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Kapitel 

H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Des Kaisers neue Kleider

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um Theater und liebte es nicht, in den Wald zu fahren, außer um seine neuen Kleider zu zeigen Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem Könige sagt, er ist im Rate, so sagte man hier immer: "Der Kaiser ist inder Garderobe!"

In der großen Stadt, wo er wohnte, ging es sehr munter her; an jedem Tage kamen da viele Fremde an. Eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, daß sie das schönste Zeug, das man sich denken könne, zu weben verstünden. Die Farben und das Muster wären nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, besäßen die wunderbare Eigenschaft, daß sie jeden Menschen unsichtbar wären, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.

"Das wären ja prächtige Kleider," dachte der Kaiser; "wenn ich die anhätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muß sogleich für mich gewebt werden!" und er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen möchten.

Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das geringste auf dem Stuhle. Frischweg verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold; das steckten sie in ihre eigene Tasche und arbeiteten an leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.

"Nun möchte ich doch wohl wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!" dachte der Kaiser, aber es war ihm außerordentlich beklommen zumute, wenn er daran dachte, daß der, welcher dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es nicht



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sehen könne. Nun glaubte er zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen anderen senden, um zu sehen, wie es damit stände. Alle Menschen in der ganzen Stadt wußten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei.

"Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden!" dachte der Kaiser; "er kann am besten beurteilen, wie das Zeug sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als erl"

Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und anden leeren Webstühlen arbeiteten. "Gott behüte uns!" dachte der alte Minister und riß die Augen auf. "Ich kann ja nichts erblicken!" Aber das sagte er nicht.

Beide Betrüger baten ihn, gefälligst näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl, und der arme alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn da war nichts. Herr Gott," dachte er, "sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, daß ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!"

"Nun, Sie sagen nichts dazu?" fragte der eine, der da webte.

"O es ist niedlich, ganz allerliebst!" antwortete der alte Minister und W durch seine Brille. "Dieses Muster und diese Farben! — Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!"

"Nun, das freut uns!" sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister paßte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkäme, und das tat er.

Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, um es zum Weben zu gebrauchen. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an dem leeren Webstuhl zu arbeiten,

Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stände, und ob das Zeug bald fertig sei; dem ging es gerade wie dem ersten, er sah und sah; weil aber außer dem leeren Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen.

"Ja, ist das nicht ein hübsches Stück Zeugs" fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster welches gar nicht da war.

"Dumm bin ich nicht!" dachte der Mann; "es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht taugen Das wäre komisch genug! Aber das muß man sich nicht merken lassen!" Und so lobte er das Zeug, welches er nicht sah, und versicherte



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ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. "Ja, es ist ganz allerliebst", sagte er zum Kaiser.

Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge.

Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner sich befanden, die schon früher dagewesen waren, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden.

"Ja, ist das nicht prächtig?" sagten die beiden ehrlichen Staatsmänner. "Wollen Eiv. Majestät sehen, welches Muster, welche Farben!" und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, daß die anderen das Zeug wohl sehen könnten.

"Was!" dachte der Kaiser, "ich sehe gar nichts! Das ist ja schrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, mir begegnen könntet Oh, es ist sehr hübsch!" sagte er, "es hat meinen allerhöchsten Beifall!" und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, daß er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, das er mit sich hatte, sah und sah, aber bekam nicht mehr heraus als alle die anderen, aber sie sagten gleichwie der Kaiser: "Oh das ist hübsch!" und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erstemal bei der großen Prozession, die bevorstand, zu tragen. "Es ist herrlich; niedlich, exzellent!" ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber.

Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Prozession statthaben sollte, waren die Betrüger auf und hatten über sechzehn Lichte angezündet. Die Leute konnten sehen, daß sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: "Sieh, nun sind die Kleider fertig!"

Der Kaiser mit seinen vornehmsten Kavalieren kam selbst, und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade als ob sie etwas hielten, und sagten: "Seht, hier sind die Beinkleider! hier ist das Kleid! hier der Mantel!" und so weiter. "Es ist so leicht wie Spinnewebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!"

"Ja!" sagten alle Kavaliere, aber sie konnten nichts sehen, denn da war nichts.

"Belieben Eiv. Kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen," sagten die Betrüger, "so wollen wir Ihnen die neuen anziehen, hier vor dem großen Spiegel."

Der Kaiser legte alle seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob



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sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzögen, welche fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel.

"Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!" sagten alle. "Welches Muster! welche Farben! Das ist eine köstliche Tracht!"

"Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, welcher über Eiv. Majestät in der Prozession getragen werden soll!" meldete der Oberzeremonienmeister.

"Seht, ja, ich bin fertig!" sagte der Kaiser. "Sitzt es nicht gut?" und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seinen Staat recht betrachte.

Die Kammerherrn, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, gerade ob sie die Schleppe aufhoben, sie gingen und taten, glo hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten.

So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: "Gott, wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!" Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah, denn so hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht als diese.

"Aber er hat ja gar nichts ant" sagte endlich ein kleines Kind. Herr Gott, hört die Stimme der Unschuld", sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.

"Aber er hat ja gar nichts an!" rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn es schien ihm, als hätte das Volk recht, aber er dachte bei sich: "Nun muß ich aushalten." Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.


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