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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Der Sandmann

Es gibt niemand in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß als der Sandmann! Er kann ordentlich erzählen!

So gegen Abend hin, wenn die Kinder noch so nett am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt der Sandmann; er kommt die Treppe so sachte herauf, denn er geht auf Socken; er macht ganz sachte die Türen auf; und huscht da spritzt er den Kindern süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, so fein, aber doch immer genug, so daß sie die Augen nicht offenhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und dann werden sie schwer im Kopf, o ja! aber es tut nicht weh, denn der Sandmann meint es gerade gut mit den Kindern, er will nur, daß sie ruhig sein sollen, und das sind sie am schnellsten, wenn man sie zu Bette gebracht hat; sie sollen stille sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.

Wenn die Kinder nun schlafen, setzt sich der Sandmann auf ihr Bette. Er ist gut gekleidet, sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm, den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; und einen Schirm hat er, wo durchaus nichts darauf ist; den stellt er über die unartigen Kinder, dann schlafen sie so dumm und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das Allergeringste geträumt.

Nun werden wir hören, wie der Sandmann an jedem Abend in einer ganzen Woche zu einem kleinen Knaben, welcher Hjalmar hieß, kam, und was er ihm erzählte. Es sind im ganzen sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der Woche.



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Montag.

"Höre einmal!" sagte der Sandmann am Abend, als er Hjalmar zu Bett gebracht hatte, "nun werde ich aufpumpen!" Da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Decke und längs der Wände ausstreckten, so daß die ganze Stube wie ein prächtiges Lusthaus aussah, und alle Zweige waren voller Blumen, und jede Blume war noch schöner als eine Rose und duftete so lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes! Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Kuchen waren da, die vor lauter Rosinen platzten, es war unvergleichlich schön! Aber zu gleicher Zeit ertönte ein schreckliches Jammern dort aus dem Tischkasten, wo Hjalmars Schulbücher lagen.

"Was ist nun das?" sagte der Sandmann und ging hin nach dem Tisch und zog den Kasten auf. Es war die Tafel, in der es riß und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, so daß es nahe daran war, auseinanderzufallen; der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande, gerade als ob er ein kleiner Hund wäre, der dem Rechenexempel helfen möchte, aber er konnte es nicht. Und dann war es Hjalmars Schreibebuch, in welchem es auch jammerte, oh, es war ordentlich häßlich mit anzuhören! Auf jedem Blatte standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem Keinen zur Seite, das war so eine Vorschrift, und neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche glaubten, ebenso auszusehen, denn diese hatte Hjalmar geschrieben; sie lagen fast so, als ob sie über die Bleifederstriche gefallen wären, auf denen sie stehen sollten.

"Seht, so solltet ihr euch halten!" sagte die Vorschrift. "Seht, so zur Seite, mit einem kräftigen Schwung!"

"Oh, wir möchten gern," sagten Hjalmars Buchstaben, "aber wir können nicht, wir sind so jämmerlich!"

"Dann müßt ihr Kinderpulver haben!" sagte der Sandmann.

"O nein!" riefen sie, und da standen sie so schlank, daß es eine Lust war.

"Jetzt wird keine Geschichte erzählt!" sagte der Sandmann, "nun muß ich sie exerzieren! Eins, zwei! Eins, zwei!" Und so exerzierte er die Buchstaben, und sie standen so schlank und schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als der Sandmann ging und Hjalmar sie am Morgen besah, da waren sie ebenso elend als früher.


Dienstag.

Sobald Hjalmar zu Bette war, berührte der Sandmann mit seiner kleinen Zauberspritze alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu plaudern und allesamt sprachen sie von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, daß sie so eitel sein konnten, nur von



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sich selbst zu reden, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.

Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große alte Bäume, Blumen im Grase und einen Fluß, welcher um den Wald herum an vielen Schlössern vorbeifloß und weit hinausströmte in das wilde Meer.

Der Sandmann berührte mit seiner Zauberspritze das Gemälde, und da begannen die Bögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich, und die Wolken zogen ordentlich, man konnte ihren Schatten über die Landschaft hin blicken.

Nun hob der Sandmann den kleinen Hjalmar gegen den Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er, die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, welches dort lag; es war rot und weiß angestrichen, die Segel glänzten wie Silber, und sechs Schwäne, alle mit Goldkronen um den Hals und einen strahlenden blauen Stern auf dem Kopfe, zogen das Boot an dem grünen Walde vorbei, wo die Bäume von Räubern und Heren und die Blumen von den niedlichen kleinen Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.

Die herrlichsten Fische mit Schuppen wie Silber und Gold schwammen dem Boote nach; mitunter machten sie einen Sprung, daß es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in langen Reihen hinterher; die Mücken tanzten, und die Maikäfer sagten: "Bum, bum!" Sie wollten Hjalmar alle folgen, und alle hatten sie eine Geschichte zu erzählen.

Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder so dicht und so dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten mit Sonnenschein und Blumen, und da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor, auf den Altanen standen Prinzessinnen, und alle waren es kleine Mädchen, die Hjalmar gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Sie streckten jede die Hand aus und hielten das niedlichste Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Hjalmar faßte die eine Seite des Zuckerherzens an, indem er vorbeifuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam ein jeder sein Stück, sie das kleinste; Hjalmar das größte. Bei jedem Schlosse standen kleine Prinzen Schildwache, sie schulterten mit goldenen Säbeln und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen. Das waren echte Prinzen!

Bald segelte Hjalmar durch Wälder, bald wie durch große Säle oder mitten durch eine Stadt; er kam auch durch die, in welcher sein Kindermädchen wohnte, welches ihn getragen hatte, da er noch ein ganz kleiner Knabe war, und das immer so gut zu ihm gewesen war, und sie nickte und winkte und sang den niedlichen kleinen Vers, den sie selbst gedichtet und Hjalmar gesandt hatte:



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34 denke deiner so manches Mal,
Mein teurer Hjalmar, du Lieber!
Ich gab dir Küsse ja ohne Zahl
Auf Stirne, Mund, Augenlider.
Ich hörte dich lallen das erste Wort,
Doch mußt' ich dir Abschied sagen.
Es segne der Herr dich an jedem Ort,
Du Engel, den ich getragen!

Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf den Stielen, und die alten Bäume nickten, gerade als ob der Sandmann ihnen auch Geschichten erzählte.


Mittwoch.

Nein, wie strömte der Regen draußen hernieder! Hjalmar konnte es im Schlaf hören, und da der Sandmann ein Fenster öffnete, stand das Wasser gerade herauf bis an das Fensterbrett; es war ein ganzer See da draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.

"Willst du mitsegeln, kleiner Hjalmar," sagte der Sandmann, "so kannst du diese Nacht nach fremden Ländern hingelangen und morgen wieder hier sein!"

Und da stand Hjalmar plötzlich in seinen Sonntagzkleidern mitten auf dem prächtigen Schiffe, und sogleich wurde das Wetter schön, und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun war alles eine große wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, und sie sahen einen Flug Störche, die kamen auch von der Heimat und wollten nach den warmen Ländern; ein Storch flog immer hinter dem anderen, und sie waren schon weit, so weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, daß seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten; er war der allerletzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück, zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer; er machte noch ein paar Schläge mit den Schwingen, aber es half nichts; nun berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, nun glitt er vom Segel herab, und bums! da stand er auf dem Verdeck.

Da nahm der Schiffsjunge ihn und setzte ihn in das Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Truthähnen; der arme Storch stand ganz befangen minen unter ihnen.

"Sieh den!" sagten alle Hühner.

Der kalekutische Hahn blies sich so dick auf, als er konnte, und fragte, wer er wäre. Die Enten gingen rückwärts und pufften einander: Rapple dich, rapple dich!"

Und der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauße, der einem wilden Pferde gleich die Wüste durchlaufe; aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und dann pufften sie einander: "Wir sind doch darüber einverstanden, daß er dumm ist?"



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"Ja, sicher ist er dumm!" sagte der kalekutische Hahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch ganz stille und dachte an sein Afrika.

"Das sind ja herrlich dünne Beine, die Ihr habt!" sagte der Kalekute. "Was kostet die Elle davon?"

"Skrat, skrat, skrat!" grinsten alle Enten, aber der Storch tat, als ob er es gar nicht höre.

"Ihr könnt immer mitlachen!" sagte der Kalekute zu ihm, "denn es war sehr witzig gesagt, oder war es Euch vielleicht zu hoch? Ach, ach, er ist nicht vielseitig! Wir wollen für uns selbst bleiben!" Und dann gluckte er, und die Enten schnatterten: "Gikgak! gikgak!" Es war schrecklich, wie sie sich selbst belustigten.

Aber Hjalmar ging nach dem Hühnerhause, öffnete die Tür, rief den Storch, und der hüpfte zu ihm hinaus auf das Verdeck. Nun hatte er ja ans geruht, und es war gleichsam, als ob er Hjalmar zunicke, um ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern, aber die hühner gluckten, die Enten schnatterten, und der kalekutische Hahn wurde ganz feuerrot am Kopfe.

"Morgen werden wir Suppe von euch kochen!" sagte Hjalmar, und dann erwachte er und lag in seinem kleinen Bette. Es war doch eine sonderbare Reise, die der Sandmann ihn diese Nacht hatte machen lassen!


Donnerstag.

"Weißt du wag?" sagte der Sandmann. "Werde nur nicht furchtsam, hier wirst du eine kleine Maus sehen!" Da hielt er ihm seine Hand mit dem leichten, niedlichen Tiere entgegen. "Sie ist gekommen, um dich zur Hochzeit einzuladen. Hier sind diese Nacht zwei kleine Mäuse, die in den Stand der Ehe treten wollen. Sie wohnen unter deiner Mutter Speisekammerfußboden, das soll eine schöne Wohnung sein!"

"Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden kommen?" fragte Hjalmar.

"Laß mich nur machen!" sagte der Sandmann. "Ich werde dich schon Kein bekommen!" Und er berührte Hjalmar mit seiner Zauberspritze, wodurch dieser sogleich kleiner und kleiner wurde, zulegt kaum einen Finger lang. "Nun kannst du dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen, ich denke, sie werden dir passen, und es sieht so gut aus, Uniform anzuhaben, wenn man in Gesellschaft ist!"

"Ja freilich!" sagte Hjalmar, und da war er im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat angekleidet.

"Wollen Sie nicht so gut sein und sich in Ihrer Mutter Fingerhut setzen?" sagte die kleine Maus. "Dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen!"

"Gott, wollen sich das Fräulein selbst bemühen!" sagte Hjalmar, und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.



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Zuerst kamen sie unter dem Fußboden in einen langen Gang, der nicht höher war, als daß sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten, und der ganze Gang war mit faulem Holze illuminiert.

"Riecht es hier nicht herrlich?" sagte die Maus, die ihn zog. "Der ganze Gang ist mit Speckschwarten geschmiert worden! Es kann nichts Schöneres geben!"

Nun kamen sie in den Brautsaal hinein. Hier standen zur Rechten alle die kleinen Mäusedamen, und die wisperten und zischelten, als ob sie einander zum besten hielten; zur Linken standen alle Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart. Aber mitten im Saale sah man das Brautpaar; sie standen in einer ausgehöhlten Käserinde und küßten sich schrecklich viel vor aller Augen, denn sie waren ja Verlobte und sollten nun gleich Hochzeit halten

Es kamen immer mehr und mehr Fremde; die eine Maus war nahe daran, die andere tot zu treten, und das Brautpaar hatte sich mitten in die Tür gestellt; so daß man weder hinaus noch hinein gelangen konnte. Die ganze Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung, aber zum Nachtisch wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaares eingebissen hatte, das heißt den ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches.

Alle Mäuse sagten, daß es eine schöne Hochzeit und daß die Unterhaltung so gut gewesen sei.

Und dann fuhr Hjalmar wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch ordentlich zusammenkriechen, sich klein machen und Zinnsoldatenuniform anziehen müssen.


Freitag.

"ES ist unglaublich, wieviel ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern einfangen möchten!" sagte der Sandmann, "es sind besonders die, welche etwas Böses verübt haben. ,Guter kleiner Sandmann', sagen sie zu mir. .Wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie häßliche kleine Kobolde auf der Bettstelle sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen', und dann seufzen sie so tief: .Wir möchten es wahrlich gern bezahlen. Gute Nacht, Sandmann! Das Geld liegt im Fenster.' Aber ich tue es nicht für Geld", sagte der Sandmann.

"Was wollen wir nun diese Nacht vornehmens" fragte Hjalmar.

"Ja, ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu kommen; es ist eine andere Art, als die gestrige war. Deiner Schwester große Puppe, die, welche wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, wird sich



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mit der Puppe Berta verheiraten; es in obendrein der Puppe Geburtstag, und deshalb werden da sehr viele Geschenke kommen!"

"Ja, das kenne ich schon", sagte Hjalmar. "Immer, wenn die Puppen neue Kleider gebrauchen, dann läßt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal geschehen!"

"Ja, aber in dieser Nacht ist es die hundertunderste Hochzeit, und wenn hundertundeins aus ist, dann ist alles vorbei Deshalb wird auch diese so ausgezeichnet. Sieh nur einmal!"

Hjalmar sah nach dem Tische. Da stand das kleine Papphauo mit Licht in den Fenstern, und draußen davor präsentierten alle Zinnsoldaten das Gewehr; Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache hatte, auf dem

Fußboden und lehnte sich gegen den Tischfuß. Aber der Sandmann, in den schwarzen Rock der Großmutter gekleidet, traute sie. Als die Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden schönen Gesang an, welcher von der Bleifeder geschrieben erging nach der Melodie des Zapfenstreichs:

Das Lied ertönte wie der Wind
Dem Brautpaar Hoch, das sich verbind't
Sie prangen beide steif und blind,
Da sie von Handschuhleder sind!
:,: Hurra, Hurra! ob taub und blind,
Wir singen es in Wetter und Wind! ,:

Und nun bekamen sie Geschenke, aber sie hatten sich alle Speisewaren verbeten,, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.



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"Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?" fragte der Bräutigam, und da wurden die Schwalbe, die so viel gereist war; und die Hofhenne, welche fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, zu Rate gezogen. Die Schwalbe erzählte von den herrlichen, warmen Ländern, wo die Weintrauben so groß und schwer hingen, wo die Luft so mild sei und die Berge Farben hätten, wie man sie hier gar nicht an ihnen kennt.

"Sie haben doch nicht unseren Grünkohl!" sagte die Henne. "Ich war einen Sommer mit allen meinen Küchlein auf dem Lande, da war eine Sandgrube, in der wir gehen und kratzen konnten, und dann hatten wir Zutritt zu einem Garten mit Grünkohl! Oh, wie war der grün! Ich kann mir nichts Schöneres denken"

"Aber ein Kohlstrunk sieht gerade so aus wie der andere," sagte die Schwalbe; "und dann ist hier oft so schlechtes Wetter!"

"Ja, daran ist man gewöhnt!" sagte die Henne.

"Aber hier ist es kalt, es friert!"

"Das ist gut für den Kohl!" sagte die Henne. "Übrigens können wir es auch warm haben. Haten wir nicht vor vier Jahren einen Sommer, so heiß, daß man kaum atmen konnten Und dann haben wir nicht alle die giftigen Tiere, die sie dort haben, und w ;r sind von Räubern befreit! Der ist ein Bösewicht, der nicht findet, daß unser Land das schönste ist; er verdiente wahrlich nicht hier zu sein!" Und dann weinte die Hinne und fuhr fort: "Ich bin auch gereist! Ich bin einmal in einer Bütte über zwölf Meilen gefahren! Es ist durchaus kein Vergnügen beim Reisen!"

"Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau!" sagte die Puppe Berta, "ich halte auch nichts davon, Berge zu bereisen, denn das geht nur hinauf und dann wieder herunter! Nein, wir wollen nach der Sandgrube hinausziehen und im Kohlgarten spazieren!"

Und dabei blieb es.


Sonnabend.

"Bekomme ich nun Geschichten zu hören?" fragte der kleine Hjalmar, sobald der Sandmann ihn in den Schlaf gebracht hatte.

"Diesen Abend haben wir nicht Zeit dazu", sagte der Sandmann und spannte seinen schönsten Regenschirm über ihn auf. "Betrachte nur die Chinesen!" Der ganze Regenschirm sah guo wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und mit kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopfe nickten. "Wir müssen die ganze Welt zu morgen schön aufgeputzt haben", sagte der Sandmann, "es ist ja morgen Sonntag. Ich will nach den Kirchtürmen hin, um zu sehen, ob die kleinen Kirchenkobolde die Glosen polieren, damit sie hübsch klingen; ich will hinaus auf das Feld und sehen, ob die Winde d ;u Staub von Gras und Buttern blasen, und, was die größte Arbeit ist, ich will alle



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Sterne herunterholen, um sie zu polieren; ich nehme sie in meine Schürze, aber erst muß ein jeder numeriert werden, und die Löcher, in denen sie da oben sitzen; müssen auch numeriert werden, damit sie wieder auf den richtigen Fleck kommen, sonst würden sie nicht festsitzen, und wir würden zu viel Sternschnuppen bekommen, indem der eine nach dem anderen herunterpurzelte!"

"Hören Sie, wissen Sie was, Herr Sandmann!" sagte ein altes Bild, welches an der Wand hing, wo Hjalmar schlief. "Ich bin Hjalmars Urgroßvater; ich danke Ihnen, daß Sie dem Knaben Geschichten erzählen, aber Sie müssen seine Begriffe nicht verdrehen. Die Sterne können nicht heruntergenommen und poliert werden! Die Sterne sind Kugeln ebenso wie unsere Erde, und das ist gerade das Gute an ihnen!"

"Ich danke dir, du alter Urgroßvater!" sagte der Sandmann, "ich danke dir! Du bist ja das Haupt der Familie, du bist das Urhaupt, aber ich bin doch noch älter als du! Ich bin ein alter Heide; Römer und Griechen nannten mich den Traumgott! Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch dahin; ich weiß sowohl mit Geringen wie mit Großen umzugchen! Nun kannst du erzählen!" — und da ging der Sandmann und nahm seinen Regenschirm mit.

"Nun darf man wohl seine Meinung gar nicht mehr fasen!" brummte das alte Bild.

Und da erwachte Hjalmar.


Sonntag.

"Guten Abend!" sagte der Sandmann, und Hjalmar nickte und sprang dann hin und wandte das Porträt des Urgroßvaters gegen die Wand um, damit er nicht, wie gestern, mitspreche.

Nun mußt du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuß, der dem Hühnerfüße den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm tat, daß sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!"

"Man kann auch des Guten zuviel bekommen!" sagte der Sandmanm

"Du weißt wohl, daß ich dir am liebsten etwas zeiget Ich will dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Sandmann, aber er kommt zu niemand öfter als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf sein Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich schön, daß niemand in der Welt sie sich denken kann, und die andere ist so häßlich und greulich — ist gar nicht zu beschreiben!"

Und dann hob der Sandmann den kleinen Hjalmar zum Fenster hinauf und sagte: "Da wirst du meinen Bruder sehen, den anderen Sandmann, sie nennen ihn auch den Tod! Siehst du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie widen



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Bilderbüchern, wo er nur ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem Kleide hat, und das ist die schönste Husarenuniform, ein Mantel von schwarzem Sammet fliegt hinten über das Pferdt Sieh, wie er im Galopp reitet."

Hjalmar sah, wie der Sandmann davonritt und sowohl junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vom, andere hinten auf; aber immer fragte er erst: "Wie steht es mit dem Zeugnisbuch?" —"Gut!" sagten sie allesamt. — Ja, laßt mich selbst sehen!" sagte er, und dann mußten sie ihm das Buch zeigen; und alle die, welche "Sehr gut" und "Ausgezeichnet gut" hatten, kamen vorn auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte zu hören; die aber; welche "Ziemlich gut" und "Mittelmäßig" hatten, mußten hinten auf und bekamen die greuliche Geschichte; sie zitterten und weinten, sie wollten vom Pferde springen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich daran festgewachsen.

"Aber der Tod ist ja der prächtigste Sandmann!" sagte Hjalmar. "Vor ihm bin ich nicht Hangel"

"Das sollst du auch nicht!" sagte der Sandmann. "Sieh nur zu, daß du ein gutes Zeugnis hast!"

"Ja, das ist lehrreich!" murmelte des Urgroßvaters Bild. "Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!" Und nun war er zufrieden.

Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er dir selbst diesen Abend mehr erzählen.


Copyright: arpa, 2015.

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