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Kapitel 

H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Der Engel

Jedesmal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen weißen Flügel aus, fliegt hin über alle Plätze, welche das Kind lieb gehabt hat, und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, welche er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz, aber der Blume, weise ihm die liebste ist, gibt er einen .Nuß, und dann bekommt sie Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen!"

Sieh, alles dieses erzählte ein Engel Gottes, indem er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte wie im Traume; und sie flogen hin über die Stätten in der Heimat, wo der Kleine gespielt hatte, und sie tamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.

"Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?" fragte der Engel.

Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm abgebrochen, so daß alle Zweige, voll von großen, halbaufgebrochenen Knospen, rundherum vertrocknet hingen.

"Der arme Rosenstock!" sagte das Kind. "Nimm ihn, damit er dort oben bei Gott zum Blühen kommen kann!"

Und der Engel nahm ihn, küßte das Kind dafür, und der Kleine öffnete seine Augen zur Hälfte. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachtete Butterblume und das wilde Stiefmütterchen.

"Nun haben wir Blumen!" sagte das Kind, und der Engel nickte, aber er



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flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht, und es war ganz stille; sie blieben in der großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo ganze Haufen Stroh, Asche und Krimskrams lagen; denn es war Umzug gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gipsstücke, Lumpen und alte Hutköpfe, was alles nicht gut aussah.

Der Engel zeigte in all diesem Wirrwarr hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der da herausgefallen war und von den Wurzeln einer großen ertrockneten Feldblume, welche nichts taugte, und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, zusammengehalten wurde.

"Die nehmen wir mit!" sagte oer Engel. "Ich werde dir erzählen, während wir fliegen!"

Und so flogen sie, und der Engel erzählte:

"Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigsten Keller, wohnte ein armer, kranker Knabe. Von ganz Kein auf war er immer bettlägerig gewesen; wenn es ihm am besten ging, konnte er auf Krücken die kleine Stube ein paarmal auf und nieder gehen, das war alles. An einigen Tagen im Sommer fielen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis in den Keller hinab, und wenn der arme Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Gesicht hielt, dann hieß es: "Ja, heute ist er ausgewesen!" Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühjahrsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars John den ersten Buchenzweig brachte, und den hielt trüber seinem Haupte und träumte dann unter Buchen zu sein, wo die Sonne schiene und Vögel sängen. An einem Frühjahrstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel dabei, und deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht neben dem Bette am Fenster aufgestellt. Die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt, sie wuchs, trieb neue Schösse und trug jedes Jahr ihre Blüten; sie wurde des Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoß und pflegte sie und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt, erhielt; und die Blume selbst verwuchs mit seinen Träumen, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute sie das Auge; gegen sie wendete er sich im Tode, da der Herr ihn rief. Ein Jahr ist er nun Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt und wurde deshalb beim Umziehen im Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche wir mit in unseren Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat mehr erfreut als die reichste Blume im Garten einer Königin!"

"Aber woher weißt du das alleses" fragte das Kind, welches der Engel gen Himmel trug.



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"Ich weiß es!" sagte der Engel. "Denn ich war selbst der kleine kranke Knabe, welcher auf Krücken gingt Meine Blume kenne ich wohl!"

Und das Kind öffnete seine Augen und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein, und im selben Augenblick befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Glückseligkeit war. Gott drückte das tote Kind an sein Herz, und da bekam es Schwingen wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm; und Gott drückte alle Blumen an sein Herz, aber die arme verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen, und immer weiter fort in das Unendliche, alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, klein und groß, samt dem guten, gesegneten Kinde und w armen Feldblume; welche verdorrt dagelegen hatte, hingeworfen im Kericht unter den Unrat des Umziehtages, in der schmalen, dunklen Gasse.


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