren auf, und eine Menge Kinder stürzten herein, als wollten sie den ganzen Baum umwerfen; die älteren Leute kamen bedächtig nach; die Kleinen standen ganz stumm, aber nur einen Augenblick dann jubelten sie wieder, daß es nur so schallte, sie tanzten um den Baum herum, und ein Geschenk nach dem andern wurde abgepflückt.

"Was machen sie?" dachte der Baum. "Was soll geschehen?" Die Lichter brannten gerade bis auf die Zweige herunter, und je nachdem sie niederbrannten; wurden sie ausgelöscht, und dann erhielten die Kinder die Erlaubnis, den Baum zu plündern. Oh, sie stürzten auf ihn ein so daß es in allen Zweigen knackte; wäre er nicht mit der Spitze und mit dem Goldsterne an die Decke festgebunden gewesen, so wäre er umgestürzt.

Die Kinder tanzten mit ihrem prächtigen Spielzeug herum, niemand sah nach dem Baume, ausgenommen das alte Kindermädchen, welches kam und zwischen die Zweige blickte, aber es geschah nur, um zu sehen ob nicht noch eine Feige oder ein Apfel vergessen wäre.

"Eine Geschichtet eine Geschichte!" riefen die Kinder und zogen einen Keinen dicken Mann gegen den Baum hin, und ersetzte sich gerade unter denselben, "denn so sind wir im Grünen," sagte er, "und der Baum kann besonders Nutzen davon haben, zuzuhören! Aber erzähle nur eine Geschichte. Wollt ihr die von Jvede-Avede oder die von Klumpe-Dumpe hören, der die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt?"

"Jvede-Avede!" schrieen einige, "Kumpe-Dumpe!" schrieen andere. Das



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war ein Rufen und Schreien! Nur der Tannenbaum schwieg ganz stille und dachte: "Komme ich gar nicht mit, werde ich nichts dabei zu tun haben?" Er war ja mitgewesen, hatte ja geleistet, was er sollte.

Und der Mann erzählte von Klumpe-Dumpe, welcher die Treppen hinunterfiel und doch erhöht wurde und die Prinzessin erhielt. Und die Kinder klatschten in die Hände und riefen: "Erzähle! Erzähle!" Sie wollten auch die Geschichte von Jvede-Avede hören, aber sie bekamen nur die von Klumpe-Dumpe. Der Tannenbaum stand ganz stumm und gedankenvoll, nie hatten die Vögel im Walde dergleichen erzählt. "Klumpe-Dumpe fiel die Treppen hinunter und bekam doch die Prinzessin! Ja, ja, so geht in der Welt zu!" dachte der Tannenbaum und glaubte, daß es wahr sei, weil es ein so netter Mann war, der es erzählte. "Ja, ja, wer kann es wissen! Vielleicht falle ich auch die Treppe hinunter und bekomme eine Prinzessin!" Und er freute sich, den nächsten Tag wieder mit Lichtem und Spielzeug, Gold und Früchten aufgeputzt zu werden.

"Morgen werde ich nicht zittern!" dachte er; "Ich will mich recht aller meiner Herrlichkeit freuen. Morgen werde ich wieder die Geschichte von Klumpe-



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Dumpe und vielleicht auch die von Jvede-Avede hörern" Und der Baum stand die ganze Nacht still und gedankenvoll.

Am Morgen kamen der Diener und das Mädchen herein.

"Nun beginnt der Staat aufs neue!" dachte der Baum; aber sie schleppten ihn zum Zimmer hinaus, die Treppe hinauf, auf den Boden, und hier stellten sie ihn in einen dunklen Winkel hin, in den kein Tageslicht schien. "Was soll das bedeuten?" dachte der Baum "Was soll ich hier wohl machen? Was mag ich hier wohl hören sollen?" Er lehnte sich gegen die Mauer und dachte und dachte. und er hatte gute Zeit dazu, denn es vergingen Tage und Nächte; niemand kam herauf, und als endlich jemand kam, so geschah es, um einige große Kasten in den Winkel zu stellen; der Baum stand ganz versteckt, man mußte glauben, daß er ganz vergessen war.

"Nun ist es Winter draußen!" dachte der Baum. "Die Erde ist hart und mit Schnee bedeckt, die Menschen können mich nicht pflanzen; deshalb soll ich wohl bis zum Frühjahr hier im Schutz stehen! Wie wohl bedacht das ist! Wie die Menschen doch gut sind! Wäre es hier nur nicht so dunkel und so schrei lich einsam! Nicht einmal ein Keiner Hasel Das war doch so niedlich da draußen im Walde, wenn der Schnee lag, und der Hase sprang vorbei, ja, selbst als er über mich hinwegsprang, aber damals mochte ich es nicht leiden. Hier oben ist es doch erschrecklich einsam!"

"Piep, piep!" sagte da eine kleine Maus und huschte hervor; und dann kam noch eine Keine. Sie beschnüffelten den Tannenbaum, und dann schlüpften sie zwischen dessen Zweige.

"ES ist eine greuliche Kälte!" sagten die kleinen Mäuse. "Sonst ist es hier gut sein! Nicht wahr, du alter Tannenbaum?"

"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Tannenbaum; "es gibt viele, die weit älter sind als ich!"

"Wo kommst du her", fragten die Mäuse, "und was weißt du?" Sie waren so gewaltig neugierig. "Erzähle uns doch von den schönsten Orten auf Erdem Bist du dort gewesen? Bist du in der Speisekammer gewesen, wo Käse auf den Brettern liegen und Schinken unter der Decke hängen, wo man auf Talglicht tanzt; mager hineingeht und fett herauskommt?"

"Das kenne ich nicht," sagte der Baum, "aber den Wald kenne ich, wo die Sonne scheint, und wo die Vögel singen!" Und dann erzählte er alles aus seiner Jugend, und die kleinen Mäuse hatten früher nie dergleichen gehört, und sie horchten auf und sagten: "Nein, wie viel du gesehen bast! Wie glücklich du gewesen bist"

"Ich?" sagte der Tannenbaum und dachte über das, was er selbst erzählte, nach. "Ja; es waren im Grunde ganz fröhliche Zeiten!" Aber dann erzählte er vom Weihnachtsabend, wo er mit Kuchen und Lichtern geschmückt



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"Oh," sagten die kleinen Mäuse "wie glücklich du gewesen bist, du alter Tannenbaum!"

"Ich bin gar nicht alt!" sagte der Baum, "erst in diesem Winter bin ich vom Walde gekommen! Ich bin in meinem allerbesten Alter, ich bin nur so aufgeschossen."

"Wie schön du erzählst!" sagten die kleinen Mäuse, und in der nächsten Nacht kamen sie mit vier anderen kleinen Mäusen, die den Baum erzählen hören sollten, und je mehr er erzählte, desto deutlicher erinnerte er sich selbst an alles und dachte: "Es waren doch ganz fröhliche Zeiten! Aber sie können wiederkommen können wiederkommen! Klumpe-Dumpe siel die Treppe hinunter und erhielt doch die Prinzessin, vielleicht kann ich auch eine Prinzessin bekommen" Und dann dachte der Tannenbaum an eine kleine niedliche Birke, die draußen im Walde wuchs, das war für den Tannenbaum eine wirkliche schöne Prinzessin.

"Wer ist Klumpe-Dumpe?" fragten die kleinen Mäuse. Und dann erzählte der Tannenbaum das ganze Märchen, er konnte sich jedes einzelnen Wortes entsinnen; und die kleinen Mäuse waren aus reiner Freude bereit, bis in die Spitze des Baumes zu springen. In der folgenden Nacht kamen weit mehr Mäuse und am Sonntage sogar zwei Ratten, aber die meinten, die Geschichte sei nicht hübsch, und das betrübte die kleinen Mäuse; denn nun hielten sie auch weniger davon.

"Wissen Sie nur die eine Geschichte?" fragten die Ratten.

"Nur die emmel" antwortete der Baum; "die hörte ich an meinem glücklichsten Abend, aber damals dachte ich nicht daran, wie glücklich ich war."

"Das ist eine höchst jämmerliche Geschichtet Können Sie keine von Speck und Talglicht? Keine Speisekammergeschichte?"

"Nein!" sagte der Baum.

"Ja, dann danken wir dafür!" erwiderten die Ratten und gingen zu den Ihrigen zurück.

Die kleinen Mäuse blieben zuletzt auch fort, und da seufzte der Baum: "Es war doch ganz hübsch, als sie um mich herumsaßen, die beweglichen kleinen Mäuse, und zuhörten, wie ich erzählte! Nun ist auch das vorbei! Aber ich werde daran denken, mich zu freuen, wenn ich wieder hervorgenommen werde"

Aber wann geschah dag? Ja, o war eines Morgens, da kamen Leute und wirtschafteten auf dem Boden; die Kasten wurden fortgesetzt der Baum wurde hervorgezogen; sie warfen ihn freilich ziemlich hart gegen den Fußboden, aber ein Diener schleppte ihn gleich nach der Treppe hin, wo der Tag leuchtete.

"Nun beginnt das Leben wieder!" dachte der Baum; er fühlte die frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen, und nun war er draußen im Hofe. Alles ging so geschwind, der Baum vergaß völlig, sich selbst zu betrachten, da war so vieles ringsumher zu sehen. Der Hof stieß an einen Garten, und alles blühte darinnen;



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die Rosen hingen so frisch und duftend über das kleine Gitter hinaus, die Lindenbäume blühten, und die Schwalben flogen umher und sagten: "Quirrevirrevit, mein Mann ist kommen!" Aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meintet

"Nun werde ich Leben!" jubelte dieser und breitete seine Zweige weit aus; aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb, und er lag da im Winkel zwischen Unkraut und Nesseln. Der Stern von Goldpapier saß noch oben in der Spitze und glänzte im hellen Sonnenschein.

Im Hofe selbst spielten ein paar der munteren Kinder, die zur Weihnachtszeit den Baum umtanzt hatten und so froh über ihn gewesen waren. Eines der kleinsten lief hin und riß den Goldstern ab.

"Sieh, was da noch an dem häßlichen alten Tannenbaum sitzt!" sagte und trat auf die Zweige, so daß sie unter seinen Stiefeln knackten.

Und der Baum sah auf all die Blumenpracht und Frische im Garten, er betrachtete sich selbst und wünschte, daß er in seinem dunklen Winkel auf dem Boden geblieben wäre; er gedachte seiner frischen Jugend im Walde, des lustigen Weihnachtsabends und der kleinen Mäuse, die so munter die Geschichte von Klumpe-Dumpe angehört hatten.

"Vorbei, vorbei!" sagte der arme Baum. "Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei, vorbei!"

Und der Diener kam und hieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzes Bund lag da. Hell flackerte es auf unter dem großen Braukessel. Der Baum seufzte so tief, und jeder Seufzer war einem kleinen Schusse gleich; deshalb liefen die Kinder, die da spielten, herbei und setzten sich vor das Feuer blickte in dasselbe hinein und riefen: "Piff, paff!" Aber bei jedem Knalle, der ein tiefer Seufzer war, dachte der Baum an einen Sommertag im Walde oder an eine Winternacht dadraußen, wenn die Sterne funkelten; erdachte an den Weihnachtsabend und an Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, welches er gehört hatte und zu erzählen wußte — und dann war der Baum verbrannt.

Die Knaben spielten im Garten, und der kleinste hatte den Goldstern auf der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen hatte; nun war der vorbei, und mit dem Baum war es auch vorbei, und mit der Geschichte ist es auch vorbei; vorbei, vorbei, und so geht mit allen Geschichten.


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