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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Der fliegende Koffer

Es war einmal ein Kaufmann, der war so reich, daß er die ganze Straße und fast noch eine kleine Gasse mit Silbergeld pflastern konnte; aber das tat er nicht, er wußte sein Geld anders anzuwenden, und gab er einen Schilling aus, so bekam er einen Taler wieder, ein so kluger Kaufmann war er — bis er starb.

Der Sohn bekam nun all dies Geld, und er lebte lustig, ging jede Nacht zur Maskerade, machte Papierdrachen von Talerscheinen und warf Fitschen über das Wasser mit Goldstücken, anstatt mit einem Steine. So konnte das Geld schon alle werden, und das wurde es; zuletzt besaß er nicht mehr als vier Schillinge und hatte keine anderen Kleider als ein Paar Pantoffeln und einen alten Schlafrock. Nun kümmerten sich seine Freunde nicht mehr um ihn, da sie ja nicht zusammen auf die Straße gehen konnten; aber einer von ihnen, der gutmütig war, sandte ihm einen alten Koffer mit der Bemerkung: "Packe ein!" Ja, das war nun recht schön, aber er hatte nichts einzupacken, darum setzte er sich selbst in den Koffer.

Das war ein merkwürdiger Koffer. Sobald man an das Schloß drückte, konnte der Koffer fliegen. Das tat nun der Mann. Wips! flog er mit ihm durch den Schornstein hoch über die Wolken hinauf; weiter und weiter fort; sooft aber der Boden ein wenig knackte, war er gar sehr in Angst, daß der Koffer in Stücke gehen möchte, denn alsdann hätte er einen ganz tüchtigen Luftsprung gemacht, Gott bewahre uns! So kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde unter verdorrten Blättern und ging dann in die Stadt hinein; das konnte er auch ganz gut, denn bei den Türken gingen alle so wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kinde.



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"Höre du, Türkenamme!" fragte er, "was ist das ein großes Schloß hier dicht bei der Stadt, wo die Fenster so hoch sitzen?"

"Da wohnt die Tochter des Königs!" erwiderte sie. "Es ist prophezeit, daß sie über einen Geliebten sehr unglücklich werden würde, und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin mit dabei sind!"

"Ich danke!" sagte der Kaufmannssohn, und so ging er hinaus in den Wald, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach und kroch durch das Fenster zur Prinzessin hinein.

Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so schön, daß der Kaufmannssohn sie küssen mußte; sie erwachte und erschrak gewaltig, aber er sagte, er sei ein Türkengott, der durch die Luft zu ihr heruntergekommen wäre, und das gefiel ihr.

So saßen sie beieinander, und er erzählte ihr Geschichten von ihren Augen; das waren die herrlichsten dunklen Seen, und da schwammen die Gedanken gleich Meerweibern; und er erzählte von ihrer Stirn; die war ein Schneeberg mit den prächtigsten Sälen und Bildern; und er erzählte vom Storch, der die lieblichen kleinen Kinder bringt.

Ja, das waren schöne Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin, und sie sagte sogleich ja!

"Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen," sagte sie, "da sind der König und die Königin bei mir zum Tee! Sie werden sehr stolz darauf sein, daß ich den Türkengott bekomme, aber sehen Sie zu, daß Sie ein recht hübsches Märchen wissen, denn das lieben meine Eltern ganz außerordentlich; meine Mutter will es erbaulich und vornehm und mein Vater belustigend haben, so daß man lachen kann!"

"Ja, ich bringe keine andere Brautgabe als ein Märchen!" sagte er, und so schieden sie, aber die Prinzessin gab ihm einen Säbel, der war mit Goldstücken besetzt, und die konnte er gerade gebrauchen.

Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und saß dann draußen im Walde und dichtete ein Märchen, das sollte bis zum Sonnabend fertig sein, und das ist doch nicht so leicht.

Er wurde fertig, und da war es Sonnabend.

Der König, die Königin und der ganze Hof warteten mit dem Tee bei der Prinzessin. Er wurde freundlich empfangen.

"Wollen Sie uns ein Märchen erzählen," sagte die Königin, "eins, das tiefsinnig und belehrend ist?"

"Aber worüber man doch lachen kann!" sagte der König.

"Jawohl!" erwiderte er und erzählte; da muß man nun gut aufpassen.

"Es war einmal ein Bund Schwefelhölzer, die waren so außerordentlich stolz auf ihre Herkunft; ihr Stammbaum, das heißt die große Fichte, wovon sie jedes eni kleines Hölzchen waren, war ein großer alter Baum im Walde gewesen. Die



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Schwefelhölzer lagen nun in der Mitte zwischen einem Feuerzeuge und einem alten eisernen Topfe, und diesem erzählten sie von ihrer Jugend. ,Ja, als wir auf dem grünen Zweige waren!' sagten sie, ,da waren wir wirklich auf einem grünen Zweig! Jeden Morgen und Abend gab es Diamanttee, das war der Tau, den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn die Sonne schien, und alle die kleinen Vögel mußten uns Geschichten erzählen. Wir konnten wohl merken, daß wir auch reich waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie hatte Mittel zu grünen Keidern sowohl im Sommer als im Winter. Doch da kam der Holzhauer, das war die große Revolution, und unsere Familie wurde zersplittert; der Stammherr erhielt Platz als Hauptmast auf einem prächtigen Schiffe, welches die Welt umsegeln konnte, wenn es wollte, die anderen Zweige kamen nach anderen Orten, und wir haben nun das Amt, der niedrigen Menge das Licht anzuzünden; deshalb sind wir vornehmen Leute hier in die Küche gekommen.

Mein Schicksal gestaltete sich auf eine andere Weise!' sagte der Eisentopf an dessen Seite die Schwefelhölzer lagen. ,Von Anfang an, seit ich in die Welt kam, bin ich vielemal gescheuert und gekocht worden! Ich sorge für das Dauerhafte und bin der Erste hier im Hause. Meine einzige Freude ist, so nach Tisch rein und nett an meinem Platze zu liegen und ein vernünftiges Gespräch mit den Kameraden zu führen; doch wenn ich den Wassereimer ausnehme, der hin und wieder einmal nach dem Hof hinunter kommt, so leben wir immer innerhalb der Türen. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der spricht zu unruhig über die Regierung und das Volk; ja, neulich war da ein alter Topf, der vor Schreck darüber niederfiel und sich in Stücke schlug; der ist liberal, sage ich euch!' — ,Nun sprichst du zu viel! fiel das Feuerzeug ein, und der Stahl schlug gegen den Feuerstein, daß er sprühte. ,Wollen wir uns nicht einmal einen lustigen Abend machen?

Ja, laßt uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!' sagten die Schwefelhölzer.

Nein, ich liebe es nicht, von mir selbst zu reden', wenden der Tontopf ein. Laßt uns eine Abendunterhaltung veranstalten! Ich werde anfangen, ich werde etwas erzählen, was ein jeder erlebt hat; da kann man sich so leicht dareinfinden, und es ist so erfeulich. An der Ostsee de; den dänischen Buchen —'

Das ist ein hübscher Anfang!' sagten die Teller. ,Das wird sicher eine Geschichte die uns gefällt!

Ja, da verlebte ich meine Jugend bei einer stillen Familie; die Möbel wurden gebohnert der Fußboden gescheuert, und alle vierzehn Tage wurden reine Gardinen aufgehängt!

Wie Sie doch so interessant erzählen! sagte der Haarbesen. ,Man kann gleich hören, daß ein Frauenzimmer erzählt; geht so etwas Reines dahindurch!"



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Ja, das fühlt man!' sagte der Wassereimer und machte vor Freude einen kleinen Sprung, so daß es auf den Fußboden klatschte.

Und der Topf fuhr zu erzählen fort und das Ende war ebensogut der Anfang.

Alle Teller kapperten vor Freude, und der Haarbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, denn er wußte, daß es die anderen ärgern würde. ,Bekränze ich ihn heute', dachte er, ,so bekränzt er mich morgen.

Nun will ich tanzen', sagte die Feuerzange und tanzte. Ja, Gott bewahr' uns, wie konnte sie das Bein in die Höhe strecken! Der alte Stuhlbezug dort im Winkel platzte, als er es saht ,Werde ich nun auch bekränzt?' fragte die Feuerzange zange; und das wurde sie.

Das ist doch nur gemeines Volk! dachten die Schwefelhölzer.

Nun sollte die Teemaschine singen, aber sie wäre erkältet, sagte sie, sie könne nicht, wenn sie nicht koche; aber das war bloße Vornehmtuerei; sie wollte nicht singen, wenn sie nicht drinnen bei der Herrschaft auf dem Tische stände.

Im Fenster saß eine alte Feder, mit der das Mädchen zu schreiben pflegte; war nichts Bemerkenswertes an ihr, außer daß sie gar zu tief in die Tinte getaucht worden war, aber darauf war sie nun stolz. ,Will die Teemaschine nicht singen', sagte sie, ,so kann sie es bleiben lassen! Draußen hängt eine Nachtigall im Käfig, die kann singen; die hat zwar nichts gelernt, aber das wollen wir diesen Abend dahingestellt sein lassen!

Ich finde es höchst unpassend', sagte der Teekessel — er war Küchensänger und Halbbruder der Teemaschine — ,daß solch fremder Vogel gehört aden soll! Ist das patriotisch? Der Marktkorb mag darüber richten!

Ich ärgere mich nur; sagte der Marktkorb, ,ich ärgere mich so, wie es sich niemand denken kann! Ist das eine passende Art; den Abend hinzubringen? Würde es nicht vernünftiger sein, das Haus in Ordnung zu bringen? Ein jeder müßte auf seinen Platz kommen, und ich würde das ganze Spiel leiten. Das sollte etwas anderes werden!

Laßt uns Spektakel machen!' sagten alle. Da ging die Tür auf. Es war das Dienstmädchen, und da standen sie still. Keiner muckste; aber da war nicht ein Topf, der nicht gewußt hätte, was er zu tun vermöge, und wie vornehm er sei. ,Ja, wenn ich gewollt hätte,' dachte jeder, ,so hätte es ein recht lustiger Abend werden sollen!

Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer, machte Feuer damit — Gott bewahr' uns, wie sie sprühten und in Flammen gerieten!

Nun kann doch ein jeder sehen,' dachten sie, ,daß wir die Ersten sind! Welchen Glanz wir haben! Welches Licht!' — und damit waren sie ausgebrannt." — —

"Das war ein herrliches Märchen!" sagte die Königin. "Ich fühle mich so



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ganz in die Küche versetzt zu den Schwefelhölzern, ja, nun sollst du unsere Tochter haben."

"Jawohl!" sagte der König. "Du sollst unsere Tochter am Montage haben!" Omn nun sagten sie du zu ihm, da er zur Familie gehören sollte.

Die Hochzeit war nun bestimmt, und am Abend vorher wurde die ganze Stadt illuminiert, Zwieback und Brezeln wurden zum besten gegeben, die Straßenbuben standen auf den Zehen, riefen Hurra und pfiffen auf den Fingern, es war außerordentlich prachtvoll.

"Ja, ich muß wohl auch etwas tun!" dachte der Kaufmannssohn, und so kaufte er Naketen, Knallerbsen und alles Feuerwerk, das man erdenken konnte, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft.

Rutsch, wie das ging und wie das puffte!

Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, daß ihnen die Pantoffeln um die Ohren flogen; solche Lufterscheinung hatten sie noch nie gesehen. Nun konnten sie begreifen, daß es der Türkengott selbst war, der die Prinzessin haben sollte.

Sobald der Kaufmannssohn wieder mit seinem Koffer herunter in den Wald kam, dachte er: "Ich will doch in die Stadt hineingehen, um zu erfahren, wie es sich ausgenommen hat!" und das war ganz natürlich, daß er Lust dazu hatte.

Nein, doch die Leute erzählten! Ein jeder, den er danach Sagte, hatte es auf seine Weise gesehen, aber schön hatten es alle gefunden.

"Ich sah den Türkengott selbst," sagte der eine, "er hatte Augen wie glänzende Sterne und einen Bart wie schäumende Wasser."

"Er flog in einem Feuermantel", sagte ein anderer. "Die lieblichsten Engelskinder blickten aus den Falun hervor."

Ja, das waren herrliche Sachen, die erhörte, und am folgenden Tage sollte er Hochzeit machen.

Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen — aber wo war der? Der Koffer verbrannt. Ein Funken des Feuerwerkes war zurückgeblieben, der hatte Feuer gefangen, und der Koffer lag in Asche. Der Kaufmann konnte nun nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.

Sie stand den ganzen Tag auf dem Dache und wartete; sie wartet noch, aber er durchwandert die Welt und erzählt Märchen, doch sie sind nicht mehr so lustig wie das welches er von den Schwefelhölzern erzählte.



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